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sich der Empfangstresen befindet. Meine Schwester nickt mir zu und deutet Richtung Warteraum, der durch eine milchige Schiebetür von Tinas Arbeitsplatz abgetrennt ist.

      „Sie ist schon ganz ungeduldig.“

      „Wie ist ihr Name?“

      „Das wollte sie mir nicht sagen. Ausserdem erscheint sie mir äusserst nervös zu sein. Aber sie wirkt sehr entschlossen.“

      „Dann werde ich mal sehen, was ich für sie tun kann.“ Ich klopfe kurz auf den Tresen, ehe ich auf die undurchsichtige Tür zugehe. Noch bevor ich diese öffne, bringe ich kurz mein Äusseres in Ordnung und trete ein.

      Sie sitzt auf einem der vier roten Stühle, die in einer Reihe an der Wand entlang stehen. In ihren Händen hält sie eine Frauenzeitschrift, ohne jedoch darin zu blättern. Ihr Blick ist starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, an der ein Bild hängt, auf dem zwei Mädchen Hand in Hand durch ein Blumenbeet gehen, weg von den Betrachtern und in den Sonnenuntergang spazieren.

      Kaum hat sie mich bemerkt, dreht sie ihr Gesicht zu mir und steht sofort auf. Das Magazin hält sie weiterhin fest umklammert in ihren Händen.

      Ich strecke ihr die Hand hin und nenne meinen Namen.

      „Ich weiss wer sie sind, Frau Rapone. Ich habe schon vieles über sie gelesen und hoffe, dass sie ihrem Ruf gerecht werden.“ Die Frau mit leicht ergrautem Haar sieht mich eindringlich an, als sie meine Hand ergreift.

      „Und mit wem habe ich die Ehre?“ frage ich sie, als sie sich mir noch immer nicht vorgestellt hat.

      „Kyssen. Emma Kyssen.“ Sie macht eine kurze Pause. Dabei kann ich deutlich sehen, wie sie nach Luft schnappt. „Es tut mir leid. Normalerweise bin ich nicht so abweisend. Aber ich bin ziemlich angespannt.“

      „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Gehen wir doch in mein Büro und unterhalten uns da weiter darüber, warum Sie mich aufgesucht haben.“

      Sie folgt mir aus dem Warteraum heraus und als wir an Tina vorbeigehen, bitte ich meine Schwester uns eine kleine Erfrischung zu bringen.

      Nachdem ich die Tür von meinem Arbeitsraum geschlossen und gewartet habe bis die Frau auf der anderen Seite von meinem Schreibtisch Platz genommen hat, beginne ich sie über ihr Anliegen auszufragen.

      „Also Frau Kyssen, was hat sie zu mir gebracht? Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

      „Es geht um meinen Sohn.“ Sie verstummt einen Augenblick und senkt ihren Kopf, bevor sie zitternd weiterfährt. „Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich hier sitze und sie engagieren möchte mir zu helfen, meinen Ian zu finden und ihn zu mir zurückzubringen. Wahrscheinlich bringt es sowieso nichts.“

      „Warum denken Sie, dass es nichts bringt?“

      „Das sagt mir mein Gefühl.“

      „Seit wann haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“ frage ich sie, ohne auf ihre Zweifel einzugehen.

      „Über zwanzig Jahre. Genauer gesagt, heute in drei Wochen sind es einundzwanzig Jahre.“

      Ich nehme einen Stift in die Hand und mache mir Notizen, bevor ich ihr weitere Fragen stelle. „Sie hatten demnach kein einziges Mal Kontakt zu ihm?“

      „Nein, hatte ich nicht. Aber ich bereue jeden Tag aufs Neue, dass ich ihn weggegeben habe.“

      „Warum haben Sie ihn weggegeben?“ Ich sehe ihr direkt in die Augen und warte gespannt auf ihre Antwort. Sie hält meinem Blick einige Sekunden stand, ehe sie abermals ihren Kopf senkt, nervös ihre Finger knetet und mit leiser Stimme auf meine Frage reagiert.

      „Als mein Mann seine Arbeit verloren hat und leider auch nichts mehr fand, weil er sich im Alkohol verloren hat, war ich gezwungen Ian wegzugeben, da ich ihm ein besseres Leben wünschte. Obwohl es mich innerlich zerriss, wusste ich, dass es das Beste war, was ich machen konnte.“

      „Was ist mit Ihrem Mann?“

      „Er ist vor zehn Jahren gestorben.“

      „Hat er auch darunter gelitten, dass Sie ihren Sohn weggegeben haben?“

      „Nicht so sehr wie ich.“

      „Ist Ian ein Einzelkind?“

      „Ja. Wir wollten mehr Kinder, aber es war uns nicht vergönnt, noch ein weiteres zu bekommen. Im Nachhinein kann ich von Glück reden, dass ich kein zweites Mal schwanger wurde.“

      Es klopft an der Tür, wodurch ich mir mit der nächsten Frage Zeit lasse, bis Tina unsere Getränke auf dem Tisch abgestellt und den Raum wieder verlassen hat.

      „Wo haben Sie Ian hingegeben?“

      „In eine Pflegefamilie.“ kommt die knappe Antwort. „Aber da blieb er nicht lange.“

      „Warum?“

      „Ich muss zugeben, dass Ian ein etwas schwieriges Kind war und anscheinend kam seine neue Familie nicht mit ihm zurecht.“

      „Kam er zu einer anderen Familie?“

      „Nein.“

      Ich erkenne Ihren Kampf. Der Selbstzweifel, der sie zu zerbrechen droht, ist deutlich in ihre Augen geschrieben. Ich bleibe ruhig sitzen und gebe ihr die nötige Zeit, um sich wieder sammeln zu können.

      In den fünf Jahren seit ich meinen Personensuchdienst anbiete, habe ich schon ziemlich früh gelernt, wann ich schweigen und abwarten soll. Und genau jetzt ist so ein Moment, in dem es ratsam ist die Kundin nicht zu drängen.

      Nach einem kurzen Augenblick hat sie sich wieder gefangen. „Nach der Pflegefamilie kam Ian in das Kinderheim Alt St. Johann.“

      „Wann war das?“

      „Kurz vor Weihnachten.“

      „Im selben Jahr, als Sie ihn weggegeben haben?“ frage ich sie etwas verdutzt, ohne jedoch meine Verwunderung anmerken zu lassen.

      „Ja.“

      „Haben Sie ihn besucht?“

      „Ich habe es versucht. Aber er hatte sich geweigert, mich zu sehen.“

      „Ich nehme an, das war nicht seine letzte Station?“

      „Nein, das war es nicht.“

      „Wie lange war er dort?“

      „Ich habe keine Ahnung. Kurz nachdem Ian ins Kinderheim kam, hat er jeglichen Kontakt zu uns abgebrochen. Er hat alles unternommen, um mich und meinen Mann aus seinem Leben streichen zu können.“

      „Können Sie ihm das verübeln?“

      „Nicht wirklich. Und trotzdem schmerzt es zutiefst.“

      Ich reiche ihr ein Taschentuch, was sie dankbar entgegen nimmt. Sie wischt über ihre tränenfeuchten Augen und zerknüllt es anschliessend in der Hand.

      „Demnach wissen Sie auch nicht, in welches Heim er danach kam?“

      „Hier endet leider mein Wissen darüber, wie es meinem Sohn geht oder wo er lebt. Deshalb habe ich auch Sie aufgesucht.“

      Nachdem mir Frau Kyssen noch einiges über sich und ihre Familie erzählt hat, während ich mir jedes nützliche Detail aufgeschrieben und ich eine neue Kundin erhalten habe, nähern wir uns dem Ende unserer Besprechung.

      „Aus welchem Grund haben Sie mich ausgewählt? Schliesslich haben Sie einen längeren Weg auf sich genommen, um mich aufzusuchen. Es gibt bestimmt noch andere Personensuchbüros, die näher bei Ihrem Wohnort liegen.“

      „Ich weiss, dass Sie Ihre Arbeit hervorragend machen und ich vertraue Ihnen.“

      Auch wenn ich sie für aufrichtig halte, werde ich das Gefühl nicht los, dass sie mir etwas Wesentliches verschweigt.

      „Eine Frage hätte ich allerdings noch.“ wende ich mich an meine Auftraggeberin, als sie bereits die Tür erreicht hat und nach dem Griff tastet. „Was hat Sie dazu veranlasst,

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