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Leder nicht gelang, die Leere zu verbergen, die durch die Abschaffung des zweiten, vor dem Kaiserreich den Journalisten und dem Publikum vorbehaltenen Ranges entstanden war. Zwischen den dicken, vergilbten Säulen, die rings um das Halbrund ihre etwas schwerfällige Pracht entfalteten, taten sich die tiefen schmalen Logen auf, voll dunkler Schatten, fast leer, nur von drei oder vier hellen Frauenkleidern aufgeheitert.

      »Sieh da! Oberst Jobelin ist gekommen«, murmelte Herr Kahn.

      Er lächelte dem Oberst zu, der ihn bemerkt hatte. Oberst Jobelin hatte den dunkelblauen Gehrock angelegt, den er seit seiner Pensionierung als Ziviluniform zu tragen pflegte. Ganz allein saß er in der Quästorenloge5, seine Rosette eines Offiziers der Ehrenlegion6 war so groß, daß sie dem Knoten eines seidenen Halstuches glich.

      Herrn Kahns Augen hatten sich soeben auf ein junges Paar geheftet, das sich weiter links in einer Ecke der Staatsratsloge zärtlich aneinanderschmiegte. Der junge Mann beugte sich alle Augenblicke vor und sprach, den Mund fast an ihrem Halse, mit der jungen Frau, die sanft lächelte, ihn aber nicht ansah, sondern auf die allegorische Figur der öffentlichen Ordnung starrte.

      »Hören Sie mal, Béjuin«, flüsterte der Abgeordnete, seinen Kollegen mit dem Knie anstoßend.

      Herr Béjuin war mit seinem fünften Brief beschäftigt. Er hob verstört den Kopf.

      »Gucken Sie mal, sehen Sie nicht da oben den kleinen d'Escorailles und die hübsche Frau Bouchard? Ich wette, er kneift sie in die Hüften. Sie macht Schmachtaugen ... Alle Freunde Rougons haben sich also ein Stelldichein gegeben. Dort auf der Publikumstribüne sind auch noch Frau Correur und die beiden Charbonnels.«

      Jetzt ertönte ein längeres Glockenzeichen. Ein Huissier rief mit schöner Baßstimme: »Ruhe, meine Herren!« Man merkte auf. Und der Präsident sprach folgenden Satz, von dem kein Wort verlorenging: »Herr Kahn bittet um Druckgenehmigung für die Rede, die er bei der Debatte über den Gesetzentwurf bezüglich der Einführung einer städtischen Steuer auf die in Paris laufenden Fahrzeuge und Pferde gehalten hat.«

      Durch die Bänke lief ein zustimmendes Gemurmel, und dann wurden die Unterhaltungen wieder aufgenommen. Herr La Rouquette hatte sich neben Herrn Kahn gesetzt.

      »Sie arbeiten also für die Bevölkerung?« fragte er scherzend. Dann fügte er, ohne eine Antwort abzuwarten, hinzu: »Haben Sie Rougon nicht gesehen? Haben Sie nichts gehört? – Alle Welt spricht davon. Es scheint noch nichts gewiß zu sein.«

      Er wandte sich um und blickte auf die Uhr.

      »Schon zwanzig Minuten nach zwei! Ich würde mich jetzt davonmachen, wenn nicht die Verlesung dieses verflixten Berichts bevorstünde! – Findet die wirklich heute statt?«

      »Man hat uns alle davon benachrichtigt«, antwortete Herr Kahn. »Ich habe nichts davon gehört, daß etwas anderes angeordnet worden wäre ... Sie werden gut daran tun, hierzubleiben. Man wird gleich über die vierhunderttausend Francs für die Taufe abstimmen.«

      »Zweifellos«, entgegnete Herr La Rouquette. »Der alte General Legrain, der zur Zeit auf beiden Beinen lahmt, hat sich von seinem Diener hertragen lassen; er wartet im Konferenzsaal auf die Abstimmung ... Der Kaiser7 verläßt sich mit Recht auf die Ergebenheit des gesamten Corps législatif8. Bei diesem feierlichen Anlaß soll ihm keine einzige unserer Stimmen fehlen.«

      Der junge Abgeordnete hatte sich sehr angestrengt, sich das ernsthafte Aussehen eines Politikers zu geben. Er plusterte sich auf und wiegte sein Zierpuppengesicht, das ein paar blonde Barthaare schmückten, leicht über seiner Krawatte. Einen Augenblick lang schien er die beiden letzten rhetorischen Phrasen, die er zustande gebracht hatte, auszukosten. Dann brach er plötzlich in Lachen aus.

      »Mein Gott«, sagte er, »wie grotesk diese Charbonnels doch aussehen!«

      Daraufhin witzelten Herr Kahn und er auf Kosten der Charbonnels. Die Frau hatte einen ausgefallenen gelben Schal um; ihr Gatte trug einen jener Provinzgehröcke, die mit der Axt zugehauen zu sein scheinen; und beide, wohlbeleibt, rotbäckig und zusammengesunken, lagen fast mit dem Kinn auf dem Samt der Brüstung, um besser der Sitzung folgen zu können, aus der sie, sosehr sie auch die Augen aufsperrten, nicht klug zu werden schienen.

      »Wenn Rougon auffliegt«, murmelte Herr La Rouquette, »gebe ich keine zwei Sou für den Prozeß der Charbonnels ... Ebenso ist's mit Frau Correur ...«

      Er beugte sich zu Herrn Kahns Ohr und fuhr sehr leise fort: »Kurz gesagt, Sie kennen doch Rougon, erzählen Sie mir also mal ganz genau, was es eigentlich mit Frau Correur auf sich hat. Sie hat ein Hôtel geführt, nicht wahr? Damals hat Rougon bei ihr gewohnt. Es heißt sogar, sie habe ihm Geld geliehen ... Und was für ein Gewerbe betreibt sie jetzt?«

      Herr Kahn war sehr ernst geworden. Mit zögernder Hand rieb er seine Bartfräse.

      »Frau Correur ist eine hochachtbare Dame«, sagte er nachdrücklich.

      Dieses Wort setzte Herrn La Rouquettes Neugier ein Ende. Er verzog die Lippen wie ein Schüler, dem soeben ein Verweis erteilt worden ist. Ein Weilchen betrachteten beide schweigend Frau Correur, die in der Nähe der Charbonnels saß. Sie hatte ein sehr auffallendes Kleid aus malvenfarbener Seide an, mit vielen Spitzen und viel Schmuck; ihr Gesicht war allzu rosig, die Stirn von blonden Puppenlöckchen bedeckt, und ihr fülliger, trotz ihrer achtundvierzig Jahre noch sehr schöner Hals war unverhüllt.

      Auf einmal aber hörte man im Hintergrund des Saales eine Tür klappen und Kleider rauschen; alle Köpfe wandten sich danach um. Ein großes junges Mädchen, eine wunderbare Schönheit, recht seltsam angezogen mit einem schlechtsitzenden Kleid aus seegrünem Atlas, hatte soeben in Begleitung einer bejahrten Dame in Schwarz die Loge des diplomatischen Korps betreten.

      »Sieh da, die schöne Clorinde«, murmelte Herr La Rouquette und stand auf, um sich auf gut Glück zu verbeugen.

      Auch Herr Kahn hatte sich erhoben. Er neigte sich zu Herrn Béjuin hinüber, der damit beschäftigt war, seine Briefe in die Umschläge zu stecken.

      »Sehen Sie doch, Béjuin«, flüsterte er, »die Gräfin Balbi und ihre Tochter sind da ... Ich werde hinaufgehen und fragen, ob sie nicht Rougon gesehen haben.«

      Am Präsidiumstisch hatte der Präsident eine neue Handvoll Papiere ergriffen. Ohne sich im Lesen zu unterbrechen, warf er der schönen Clorinde Balbi, deren Erscheinen ein allgemeines Geflüster im Saal hervorgerufen hatte, einen Blick zu. Und während er gleichzeitig die Blätter eins nach dem anderen an einen Schriftführer weiterreichte, sagte er punkt und kommalos und so, als würde es nie ein Ende nehmen: »Vorlage eines Gesetzentwurfes, betreffend die Weitererhebung eines Aufschlags auf die städtische Steuer der Stadt Lille ... Vorlage eines Gesetzentwurfes bezüglich der Vereinigung der Gemeinden Doulevant lePetit und VilleenBlaisais im Departement Haute Marne zu einer einzigen Gemeinde ...«

      Als Herr Kahn wieder herunterkam, war er tiefbetrübt.

      »Es hat ihn wahrhaftig niemand gesehen«, sagte er zu seinen Kollegen Béjuin und La Rouquette, die er am unteren Ende des halbkreisförmigen Saales traf. »Man hat mir versichert, der Kaiser habe ihn gestern abend rufen lassen, aber ich weiß nicht, wie die Unterredung ausgegangen ist ... Nichts ist so ärgerlich wie nicht zu wissen, woran man ist.«

      Herr La Rouquette drehte sich um und flüsterte dabei Herrn Béjuin ins Ohr: »Dieser arme Kahn hat eine schöne Angst, daß sich Rougon mit den Tuilerien9 überwirft. Dann könnte er seiner Bahnstrecke nachlaufen.«

      Da gab Herr Béjuin, der sich selten zu äußern pflegte, gewichtig den Satz von sich: »An dem Tag, an dem Rougon aus dem Staatsrat ausschiede, würden alle einen Verlust erleiden.«

      Und er winkte einen Huissier herbei, um ihn zu bitten, die Briefe, die er soeben geschrieben hatte, in den Kasten zu werfen.

      Die drei Abgeordneten blieben links am Sockel des Präsidiumstisches stehen. Sie unterhielten sich vorsichtig über die Ungnade, die Rougon drohte. Es war eine verwickelte Geschichte. Ein entfernter Verwandter der Kaiserin10, ein gewisser Rodriguez, forderte seit 1808 einen Betrag von zwei Millionen von der französischen Regierung. Während des Spanischen Krieges war ein mit Zucker und Kaffee beladenes

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