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hinter ihren Rollen. Und da, wo die Regie das zu konterkarieren versucht, etwa durch den Brechtschen Verfremdungseffekt, sehen wir dann eben den Regisseur oder den Autor hervortreten. Im Improvisationstheater hingegen sind wir sowohl an die Figur und die Handlung als auch an die Improvisierer und den Improvisationsprozess gebunden. Wir fragen uns als Zuschauer nicht nur: „Wird der Kleptomane seiner Frau die Wahrheit sagen?“, sondern wir wollen auch wissen: „Welche Entscheidungen treffen die Improvisierer jetzt?“ Diese zusätzliche Denkspur läuft (mal mehr, mal weniger bewusst) immer mit. Man ist daher als Zuschauer in einem improvisierten Stück oder einer improvisierten Szene nicht nur am Fortgang der Handlung oder der Dichte der Dialoge interessiert, sondern man genießt obendrein den Flow, in dem das Spiel improvisiert wird. Insofern ist Improtheater selbst ohne Publikumsvorgaben deutlich interaktiver als das konventionelle Regie-Theater.

      1 Bertolt Brecht kritisierte das Theater seiner Zeit als zu rauschhaft, es wolle die Zuschauer nur in ein emotionales Auf und Ab stürzen; der Zuschauer würde zu sentimental in die Erlebniswelt der Charaktere eingesogen. Bei Brecht sollten die Zuschauer nie vergessen, im Theater zu sein. In gewisser Weise hat Improtheater diesen Ansatz radikalisiert. Der Zuschauer ist hier in einer permanenten Doppelbindung: Man geht mit den Figuren und der Story mit, und auf der anderen Seite beobachtet man gleichzeitig den Prozess des Erschaffens dieser Figuren und der Story.

      2 Zum Thema Improtheater als Therapie siehe Improvisationstheater. Band 11: Impro überall

      3 Man denke nur daran, wie lange heutzutage im Abspann eines Kinofilms über nahezu sämtliche Berufszweige des Film-Business informiert wird. Die wichtigsten kreativen Künstler – der Drehbuch-Autor, der Regisseur und die Schauspieler arbeiten nicht gleichberechtigt und nicht synchron an dem Werk. Manchmal ist für den Schauspieler nicht einmal die Anwesenheit des Dialogpartners nötig.

       2SEI MUTIG

       2.1Scheiter heiter

       2.2Die Falle der Selbst-Etikettierung

       2.3Es gibt keine Fehler – Mach was draus

       2.4Freiheit vor dem Urteil anderer

       2.5Wabi Sabi: Prozess statt Produkt

       2.6Wovor sich Impro-Spieler fürchten

       2.7Die Kanäle der Angst

       2.8Wie überwinden wir unsere Angst?

       2.1Scheiter heiter

      Unser Alltag ist von einem seltsamen binären Code geprägt – dem Dualismus von Falsch und Richtig. Diese Prägung fängt bei der Kindeserziehung an und setzt sich später in der Arbeitswelt fort. Fehler gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Für Fehler werden wir bestraft, ausgelacht, gerügt. Nur langsam zieht in einigen Bereichen die Erkenntnis ein, dass ohne Fehlertoleranz keine Entwicklung zu haben ist.

      In manchen Bereichen des Lebens ist Präzision ja durchaus wichtig: Wer will schon einen nur ungefähren Betrag des Gehalts auf sein Konto überwiesen haben? Wer will schon, dass der Zahnarzt einen beliebigen Zahn statt des kranken anbohrt? Die Dualität von Richtig und Falsch ist vor allem dort angemessen, wo Exaktheit das primäre Kriterium ist – in Wissenschaft und Technik.

      Aber schon in einer der mathematischsten Künste – der Musik – wird die Frage von Richtig und Falsch rasch sinnlos. Gewiss schmälert es den Genuss, wenn Musiker „falsche“ Töne spielen. Aber ob uns der Vortrag einer Mozartschen Klaviersonate gefällt oder nicht, hängt nicht unbedingt damit zusammen, dass der Musiker das Stück „richtig“ gespielt hat. Mehr noch: Eine schöne Interpretation wird uns wahrscheinlich selbst noch mit ein, zwei Patzern besser gefallen als dasselbe Stück, wenn es „richtig“ aber seelenlos gespielt wird. Und in der Improvisation geht es sogar noch einen Schritt weiter: „Wir improvisieren“ heißt, es gibt kein Richtig und kein Falsch, denn wer wollte das festlegen als wir allein.

      Eine der Grundübungen im Improtheater ist die freie Assoziation: Ich nenne dir einen Begriff, du assoziierst möglichst flott auf diesen Begriff ein neues Wort, auf das ich wiederum eine Assoziation finden muss. Per definitionem kann es hier kein Richtig und kein Falsch geben. Was immer du assoziierst, es ist in deinem Kopf entstanden. Angenommen ich höre den Begriff Salami, dann kann es durchaus sein, dass ich dazu Punkrock assoziiere, was für Außenstehende vielleicht nicht unbedingt nachvollziehbar ist, aber das ist egal, denn es ist schließlich mein Leben, das meine Synapsen derart verschaltet hat, dass ich Punkrocker vor mir sehe, wenn ich dieses Wort höre.

      Nehmen wir dasselbe Spiel. Ich sage „Punkrock“, und meine Mitspielerin versteht „Bangkok“, was man durchaus als Fehler im Sinne von Hörfehler auffassen kann. Wenn sie nun aber „Ostasien“ assoziiert, bleiben wir im Spiel.

      Der Fehler wird als Fehler oft erst dann erkannt, wenn wir ihn als Fehler markieren – wenn wir die Augenbrauen skeptisch verziehen, wenn wir innehalten, wenn wir aus der Szene heraustreten, kurz – wenn wir das Spielen beenden. Solange wir spielen, können wir im Grunde gar nicht scheitern.

      Die Impro-Welt ist voller Spiele, die das heitere Scheitern trainieren. Praktisch alle Spiele, bei denen Spieler der Reihe nach ausscheiden, eignen sich. Eines meiner Lieblings-Scheiter-Spiele, das sich für Gruppen aller Levels eignet ist „Verlierer-Ball“ von Jill Bernard4:

       Spiel „Verlierer-Ball“

      Die Spieler stehen im Kreis und werfen sich einen imaginären Ball zu. Aber statt den Ball zu fangen, verlieren ihn die Spieler. Sie lassen ihn fallen, fangen schlecht usw. Jedes Mal, wenn der Ball fallengelassen wird, applaudiert die Gruppe, und man lobt den Verlierer wie eine stolze Mutter ihr Kind lobt: „Toll gesehen!“ oder „Schön nachgegriffen!“ usw. Es gibt keinerlei Bedauern. Es muss gelobt werden. Der Effekt auf die Stimmung innerhalb der Gruppe ist erstaunlich.

      Keith Johnstone5 hat mit seinen Spielen und Formaten das Scheitern wunderbar aufgefangen. Im „Buchstaben-Vermeidungs-Spiel“ dürfen zwei oder mehrere Spieler einer Szene einen Buchstaben nicht benutzen, zum Beispiel „F“.

      A: „Ihr Paket. Unterschreiben Sie bitte hier ff…vielmehr hier.“ (Das Publikum lacht, weil es den Spieler ringen sieht.)

      B: „Gerne, ach kommen Sie doch herein.“

      A: „Oh! … Mademoiselle, sehr gern.“ (Wieder Lachen. Wir sehen, dass er eigentlich „Fräulein“ sagen wollte und im letzten Moment noch die Kurve gekriegt hat.)

      B: „Ich liebe Sie, seit Sie das erste Mal an meiner Tür geklingelt haben.“

      A: „Das sagen Sie mir erst jetzt. Ich hatte mich schon gefragt … Aaah!“

      Und wie in jedem theatersportmäßigen6 Spiel scheitert der Spieler demonstrativ heiter und scheidet aus der Szene aus.

      Die Herausforderungen der klassischen Theaterspiele haben an sich oft keinen besonderen dramatischen Wert.7 Sie geben uns aber die Chance, ganz offensichtlich zu scheitern und dieses Scheitern mit Humor zu nehmen. Die Form fängt das Scheitern des Spielers auf, das Scheitern einer Szene, das

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