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Ihre eigene Geschichte nach?“

      Einen kurzen Augenblick herrscht absolute Stille. Und als er beginnt zu sprechen, weiss ich, dass er einen Entschluss gefasst hat.

      „Was möchten Sie wissen?“

      „Setzten wir uns doch wieder hin.“ Ich weise auf die Stühle neben uns. „Möchten Sie noch einen Kaffee oder etwas anderes?“

      „Wasser ist gut.“

      Nachdem ich zwei Gläser mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt habe, hole ich meinen Notizblock und nehme auf meinem Stuhl Platz. „Hatten Sie Kontakt zu anderen Kinderheimen?“

      „Ja. Der fast tägliche Austausch war unvermeidlich. Schwebt Ihnen ein bestimmtes vor?“

      Ich erzähle dem ehemaligen Institutionsleiter von der Suche nach Ian Kyssen. Aber ich verrate ihm nur so viel, wie er auch wirklich wissen muss, um mir helfen zu können. Der gesundheitliche Zustand meiner Kundin erwähne ich mit keinem Wort.

      „Ian Kyssen. Ian Kyssen“ wiederholt Kampmann nachdenklich, als ich mit meine Schilderung beende.

      „Sagt Ihnen der Name etwas?“ Voller Hoffnung blicke ich ihn über den Tisch hinweg an.

      Er sagt lange Zeit nichts, sondern sieht mich nur an. Ich habe keine Ahnung, wie ich sein Verhalten deuten soll, aber mein Gefühl sagt mir ganz deutlich, dass er irgendwas weiss, was mir weiterhelfen kann.

      „Hmm, wo soll ich beginnen?“ Er tippt mit seinem Zeigefinger auf seinen Mund. „Als Institutionsleiter hat man eine gewisse Schweigepflicht, auch nachdem man schon lange pensioniert ist.“ Wieder verharrt er stillschweigend und aufrecht sitzend auf seinem Stuhl, um mich mit seinen gläsernen, alternden Augen zu mustern.

      Ich rühre mich nicht von der Stelle, obwohl ich kaum erwarten kann, was er mir zu sagen hat. Nun gibt es keinen Zweifel mehr, dass er etwas weiss, was mich weiterbringen wird.

      Mit einem Räuspern fährt er weiter. „Ich bin mir im Klaren darüber, wie gewissenhaft Sie Ihre Arbeit machen und ich weiss, dass Sie Informationen, die Sie erfahren, nur für Ihre Suche nach Personen benützen und nicht um jemanden damit zu schaden.“

      „Da können Sie sich hundertprozentig sicher sein.“

      Er holt abermals tief Luft. „Ich kann mich noch glasklar an Ian Kyssen erinnern, als wäre es erst gestern gewesen.“

      Ich kann mein Glück kaum glauben und starre mein Gegenüber mit grossen Augen an, als er weitererzählt.

      „Er war damals kaum dreizehn Jahre alt, als er zu uns stiess. Ich muss gestehen, dass Ian kein einfacher Knabe war. Er versuchte alle durch seine Unverfrorenheit zum Narren zu halten, was er auch bei vielen schaffte. Aber jemand glaubte vom ersten Tag, als er durch unser Tor schritt, an ihn und gab nie auf, ihn auf den rechten Weg zu bringen.“

      „Waren Sie das?“

      „Nein. Denn ich hatte mit den Kindern im Allgemeinen nicht viel zu tun. Es war einer seiner Lehrer. Er galt als streng und unnachgiebiger Pädagoge. Unter seiner Oberfläche verbarg sich jedoch eine einfühlsame Seele, die es schaffte, die hohe Mauer, die Ian zum Selbstschutz errichtet hatte, zu durchbrechen. Viele haben sich in Ian getäuscht. Wenn ich ehrlich bin, auch ich.“

      „Warum wurde bei den Behörden ein falsches Kinderheim angegeben?“

      „Weil er nicht gefunden werden möchte.“

      „Meinen Sie ich mache das Richtige, wenn ich ihn trotzdem aufsuchen werde?“

      „Obwohl er nie über seine Eltern gesprochen hat, kann ich mir beileibe nicht vorstellen, dass er sie wirklich nie mehr sehen möchte.“

      „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Hilfe, Herr Kampmann.“

      „Da wäre noch was, das Sie vielleicht wissen sollten.“

      „Ja?“

      „Ian Kyssen lebt nicht mehr.“

      Erschüttert sehe ich von meinen Notizen auf, die ich in aller Eile mitgeschrieben habe. „Wann? Warum? Was ist passiert?“ Die Fragen rutschen mir nur so aus dem Mund.

      „Er ist nicht wirklich gestorben, aber Ian Kyssen existiert nicht mehr, denn er hat in seinem dreizehnten Lebensjahr seinen Namen geändert. Er heisst nun Oliver Falk.“

      Meine Bestürzung, über die Wendung meines neusten Falles, hat sich noch immer nicht gelegt, als ich unterwegs in die Zentralschweiz bin. Mit einem mulmigen Gefühl fahre ich über die Autobahn und komme immer näher an mein Ziel.

      Wie soll ich dem momentan begehrtesten Fussballer der Welt erklären, dass mich seine Mutter beauftragt hat ihn zu finden, weil sie sich bei ihm entschuldigen möchte? Ich habe keinen Plan, wie ich ihn dazu bringen kann, dass er mich anhört und das entmutigt mich immer mehr, mit jedem Kilometer den ich fahre.

      Bis zum heutigen Tag hatte ich keinen so komplizierten Fall, wie es dieser werden wird. Auch hatte ich bis jetzt mit keiner Berühmtheit zu tun. Aber diese Angelegenheit sprengt deutlich den Rahmen. Nur ein kurzes Gespräch mit einer Mutter, die verzweifelt versucht ein letztes Mal ihren Sohn zu sehen, bevor der Krebs sie von dieser Erde holt, hat dies alles ausgelöst.

      Langsam lenke ich mein Auto auf den Besucherparkplatz der Fussballarena von Weggis, die Thermoplan-Arena. Es ist bereits nach fünf Uhr, als ich aus dem Auto steige und auf das grosse Fussballstadion zugehe.

      Wie ich gleich feststellen werde, bin ich gerade zur rechten Zeit gekommen, um den Fussballern beim Spielen zuzusehen.

      Kaum bin ich auf der Zuschauertribüne, entdecke ich den gut aussehenden, muskulösen Oliver Falk, wie er über den Rasen sprintet und den Ball mühelos an sich reisst.

      Er sieht in Wirklichkeit noch viel besser aus, als auf den Bildschirmen oder in den Zeitungen, in denen er ständig zu sehen oder abgebildet ist.

      Oliver Falk strahlt eine Kraft von Entschlossenheit aus, die niemand daran zweifeln lässt, dass er sein Ziel erreichen wird, das er sich gesetzt hat.

      Mit einer für mich aussergewöhnlichen Faszination verfolge ich das Trainingsspiel und lasse den Mann, den ich bereits seit bald drei Wochen suche, nicht mehr aus den Augen.

      Als der Trainer das Spiel mit dem Schlusspfiff beendet, gehe ich so locker wie möglich bis zur Abschrankung, die die Tribüne vom Spielfeld trennt.

      Alle ausser Oliver, der noch ein paar Runden joggt, gehen in Richtung Umkleidekabinen, um sich unter die Duschen zu stellen. Die Reporter rufen ihnen zu, woraufhin der eine oder andere stehen bleibt und ein kurzes Interview gibt.

      Ich schenke den Fragen der Journalisten kein Gehör, sondern konzentriere mich voll und ganz auf meine Zielperson. Fasziniert sehe ich ihm zu, wie er mit einer Leichtigkeit über den Rasen rennt, als würde er schweben. Nur der Schweiss, der ihm über den Rücken läuft und sein rot, weisses Trikot nass werden lässt, verrät dass die sportliche Aktivität nicht ohne Mühe an ihm vorbeigeht. Geduldig warte ich, bis Oliver Falk in meine Nähe kommt und gerade als er in den Katakomben, die zu den Umkleidekabinen führen, verschwinden möchte, rufe ich laut und mit starker Stimme seinen Namen. Dabei winke ich ihm mit heftigen Bewegungen zu, damit er mich bemerkt. Nach dem dritten Mal dreht er sich endlich zu mir. Er sieht mich argwöhnisch an und geht ungerührt weiter.

      Ich versuche die Reporter und Fotografen, die um mich stehen, zu ignorieren und all die anderen Menschen, die sich hier befinden, auszublenden.

      „Oliver Falk!“ rufe ich abermals lauthals. „Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen? Bitte!“

      Doch er macht keine Anstalten, mir zuhören zu wollen und weg ist er. Deprimiert nehme ich auf dem nächsten freien Stuhl Platz. Mein Blick schweift über das Spielfeld, wobei ich angestrengt überlege, wie ich den weltberühmten Fussballspieler dazu bringen kann, dass er mir einige Minuten seiner Zeit schenkt.

      Plötzlich erscheint ein Schatten neben mir und eine tiefe Stimme spricht mich anklagend an. „Sie sind keine Reporterin und auch keine Fotografin.“

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