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ungeniert küsste er mich vor all den Leuten. Dabei wurde er fordernder und schürte das Feuer in mir gewaltig. Und auch hierbei bewies er wirklich Geschick. Es war kein schlabbriger, feuchter, ich-will-dich-vögeln-Kuss. Es war ein ästhetischer ich-will-mit-dir-Liebe-machen-Kuss. Und genauso sprach er das auch aus!

      In dieser Nacht fuhr ich nach Hause, doch schon am nächsten Tag rief ich ihn an. Er kam zu mir und sein Kuss hatte nicht zu viel versprochen, er war ein grandioser Liebhaber. Neben dieser wunderbaren Fähigkeit, brachte er noch etwas anderes in mein Leben. Er kam aus einer vollkommen anderen Welt. Durch ihn fiel mir erst richtig auf, in welch geordneten Verhältnissen ich lebte. Eigenheim und festes Arbeitsverhältnis waren ihm so fremd, wie mir Sozialhilfe und zum Frühstück einen Joint rauchen. Bevorzugt tat er dies nackt in meinem Garten. Die Nachbarn hatten was zu schauen und was ich mit zwei Scheidungen bisher nicht geschafft hatte, war jetzt besiegelt, mein Ruf war endgültig ruiniert. Klar stand ein körperliches Bedürfnis im Vordergrund, aber wir haben auch andere schöne Dinge gemeinsam gemacht. Wir waren viel draußen, oft im Wald und an Flüssen, haben Steine gesammelt und Schwemmholz heimgetragen. Wir liebten beide die Kunst und dachten uns die verrücktesten Geschichten aus.

      Mein Mitbewohner bekam davon Gott sei Dank nicht viel mit. Er meinte nur einmal: „Igor ist etwas merkwürdig, der lacht immer so verrückt! Aber im Grunde ist er ja ein ganz witziger Typ.“ Ob er das auch gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass der merkwürdig Witzige schon des Öfteren mit seiner Gitarre gespielt hatte?

      Jesus Igor war ein schräger Vogel. Er sagte einmal zu mir, dass er es unglaublich fände, dass ich mich nie beschwerte. Ich würde nie mit ihm rauchen und es trotzdem nicht an ihm kritisieren oder es ihm ausreden wollen. Daran musste ich noch oft denken, denn es stimmte nur zu Hälfte. Es machte mir tatsächlich nichts aus, dass er immer vollgedröhnt war. Ich kannte ihn nicht anders. Nichtsdestotrotz war mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass er sich ungeniert bei mir im Haus bewegte, so wie es ihm gerade gefiel. Er rüttelte stark an meinen Grenzen. Bewegten wir uns in der Natur oder liebten uns, mochte ich gerade seine unkonventionelle Art. Aber sobald wir Lebensbereiche betraten, die meinen Alltag ausmachten, fühlte ich mich unwohl. Es war, als würden sich die zwei Herzen, die in mir schlugen, gegenüberstehen. Das eine, wild und frei, tut was es gerade will. Das andere, nach Sicherheit strebend, wägt seine Schritte gut ab und ist von Vernunft geführt. Ich bewunderte seine Ungeniertheit, wollte gerne selber so sein und war doch in mir selbst gefangen. Wann immer dieser innere Konflikt auftrat, betete ich mir vor, dass es total normal sei, mit jemandem wie ihm zu verkehren und alles andere wären nur spießige und konservative Prägungen. Ich wollte so gerne die wilde, ungezügelte Abenteurerin sein und verdrängen, dass auch dieser ungeliebte Teil, der die Sicherheit brauchte, zu mir gehört.

      Johanna - wieder einmal stumm

      Blieb ich wieder einmal stumm und passte mich den Wünschen eines anderen Menschen an? Es gab eine Begebenheit in dieser Zeit, über die ich mich tatsächlich noch lange Zeit danach ärgerte. Im Grunde nicht über den Vorfall, sondern weil ich nichts gesagt habe und es versäumte, den Herrn der Schöpfung in seine Schranken zu verweisen. Ich wollte Urlaub in Irland machen und hatte die Nacht vor meinem Abflug bei Igor verbracht. Am Morgen küsste er mich zum Abschied und meinte, wenn ich in Irland jemanden kennen lernen würde und ich Sex haben wollte, dann sollte ich nicht wegen ihm darauf verzichten, er wäre nicht eifersüchtig. Was ich hätte sagen wollen, war: „Ich glaube, du tickst nicht mehr ganz richtig! Mit wem ich wann und wo Sex habe, entscheide nur ich alleine. Was glaubst du eigentlich wer du bist!“ Und den letzten Satz hätte er sich komplett sparen können. Arrogantes Arschloch! Ja, diese Worte hätte ich gerne alle aussprechen wollen. Chance verpasst und das ärgerte mich. Während dieser paar Wochen, in denen wir uns trafen, erfuhr ich einiges aus seinem Leben. Er war wegen eines Jobs nach Deutschland gekommen und hatte sich hier verliebt. Es gab auch Kinder im Ausland. Zwischenzeitlich war er arbeitslos, konnte aber für seine Holzskulpturen die Werkstatt des Noch-Ehemanns seiner Ex-Freundin benutzen. Seine Holzarbeiten waren toll. Er verwendete dafür Schwemmholz und zeigte mir die besten Sammelplätze in der Umgebung. Das war etwas, das ich unbedingt auch ausprobieren wollte. Letztendlich verschwand er dann so schnell aus meinem Leben wie er gekommen war. Wir trafen uns noch einmal, als ich von Irland zurück war. Eine laue Sommernacht, wir wollten eigentlich einen Freund von ihm besuchen. Es war schon mindestens eine Stunde später als wir eigentlich vor gehabt hatten zu fahren, trotzdem hielten wir unterwegs an einem See, weil es so eine schöne Nacht war. Wir schwammen nackt im See und liebten uns am Ufer. Bei seinem Freund sind wir nie angekommen. So war das mit Jesus-Igor, nur im Hier und Jetzt leben und was vorher oder nachher kommt, das ist vollkommen unwichtig. In dieser Nacht erzählte er mir von der Hölle seiner Kindheit und den Erlebnissen in den Straßen von Krakau. Als ich in den frühen Morgenstunden gefahren bin, war es das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Ich versuchte, noch zwei- oder dreimal ihn anzurufen, aber er reagierte nicht mehr darauf. Wieder verließ mich jemand ohne Worte. Wie bei Luca war von Anfang an in meinem Hinterkopf, dass die Beziehung nicht von Dauer sein würde und doch ist es sehr verletzend, ohne Abschied stehen gelassen zu werden. Es gibt noch etwas zu sagen zu Igor. Er mag der unzuverlässigste Mensch auf Gottes weiter Welt sein und ich kann gar nicht beurteilen, auf welchen Marihuana-Wolken er oft schwebte. Bei all dem war er aber ein hoch sensitiver Mensch mit einer unglaublichen Beobachtungsgabe. Er sah, wie angestrengt ich war, wie sehr ich an etwas festhielt. Einmal fragte er mich nach dem Liebesspiel: „Diese zwei Stirnfalten zwischen deinen Augenbrauen“, und er strich sanft mit dem Finger darüber, „sind so tief. Woher kommt das?“ Ich musste noch oft darüber nachdenken. Seitdem fällt es mir ab und zu auf, wenn ich wieder meine Stirn zusammenziehe und mich ganz besonders anstrenge. Er versicherte mir wieder und wieder, wie schön ich sei, jedes einzelne Körperteil und doch war es nicht genug. Erst mit etwas Abstand konnte ich erkennen, wie speziell und ganz besonders diese, meine höchst persönliche Begegnung mit Jesus-Igor für mich war.

      Die Art und Weise, wie es zu Ende ging, kratzte an meinem Ego, aber ich war nicht am Boden zerstört. Im Grunde hatte ich genau diesen Abgang erwartet. Und es hatte etwas Gutes. Ich konnte wieder vollkommen frei über meine Zeit verfügen. Einer der Kollegen aus dem Team auf der Almhütte hatte mir einen Kontakt zu einer Keramikerin gegeben. Ich liebe irdenes Geschirr und töpfern wollte ich schon lange einmal ausprobieren. Ich rief sie an, machte einen Termin für eine Probestunde aus und wie es der Zufall wollte, war einer Frau die Partnerin für einen Drehkurs abgesprungen und so war ich gerade richtig gekommen, um ganz kurzfristig einen der begehrten Plätze zu ergattern. Warum vergaß ich eigentlich immer wieder, welchen Spaß und wie viel Freude ich daran habe, neue Dinge auszuprobieren. Vor allem solche, die es mir ermöglichen, mit den Händen zu schaffen und mich in irgendeiner Form auszudrücken. Die Ergebnisse waren durchaus vorzeigbar. Sie waren nicht perfekt, aber sie waren meine. Mein Meisterstück war eine Butterdose. Von dieser war mein Mitbewohner so begeistert, dass er sie mir sogar abkaufen wollte. Neben der handwerklichen Tätigkeit, war meine Töpfermeisterin auch eine wirklich interessante Frau. Sie erzählte witzige Geschichten aus ihrer Zeit im Ausland. Sie hatte vor vielen Jahren zusammen mit ihrem Mann das Abenteuer gewagt, auszuwandern. Und das zu einer Zeit, als sie zwei kleine Kinder hatte und mit dem dritten schwanger war. Zudem sagte sie mir zu Beginn des Kurses, dass sie im Sommer in Rente gehen werde und ihre Werkstatt dann schließen würde. Doch Rente hieß in diesem Fall nicht, im Sessel vor dem Fernseher einzurosten, sondern das bedeutete für sie, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Sie und ihr Mann planten den nächsten Auslandsaufenthalt und deshalb würden sie in Deutschland wieder einmal alles aufgeben. Was für ein erfülltes Leben. Diese zwei Menschen hatten es geschafft, alles unter einen Hut zu bringen. Sie haben ihren Kindern immer ein stabiles Elternhaus geboten und darüber aber nicht ihre Abenteuerlust und Selbstverwirklichung vergessen. Das ist absolut bewundernswert. Ich hätte diese Frau gerne früher kennen gelernt, um mich von ihrem Vorbild inspirieren zu lassen. Spirituelle Menschen behaupten ja, alles sei immer da, man könne es aber nur dann sehen, wenn man bereit dafür ist.

      So war ich neben Malerin auch Töpferin geworden und als nächstes stand ein Schnitzkurs ins Haus. Ich war eine Vorzeige-Midlifecrisis-Frau. Ich erfüllte jedes Klischee und machte mich gerne selber darüber lustig. Insgeheim war ich mächtig stolz auf mich. Ich will ja niemanden langweilen, aber ich könnte hier auch noch von diversen Tanzworkshops oder meinen schweren Beinen nach der fünftägigen Alpenüberquerung

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