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      Zwei Tage zuvor

      20. Mai 1976

      Kapitel 11

      Gegen halb vier Uhr nachmittags stieg Georgie „Langenhorn-Nord“ aus. Er ging den langen Bahnsteig entlang, während die U-Bahn an ihm vorbeirauschte und den Bahnhof verließ. In Gedanken gehüllt, sprang er die vielen Steinstufen des Bahnhofgebäudes hinab, wobei er gleich fünf Stufen auf einmal nahm. Draußen brannte die Sonne. Warme Luft empfing ihn, als er die schwere Tür zur Straße aufstieß. Er trat auf den Gehweg. Endlich wollte der Sommer auch Hamburg mit aller Macht erobern und dabei verkünden, dass er verdammt viel Hitze mitbringen werde. Auch in der U-Bahn hatte Georgie die Sonnenbrille nicht abgenommen. Er schob sie jetzt nur höher auf die Nase. Er ging den Krohnstieg hinauf zur Tangstedter-Landstraße.

      Der Weg war ihm bestens vertraut, immerhin ging er vier Jahre lang – zwischen seinem 12. und seinem 16. Lebensjahr – fast täglich zur Fritz-Schumacher-Allee. Damals wusste er nicht genau einzuschätzen, warum Tante Irmtrauts Nähe für ihn so emotional war. Mit acht fing das alles an, als ihm das kleine blonde Mädchen auf dem Flur im Kinderhort erschien. Er kannte sie nicht, hatte sie niemals zuvor gesehen. Sie war in seinem Alter und genauso schnell, wie sie auftauchte, verschwand sie auf mysteriöse Weise direkt vor seinen Augen. Sie tauchte ab in einem gleißend roten Licht.

      Das war das erste Zeichen … So fing es an!

      … Und dann … drei Jahre später …

      … An dem Tag, als Tante Irmtraut ihn bestrafen wollte, entwickelte sich das emotionale Verhältnis zwischen ihnen, das ihn erbarmungslos in seinen Bann zog. Damals war er von ihrer gewaltigen Körperfülle viel mehr abgestoßen. Warum er sich aber dennoch zu ihr hingezogen fühlte, konnte er nicht erklären. Er kämpfte mit unerklärlichen Gefühlsschüben, sobald er nur an sie dachte oder sie ansah.

      Nach außen war sie die kantige und steife Oberin vom Kinderhort.

      Sie wirkte unnahbar und zeigte Strenge. Doch auf den zweiten Blick und mit einer großen Portion Fantasie erkannte man feine Züge. Dann stellte man fest, dass sie früher sogar hübsch gewesen sein musste. Sie war zwar niemals wirklich schlank, aber dafür ging von ihr eine ergreifende Sinnlichkeit aus, die sogar einen Elfjährigen zu packen schien. Sie war unnatürlich massig und die weißgesteifte Schwesternhaube, die sie ständig trug, machte sie zudem nur noch größer und gewaltiger. Sie schminkte sich nicht, nicht einmal um die Augen, weil das Rosa ihres Teints genug gesunde Farbe auf ihrem Gesicht verteilte. Georgie spürte die verborgene Weichheit überall, die sie aber mit Hilfsmitteln wie der Brille mit den breiten, schwarzen Bügeln zu übertünchen verstand. Jeden Tag trug sie den hellblauen Kittel und darüber die blaue Strickjacke. Immer waren die beiden obersten Knöpfe geöffnet, während die restlichen bei jeder Bewegung bedrohlich spannten. Der Kittel reichte bis über die Knie und gestattete nur einen vagen Blick auf die pfahlähnlichen Beine. Das ausladende Becken glich dem einer Elefantenkuh und eine Taille war nur zu erahnen. Alles an ihr ging fließend ineinander über bis hoch zu den gewaltigen Brüsten und dennoch bildete alles an ihr auf beängstigende Weise eine Einheit.

      Selbst die geschmacklosen Gesundheitsschuhe brachen nicht das Bild.

      Die Kinder brachten ihr den erzwungenen Respekt entgegen, was sie täglich spürte, obwohl immer öfter eine innere Stimme ihr sagte, dass sie sich nicht ewig der menschlichen Zuwendung entziehen konnte. Der Auslöser dafür war zweifellos dieser elfjährige Junge.

      Es fing damit an, dass Georgie plötzlich spürte, dass er anders auf sie wirkte. Ganz deutlich merkte er, dass sie ihn bevorzugt behandelte. Aber auch er suchte unbewusst ihre Nähe, legte sich tausend Fragen zurecht, die er ausführlich von ihr beantwortet haben wollte.

      Dann sah er sie einfach nur an.

      Tief atmete er sie ein, wenn er neben ihr saß. Ständig hatte er einen gummiartigen Geruch in der Nase, wenn er dicht in ihrer Nähe war.

      Ihre Brüste schienen so groß wie Medizinbälle und wenn sie saß und sich nur ein wenig vorbeugte, berührten sie ihre Oberschenkel. Am liebsten wollte er sie auch über diese riesigen Berge ausfragen, doch dazu reichte sein Mut dann doch nicht.

      Sie hingegen spürte seine Blicke und etwas, das ihr tief unter die Haut kroch. Seine reine Aufrichtigkeit. Zunächst, als er noch acht Jahre alt war, fand sie dafür keine Erklärung, nur erregte es sie auf eigenartige Weise. Ihr war, als kannte sie ihn … aber aus einer früheren Zeit. Seine Nähe war ihr vertraut. Es war ein Gefühl des Wohlbehagens, das ihr nur einmal widerfahren war. Dann dauerte es nur noch drei Jahre, bis sie die unfassbaren Zusammenhänge erkannte.

      Unbedingt musste sie ihn an sich binden, was ihr schließlich auch gelang. Und als Georgie mit seinen Eltern nach Garstedt zog, ging er weiterhin zu ihr in den Kinderhort, bis sie ihm auftrug, sie künftig in Langenhorn zu besuchen - nach der Schule bei ihr Zuhause. Fünfmal die Woche. Um 16 Uhr.

      Seine Eltern hatten nichts dagegen.

      Warum sollte er die Schularbeiten denn nicht bei Tante Irmtraut machen, die ihn doch von klein auf kannte? Bei ihr war er gut aufgehoben.

      Wie aber die Nachmittage bei ihr wirklich abliefen, hatte mit Schularbeiten wenig zu tun. Tante Irmtraut holte sich etwas zurück, was sie vor so vielen Jahren verloren hatte.

      Wenn sie ihm die Tür öffnete, empfing sie ihn mit einem stillen Nicken, nahm seine Hand und zog ihn hinein. Dann schloss sie die Tür. Mit der anderen Hand strich sie ihm durch die Haare bis zum Nackenansatz. Dabei sahen sie sich still an und nur ihr dünnes, mildes Lächeln umhüllte ihn. Schließlich drückte sie sein Gesicht sanft an ihren mächtigen Busen, während sie den Kopf hob, tief einatmete und zufrieden die Augen schloss.

      Genau das erschien jetzt vor seinem geistigen Auge und es sagte ihm: Sie wacht über mich. Sie steuert meinen Geist, so wie sie mich auch physisch lenkt. Sie hat mich in ihren Bann gezogen. Sie bindet mich an sich.

      Bereits damals konnte er seine ausgeprägte Kombinationsgabe nutzen, doch als Kessie und er in kurzer Folge in das Kettenwerk eindrangen, versanken sein Verstand und auch seine Erinnerung im dichten Nebel.

      Unmittelbar zuvor sah er Tante Irmtraut zuletzt und an jenem Nachmittag verlief ihr stilles Ritual anders.

      Ihre Umarmung war flüchtig.

      Sie trug sogar die dunkelblaue Strickjacke, die sie bis zum Hals zugeknöpft hatte.

      Der Nebel verdichtete sich immer mehr.

      Wenn er heute darüber nachdachte, kam es ihm sehr gelegen.

      An dem besagten Nachmittag ging er zu ihr, um notwendige Informationen zu bekommen. Seit Tagen sprach sie nur über sich, über ihre Jugend, damals, als sie 16 war, als sie im Kinderhort in der Küche arbeitete. Und sie sprach über das HAK-Werk, das früher Kettenwerk hieß. Natürlich hörte er interessiert zu, da dieses Werk einmal sein Reich war. Nur sprach sie von einer Zeit lange vor seiner Zeit.

      Sie erzählte von den Zwangsarbeitern, von dem Straflager … Sie erwähnte auch den schrecklichen Aufseher. Sie erwähnte sogar seinen Namen.

      Walter Ebling!

      Und dann geschah es.

      Beim vierten Mal im Kettenwerk war alles anders.

      Sie entdeckten den Kalender aus dem Jahr 1944 an der Tür in dem Abstellraum.

      Alles passte zusammen.

      Ihm war nicht klar, warum er Zeuge der … der Vergewaltigung werden musste.

      Sie erzählte ihm, dass sie mit 16 schwanger und von einer jüdischen Ärztin, einer Gefangenen im Frauenlager, entbunden wurde. Sie brachte ein Mädchen zur Welt.

      Fast die ganze Schwangerschaft konnte sie verheimlichen, bis sie sich, kurz vor den Wehen, einer SS-Frau anvertraute, von einem polnischen Lagerinsassen vergewaltigt worden zu sein. Nach der Entbindung nahm ihr die SS-Frau, eine Blitzfrau aus dem Frauenlager, das Baby weg. Man gab es zur Adoption frei.

      Sie sah es niemals wieder.

      Über

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