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      Die neoklassische ökonomische Lehre hat den Klassischen Liberalismus, wie er vom schottischen Moralphilosophen Adam Smith begründet wurde, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgelöst. Anders als die ökonomische Lehre des Klassischen Liberalismus versteht sich die Neoklassik nicht als Politische Ökonomie, sondern als eine reine wissenschaftliche Disziplin. Mit anderen Worten ist die neoklassische Ökonomie nicht auf die Befriedigung von wirtschaftspolitischen Anliegen ausgerichtet. Im Zentrum der Neoklassik stehen mathematische Modelle, mit denen das Gleichgewicht der Marktprozesse, beispielsweise im Arbeitsmarkt, im Sinne eines bestmöglichen gesellschaftlichen Zustandes herbeigeführt werden kann. Dabei geht die Neoklassik vom Modell des Homo oeconomicus aus. Nach diesem Konstrukt optimieren Wirtschaftsakteure (Unternehmen, Konsumenten, Investoren und Arbeitnehmer) ihren eigenen Nutzen bzw. Gewinn. Die Optimierung erfolgt einerseits nach mehr oder weniger konstanten Präferenzen, zum Beispiel grösstmöglicher Gewinn, und andererseits nach den gegebenen Restriktionen (beispielsweise Geldressourcen). Das bedeutet, dass nach der Neoklassik der bestmögliche gesellschaftliche Zustand dann erreicht wird, wenn die Wirtschaftsakteure ihren eigenen Nutzen bzw. Gewinn optimieren können. Diese Nutzen- und Gewinnoptimierung gelingt den Wirtschaftsakteuren dann, wenn ihnen möglichst grosse Handlungsfreiräume zugestanden werden.

      John Maynard Keynes

      Anfang des letzten Jahrhunderts – wir erinnern uns an die Soziale Frage{a}, die Grosse Depression Ende des 19. Jahrhunderts, an die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, aber auch an die Oktoberrevolution 1917 in Russland – wurde der Begriff «Wirtschaftsliberalismus» zum Schimpfwort. Es stand fest, dass der Wirtschaft keine selbstregulierenden Kräfte innewohnen. Stattdessen muss das Wirtschaftsgeschehen von der Politik geleitet werden. Mit dem Aufkommen der Lehre des britischen Ökonomen John Maynard Keynes verfügte die Politik dann auch über die dafür notwendigen ökonomischen Ideen. Zur Kritik an der Neoklassik schreibt Keynes:

      «Die hervorstechenden Fehler der Wirtschaftsgesellschaft, in der wir leben, sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung Vorkehrung zu treffen, und ihre willkürliche und unbillige Verteilung des Reichtums und der Einkommen.»{9}

      Das Denken von Keynes war nicht nur durch den Ersten Weltkrieg und die anschliessenden Friedensverhandlungen beeinflusst, sondern ebenfalls durch die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre. Zur Idee der Gleichgewichtstheoretiker, wonach sich die Märkte langfristig auf ein Gleichgewicht zubewegen, antwortete Keynes in einem Radiointerview im Jahr 1939 ironisch, dass wir auf lange Sicht ohnehin alle tot seien. In seinem Hauptwerk «General Theory» sieht Keynes die Einkommensverteilung und die Beschäftigung als die beiden grossen sozialökonomischen Probleme. In den folgenden Jahrzehnten orientierte sich die Wirtschaftspolitik in den ökonomisch fortgeschrittenen europäischen Volkswirtschaften an der regulativen Idee der Vollbeschäftigung, welche durchaus mit staatlichen Massnahmen im Sinne von Konjunkturpolitik unterstützt werden soll. In Deutschland entwickelte sich unter Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und dem Kultursoziologen Alfred Müller-Armack eine soziale Marktwirtschaft, die von der ökonomischen Lehre der Freiburger Schule (Ordoliberalismus) beeinflusst war. Auf diese neoliberale Strömung werde ich im Verlaufe dieses Plädoyers noch zurückkommen.

      Gründung des Neoliberalismus

      Der Neoliberalismus hat seinen Ursprung in den 1930er Jahren. Eine Gruppe liberaler Ökonomen aus verschiedenen Ländern wollte am Wirtschaftsliberalismus festhalten. Dies konnte gesellschaftspolitisch jedoch nur dann gelingen, wenn die Fehler des Laissez-faire-Kapitalismus aufgezeigt und ausgemerzt werden. Es musste also ein Weg zwischen Laissez-faire-Liberalismus und Sozialismus gefunden werden. An einem Symposion in Paris im Jahre 1938 wurden mehrere Namen für diese Gegen-Bewegung diskutiert, beispielsweise Links-Liberalismus oder Positiver Liberalismus. Letztlich haben sich die Teilnehmer auf den Namen «Neoliberalismus» geeinigt. Die einzelnen Ökonomen hatten über den einzuschlagenden Weg durchaus verschiedene Ansichten, zusammengehalten wurden sie durch das gemeinsame Feindbild des Kollektivismus, Sozialismus und des Keynesianismus. Die Neoliberalen (das weibliche Geschlecht war nicht vertreten) entwickelten eigene ökonomische Lehren, insbesondere gilt dies für die Vertreter im Umfeld der Freiburger Schule, deren Lehren als Ordoliberalismus zusammengefasst wurden. Andere führende Vertreter, allen voran Friedrich A. von Hayek, hatten jedoch weniger die Ökonomie als Wissenschaft, sondern primär die Zivilwirtschaft, das heisst die Wirtschaftspolitik im Blick.

      Die Durchsetzung des Neoliberalismus wurde zu einem auf mehrere Jahrzehnte hin angelegten Projekt erklärt, das wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges zwar unterbrochen, Ende 1943 jedoch wieder aufgenommen wurde. Im April 1947 kam es zu einem zehntägigen Treffen in Mont Pèlerin (das ist ein Dorf auf dem gleichnamigen Höhenzug oberhalb von Vevey), bei dem die bis heute bestehende Mont Pèlerin Society (MPS) gegründet wurde. Die ersten 15 bis 20 Jahre der MPS waren durch vier wichtige Entwicklungen geprägt: Erstens wurde die Zahl der Mitglieder stark erhöht und international ausgeweitet. Zweitens erfolgte eine Phase der Reinigung und Klärung, so dass sich ein neoliberales Mainstream-Denken entwickeln konnte. Drittens erzielten Mitglieder der MPS in der breiten Öffentlichkeit mit ihren Publikationen grosse Erfolge, zudem wurden Einzelne sogar mit dem Nobelpreis geehrt. Und schliesslich viertens wurden die international zahlreich gegründeten Think tanks zu einem wichtigen Mittel, um auf Publizistik, Ausbildung und Wirtschaftspolitik einzuwirken. Zwischen den Mitgliedern der MPS gab es im Laufe der Zeit wegen der wirtschaftspolitischen Orientierung heftige Auseinandersetzungen. Während die Ordoliberalen im Umfeld der Freiburger Schule ein Gleichgewicht zwischen Staat und wirtschaftlicher Freiheit anstrebten, räumten die vorwiegend im angelsächsischen Sprachraum lehrenden Ökonomen dem Markt die Priorität ein.

      Mit dem Ausscheiden wichtiger Ordoliberaler gewann der angelsächsisch geprägte Pol letztlich die Oberhand. Da diese Vertreter keine eigentliche Lehre zur Mikroökonomie{b} entwickelten, orientierte sich der angelsächsische Neoliberalismus an der Neoklassik mit ihren mathematischen Modellannahmen. Das hatte zur Konsequenz, dass nach dem Neoliberalismus es dann zum bestmöglichen gesellschaftlichen Zustand kommt, wenn die Wirtschaftsakteure ihren eigenen Nutzen bzw. Gewinn optimieren können. Den Wirtschaftsakteuren soll deshalb möglichst viel Freiheit zugestanden werden, damit die Eigennutzen- und Gewinnoptimierung tatsächlich auch durchgesetzt werden kann. Der Staat hingegen soll sich weitgehend zurückhalten, weil seine Eingriffe die Eigennutzen- und Gewinnoptimierung tendenziell behindern. Die Parolen der weltweit unzähligen neoliberalen Think tanks waren und sind bis heute dem entsprechend: Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung, Steuersenkungen und Freihandel.

      Neoliberalismus gewinnt Bedeutung

      In den 1970er Jahren kam es, verbunden mit dem starken Anstieg des Erdölpreises, in den Industrieländern zu schweren Rezessionen, besonders in den USA und in Grossbritannien. In beiden Ländern zeigte sich ein schwerer ökonomischer Niedergang, begleitet von lautstark vorgetragenen neuen sozialen Ansprüchen. Bei den Politikern herrschte Verwirrung, Angst und sogar Panik, denn sie konnten nicht verstehen, weshalb die bislang so zuverlässige keynesianische Theorie den ökonomischen Niedergang nicht umzukehren vermochte. Das war die Stunde der Neoliberalen. Mit den Worten der emeritierten, hoch angesehenen Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff:

      «Das war die Chance, auf die neoliberale Ökonomen gewartet hatten, und ihre Ideen strömten denn auch sofort in das »wirtschaftspolitische Vakuum«, das den beiden Regierungen so zu schaffen machte.»{10}

      Mit dem Ende des Keynesianismus wurden der angelsächsisch geprägte Neoliberalismus und die Neoklassik zur Mainstream-Ökonomie. Das heisst, an den Hochschulen stand ab den 1980er Jahren die neoklassischen ökonomischen Ideen wieder im Zentrum der Lehre, während sich die Wirtschaftspolitik dem Neoliberalismus zuwandte. Nach dem ersten neoliberalen Experiment in Chile unter dem Diktator Pinochet haben sich die beiden Volkswirtschaften Grossbritannien (unter Margaret Thatcher) und USA (unter Ronald Reagan) explizit den Neoliberalismus als wirtschaftspolitische Grundlage genommen.

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