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Nordwest Bestial. Lene Levi
Читать онлайн.Название Nordwest Bestial
Год выпуска 0
isbn 9783738071702
Автор произведения Lene Levi
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Menschensohn wird seine Engel aussenden,
und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen,
die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben,
und werden sie in den Ofen werfen,
in dem das Feuer brennt.
- Matthäus 13,42
Der Augenblick an dem sich sein bewegliches Ziel nur einen kurzen Moment lang zeigte, musste ihm wie eine glückliche Fügung erschienen sein. Ein maskierter Schütze hatte Ende Oktober mit einem PSG1-Gewehr vom gegenüberliegenden Bahndamm aus auf ein geöffnetes Bürofenster der Oldenburger Polizeiinspektion gezielt. Mit nur einem einzigen Präzisionsschuss aus etwa 60 Meter Entfernung hatte das Projektil den Kopf Peter Selbys auseinandergefetzt. Das Attentat geschah direkt vor den Augen der Polizeibeamten. Natürlich lag der Verdacht nahe, dass es sich bei dem unbekannten Gewehrschützen um einen Berufskiller handeln könnte, der im Auftrag einer kriminellen Organisation tätig geworden war. Sein Job war es, einen geständigen Mörder rechtzeitig zum Schweigen zu bringen, noch bevor dieser eine belastende Aussage zu Protokoll geben könnte.
Hauptkommissar Robert Rieken bewegte sich mit seiner Hypothese auf unsicherem Terrain, aber er hatte im Augenblick keine andere Wahl. Es gab nur Wahrscheinlichkeiten, Annahmen und Spekulationen, mit denen er sich befassen konnte. Es existierte kein einziger Zeuge, der den Schützen vor, während oder nach der Tat gesehen hatte. Auch die aufgefundenen Beweismittel waren für gesicherte Erkenntnisse viel zu mickrig, nahezu unbrauchbar. Nicht einmal Indizien gab es, auf die er seine hypothetischen Erklärungsversuche hätte aufbauen, geschweige denn stützen könnte. Allein die eigene Intuition sagte ihm, dass sich dahinter das Organisierte Verbrechen verbarg.
Er hatte immer wieder versucht den Tathergang aus der Position des Schützen durchzuspielen, sowohl in seiner Phantasie als auch am Tatort selbst.
Robert stellte jede seiner Bewegungen nach. Er hob den Arm, als hätte er selbst ein Gewehr im Anschlag, legte seinen Finger an den imaginären Abzug, nahm sein Ziel ins Visier, krümmte seinen rechten Zeigefinger und drückte dann ab. Jedes Mal blickte er nach dieser Versuchsanordnung hinüber zum Fenster seines eigenen Büros. Die Jalousien waren herabgelassen; schon seit Wochen. Anschließend sah er sich jedes Mal um, ging ein paar Schritte neben dem Gleisbett entlang, blieb dann vor dem wildgewachsenen Gebüsch stehen und verharrte erneut davor, regungslos.
Die Deckung war nahezu ideal, von anderen möglichen Beobachtungspositionen aus nicht einsehbar. Aus diesem Versteck hatte der Schütze durch die Zieleinrichtung seines Gewehrs das Geschehen im Polizeigebäude im Auge behalten. Bis sich ihm diese einmalige Chance bot. Und die hatte er genutzt.
Am Ende war Robert immer wieder am gleichen Punkt angelangt. Die gesammelten Erkenntnisse konnten ihm nicht die Frage nach der Identität des Scharfschützen beantworten. Er warf erneut einen Blick hinüber zum Polizeigebäude.
Noch bevor damals die Beamten an diesem regnerischen Oktobertag die steile Böschung der Bahnanlage erklimmen konnten, war der Sniper längst von den Gleisen verschwunden und hatte nicht einmal die Patronenhülse zurückgelassen.
1
Er hatte sich nach dem Attentat zunächst für vierzehn Tage beurlauben lassen. Aber aus den vierzehn Tagen wurden drei Wochen, dann vier. Er fühlte sich irgendwie mitschuldig, obwohl er die Umstände der Vernehmung in seinem Büro gar nicht zu verantworten hatte.
All das hatte sich tief in sein Unterbewusstsein eingegraben und ließ ihn seitdem keine einzige Minute mehr los. Sein psychischer Zustand war einige Wochen lang angeschlagen gewesen und er hatte bereits ernsthaft darüber nachgedacht, den Dienst bei der Kripo zu quittieren. Aber einfach so alles hinschmeißen, war eigentlich nie sein Ding gewesen. Er hoffte, die Zeit würde ihm darüber hinweghelfen, über seine berufliche Zukunft mitentscheiden, aber diese Hoffnung stellte sich als Trugschluss heraus. Jetzt neigte sich das Jahr seinem Ende entgegen und er wollte wieder in den Dienst zurück, das war ihm soweit klar.
Robert stand am Küchenfenster und blickte gedankenversunken hinaus in den Garten. Er erinnerte sich an das, was sein alter Schulfreund Jülf ihm erzählt hatte. Dass sein Großvater, als er noch ein junger und völlig unbekannter Künstler gewesen war, einmal bei Ebbe eine Rolle mit bemalten Leinwänden hinaus ins Dangaster Tief geworfen haben soll, weil er sie für misslungene Werke gehalten hatte. Aber mit der nächsten Flut wurde alles wieder an den Strand zurückgespült. Er hatte es noch einmal versucht, aber mit dem gleichen Ergebnis. Die Bilder kamen zurück.
So ähnlich erging es ihm jetzt selbst. Er versuchte die Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zu tilgen, mit denen er glaubte, nicht fertig zu werden, aber sie tauchten, wie damals die Gemälde, immer wieder auf. Sogar jetzt in diesem Augenblick als er am Fenster stand und in den Garten sah, tauchten sie vor seinem inneren Auge auf.
Der Herbstwind hatte die Blätter und Früchte des Wallnussbaumes heruntergerissen, der im hinteren Bereich des Gartens direkt am Zaun zum Nachbargrundstück stand. Robert hatte sich schon vor Tagen vorgenommen, die Arbeit im Garten zu erledigen. Die welken Blätter mussten kompostiert werden und die Wallnüsse waren von den aufgeplatzten Fruchthülsen zu trennen, damit sie trocknen konnten.
Er zwängte sich in seine alte Jeans, die ihm viel zu eng geworden war, nahm dann anschließend seinen Neil-Young-Hut vom Küchentisch und stieg die Eisentreppe hinab, die von seinem Arbeitszimmer auf das Grundstück führte.
Als er eine Stunde später mit dem Laub fertig war, sammelte er die Wallnüsse ein, füllte sie in einen Papiersack, schleppte diesen vor das Haus und stellte ihn auf den Bürgersteig vor den Gartenzaun. Dann hängte er ein Pappschild mit der Aufschrift: »zum Mitnehmen« an den Zaunpfahl. Er war durchgeschwitzt. Brust, Achseln und Leisten fühlten sich unangenehm an. Mit zitternden Fingern nestelte er an den Knöpfen seines Hemdes. Unzufrieden über seine mangelnde Leistungsfähigkeit, fluchte er über sich selbst. Lin hatte ihm schon vor ein paar Tagen Blut abgenommen und das Röhrchen an ein Labor geschickt. Irgendetwas stimmte nicht. Sie machte sich Sorgen, aber Robert selbst hielt das für übertrieben. Er ging zurück in seine Wohnung, stellte sich kurz unter die Dusche, zog sich frische Klamotten an und machte es sich anschließend auf einem Sessel bequem. Vivaldi-Klänge schwebten durch den Raum. Die Musik schien wie aus einer anderen Welt herüber zu schallen.
Es hatte keine volle Stunde gedauert, da war der Papiersack schon fast vollständig geleert. Robert hatte von seinem Wohnzimmerfenster aus beobachtet, wie sich die Kinder, die hier jeden Tag nach Schulschluss vorbei kamen, begeistert ihre Taschen vollstopften. Auch die Briefträgerin mit den knallrotgefärbten Haaren, die jeden Tag zur gleichen Zeit mit ihrem Fahrrad die Werbachstraße entlang fuhr, hatte das Angebot entdeckt und sich ihren Teil eingesteckt. Solche kleinen und unbedeutenden Begebenheiten verursachten in ihm ein seltsam anmutendes Glücksgefühl.
Als er der Polizeipsychologin am nächsten Tag davon erzählte, machte sie sich nur flüchtige Notizen, nickte allwissend, als hätte sie tatsächlich etwas von dem verstanden, was er meinte, dabei sah sie ihn mit seitlich geneigter Kopfhaltung an. Natürlich hatte sie nicht die leiseste Ahnung, was sich wirklich in seinem Innersten abspielte, stellte aber unentwegt Fragen und er musste vor ihr sein Berufsleben ausbreiten.
Robert kam ursprünglich aus Ostfriesland. Bei der Oldenburger Polizei hatte er vor Jahrzehnten seine Beamtenlaufbahn begonnen, doch irgendwann hatte er es in der Provinz nicht mehr ausgehalten. Es zog ihn damals vielmehr in die Großstädte, denn er wollte beruflich etwas erreichen. Etwas, dass ihm einst in dieser verschlafenen Stadt, in der scheinbar jeder jeden kannte, nicht möglich erschien und von dem er selbst nicht mal genau wusste, was es eigentlich war. Doch als er nach seiner Versetzung in Berlin den Dienst antrat, zerplatzte auch dort sein Traum von einer gerechteren Welt. Auch in Berlin wurde nur mit Wasser gekocht. Vor allem aber ging es in der Großstadt wesentlich härter zu, und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. Es herrschte