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welchem Wertekodex sie sich zu richten haben, um glücklich und im besten Falle auch noch erfolgreich zu werden – oder doch zumindest ein einigermaßen unbeeinträchtigtes Leben führen zu können.

      Der Grund für all das ist so simpel wie erschreckend und in den letzten Jahren an jedem beliebigen Tag und mit stetig steigender Frequenz aus den Schlagzeilen ablesbar: Politiker, Bischöfe und andere Personen der öffentlichen Wahrnehmung predigen in der Öffentlichkeit vermeintlich populäre Werte und haben gleichzeitig einen regelrechten Sport daraus gemacht, diese Werte nach allen Regeln der Kunst mit Füßen zu treten.

      Das liegt daran, dass – im Gegensatz zu werteprogressiven Trends in der Gesellschaft – verwaltete Interessengruppen wie die Kirche oder ein auf überholten bürokratischen Strukturen beruhender Apparat wie die Bundesregierung mit ihren Ministerien in ihrer ideologischen Grundausrichtung stehengeblieben sind, weil jene alten Kodizes und föderalistischen Strukturen die Grundlage ihrer Macht bilden. Würden sie sich der Bevölkerungsdynamik und deren veränderten Wertvorstellungen in ihrer Entwicklung anpassen, kämen die meisten dieser Instanzen in ihrer derzeitigen Verfasstheit in ernsthaften Legitimationszwang.

      Also tun sie das einzige, was ihnen im Sinne des Machterhalts übrig bleibt: Sie täuschen und mogeln, dass sich die Balken biegen. Wer sich einem neuen Wertebewusstsein nicht anpassen kann, ohne die eigene Existenzberechtigung in Frage zu stellen, gaukelt durch mehr oder weniger geschickte Öffentlichkeitsarbeit eben vor, am Puls der Zeit zu sein – nur um hinter den Kulissen genau so weiterzumachen wie seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten. Als hätte sich die deutsche Gesellschaft in ihrer demografischen Zusammensetzung seit der Gründung der Bundesrepublik nicht verändert. Als wäre die Globalisierung ein Mythos, der gar nicht stattfindet oder sich zumindest in seiner gesellschaftlichen Dynamik von Bürokraten steuern ließe. Als hätten die Deutschen nicht schon mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, sich einem Wertediktat zu entziehen und ihre Gesellschaft auf demokratische Art und Weise zu erneuern.

      Die Ethik hat sich längst dem Machterhalt unterordnen müssen. Sie ist zur bloßen Marketingstrategie verkommen, zum Feigenblatt der Wertemissbräuchler. Gepredigt wird sie in diesen Tagen, ganz besonders seit der Finanzkrise, mehr denn je. Vorgelebt wird sie uns nur noch äußerst selten. Die Haltlosigkeit, die das bei vielen in der Bevölkerung auslöst, kann gefährliche Blüten treiben – nicht jeder ist der Herausforderung gewachsen, sich enttäuscht von alten Vorbildern abzuwenden, ohne einem alternativen, vielleicht noch gefährlicheren Prediger zu verfallen.

       Die vermeintliche Sehnsucht nach „alten Werten“

      

      Thilo Sarrazin ist ein solcher Prediger – wenn auch nur einer von vielen. Er macht sich mit seinen Thesen den Werteverfall der Instanzen auf besonders perfide Weise zunutze: indem er den Werteverfall nicht den staatlichen Institutionen, für die nicht zuletzt er selbst steht, sondern der Bevölkerung unterstellt. Weil die Gemeinschaft als Ganzes anzugreifen unpopulär wäre, finden wir bei ihm allerlei krude Theorien über soziale Gruppen, die am wenigsten wehrhaft, weil aus der demokratischen Meinungsbildung weitgehend ausgegrenzt sind, und schiebt ihnen exemplarisch den schwarzen Peter unter.

      Das ist keineswegs clever oder gar mutig, sondern ein Paradestück an Feigheit und Wahrheitsverdrehung. Aus Sicht der alten Schule, die sich unverändert im Besitz der ethischen Deutungshoheit glaubt, eine leichte Übung: Man nutze die Haltlosigkeit der Bevölkerung, indem man ihr ein Feindbild präsentiert und damit von den eigenen Versäumnissen ablenkt. Man argumentiere das ethische Vakuum, das man selbst mitverursacht hat, durch den blödsinnigen Vorwurf, dass Teile der Bevölkerung den alten Werten abgeschworen hätten. Man streiche für diese Diffamierung neben einer satten Entschädigung für den in peinlicher Berührtheit eilends entzogenen Bundesposten auch noch den Ruf eines Hohepriesters der Ethik ein, und mache sich somit zum moralischen Sieger in einer Debatte, die außer ihrem Initiator faktisch nur Opfer kennt. Sein Erfolg ähnelt dem eines heiligen Krieges: vorgeblich im Namen einer Religion alle anderen überrannt zu haben und das als moralischen Sieg auszugeben, weil in großen Buchstaben „Wertebewahrung“ auf der Fahne steht. Aber auch nur da.

      Der perfideste Schachzug Sarrazins jedoch ist es, den Werteverfall jenen anzulasten, die seine eigentlichen Leidtragenden sind. Man muss ein sehr hohes Ross besteigen, um die tatsächlichen Mechanismen der Werteprägung zu ignorieren: Nicht die Bevölkerung muss jenen Werte vorleben, die sich ihrem Schutz verpflichtet haben, sondern umgekehrt. Wer von den Menschen, auf deren Wohlergehen er einen erheblichen Einfluss hat (oder haben könnte), verlangt, sie mögen im Winter die Heizung ausschalten und sich einen Pullover mehr anziehen, und dann mit allen Mitteln seine Entschädigung und eine horrende Beamtenrente aus Steuergeldern durchsetzt, der hat jegliches Wertebewusstsein längst verloren. Wenigstens, als er untragbar geworden war, hätte Sarrazin gehen können; doch er tat es erst, als die Bundesbank ihm den Rücktritt mit einer höheren Pension schmackhaft machte, wie die Zeit berichtete. Thilo Sarrazin ist das Inbild eines ethikfreien Demagogen, der Werte predigt und Werteignoranz vorlebt. Thilo Sarrazin ist ein Blender. Thilo Sarrazin ist ein Feind der Ethik.

      Thilo Sarrazin ist letzten Endes harmlos. Denn er hat weder Werte im Angebot, noch lebt er den Menschen etwas vor, das nachzuahmen sich für sie lohnen würde. Er wird als Fußnote des Personality Marketings in die Geschichte eingehen, und das war’s dann. Folgen wird ihm niemand – wohin denn auch? Die Demokratie in Deutschland hält ein paar abgedrehte Thesen gut aus, wie Stephan Hebel in einem Leitartikel der Frankfurter Rundschau richtig feststellte.

      Die vermeintliche „Sehnsucht nach alten Werten“ nämlich, die Menschen wie er sich zunutze machen, ist ein Mythos. Dass es so etwas wie „alte Werte“ nicht gibt, zeigt sich schon allein daran, dass scheinbar niemand in der Lage ist, an ihrer Stelle „neue Werte“ auszumachen. Die Menschen wünschen sich keine „alten Werte“ zurück; sie wünschen sich einfach, dass Grundwerte endlich gelebt werden. Genau das zu tun anstatt sie heimlich auszuhöhlen wäre in einer perfekten Welt zuallererst die gesellschaftliche Verantwortung derer, die öffentlich wahrnehmbar sind; die Verantwortung der selbsternannten, und noch viel mehr die der gewählten Eliten. Es wäre die Verantwortung gewesen – ja, auch von Thilo Sarrazin.

      Nehmen Politiker und andere Amtsträger diese Verantwortung nicht wahr, finden die Menschen andere Wege, ihre Wertvorstellungen als Gemeinschaft zu leben und zu verteidigen – wenn nötig an den Scheineliten vorbei. Und das ist gut so, denn ohne diese antiautoritäre gesellschaftliche Dynamik hätten wir in Deutschland längst weit größere Probleme als Finanzkrisen oder überdimensionierte Bahnhöfe.

       Schäfchen, allein unter Wölfen

      

      Dass die Deutschen sich keineswegs scheuen, ethische Verstöße auf Instanzenseite abzustrafen, ist in aller Deutlichkeit an den Mitgliedsstatistiken der katholischen Kirche der Jahre 2009 und 2010 ablesbar. Seit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals sind im Jahr 2010 47 Prozent mehr Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten als im Jahr zuvor. Erstmals verließen 2010 innerhalb eines Jahres mehr Angehörige die katholische Kirche, als im selben Zeitraum neu getauft wurden. Das ist nicht nur ein Signal für verfehlte Kirchenpolitik; es ist ein Zeichen eines wachsenden Wertebewusstseins.

      Ein abstoßenderes Beispiel für den Missbrauch vermeintlicher moralischer Unantastbarkeit als der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ausgerechnet durch die Hüter der religiösen Moral ist nicht vorstellbar. Insbesondere gilt das im Fall führender Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft, die vehement auf die Unantastbarkeit der sexuellen Normierung ihrer Gläubigen pocht. Wo die Mehrzahl der Katholiken sich längst der Wertedynamik einer durch soziale Vernetzung und Heterogenität gekennzeichneten Gesellschaft angeschlossen und nun täglich mit der religiösen Legitimation ihrer Lebensweise zu kämpfen hat, haben die Vorbilder jener Gemeinschaft jahrzehntelang und in massenhaftem Ausmaß selbst die grundlegendsten Werte, die sie ihren Schäfchen predigen, mit Füßen getreten. Es sind keine katholischen Werte, die hier verletzt wurden; es sind grundlegende Werte der Menschlichkeit. Und es sind Werte, die nicht zuletzt in jenen Gesetzen unseres Landes verankert sind, die über alle religiösen und politischen Fragestellungen hinweg zu Recht als unantastbar

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