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Farben hatten sie ihm diesen Beruf geschildert, ohne Eberhard wirklich begeistern zu können. Und nun meinte Hanna, sich an eine Dissonanz zu erinnern. Furchen auf Eberhards Stirn, angestrengte Augen, gehetzter Atem.

      Doch dann sagte der Vater: »Stell dir vor, Eberhard, der Sohn des einfachen Dachdeckers wird Arzt. Alle Welt wird mich beneiden, alle werden an uns hochschauen.«

      Eine eisige Faust schloss sich um Hannas Hals und drohte, sie zu ersticken. »Aber ... aber«, krächzte sie, »dann wolltest du nie Arzt werden!«

      »Nein!«, sagte Eberhard leise. »Nein!«, wiederholte er lauter und »Nein!«, schrie er hinaus und erhob sich. »Ich hasse es, Mäuse zu sezieren, Frösche bei lebendigem Leib auseinanderzunehmen. Ich hasse Blut, hasse Wunden, ich hasse Krankheit und ich hasse den Tod.« Sein Schreien brachte Hanna ins Wanken. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht und totenblass suchte sie Halt an einem Sessel.

      »Du brauchst kein Geld mehr für dieses gottverdammte Studium ausgeben. Ich geh nicht mehr hin. Es ist vorbei!« Nun stand er stramm wie ein Soldat beim Empfang eines Staatspräsidenten und verstummte.

      Hanna sank in den Sessel, schluckte und stotterte Worte, die Eberhard nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Als ihr Jammern nachließ und sie nur noch apathisch fragte, was er denn stattdessen habe studieren wollen, machte Eberhard wieder den Mund auf.

      »Musik. Ich möchte Lieder komponieren und sie vortragen.«

      »Musik? Warum denn Musik? Wir sind alle unmusikalisch und niemand in der Familie spielt ein Instrument. Ich wäre nie darauf gekommen.«

      Und wieder fing Eberhard an zu schreien. Genau, das sei es ja. Sie habe den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie kenne ihn nicht, wisse nichts von seinen Wünschen, nichts von seinen Sehnsüchten.

      Das war sein letzter Satz. Danach ging er aus dem Haus und kam vor dem Morgengrauen nicht wieder.

      Lange saß Hanna im Sessel und überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Schlagartig war ihr klar geworden, dass sie nicht nur ihren Mann, sondern auch ihren Sohn verloren hatte.

      Am nächsten Morgen, als Eberhard zurückkam, saß sie immer noch da. Mit starrem Blick und bleichen Wangen. Sie sah, wie Eberhard mit einem Rucksack an ihr vorbeiging und sich verabschiedete.

      Sie saß noch immer in der gleichen Haltung, als er rief: »Mach dir keine Sorgen um mich, Mutter. Denke lieber an dich statt an mich, und ich denke auch an mich.«

      Die Tür fiel ins Schloss.

      Sechs Jahre später

      Es regnete, der Wind trieb feuchte Blätter in die Bahnhofshalle. Es war ein früher Herbstmorgen. Grau blickte der Himmel auf den kleinen Bahnhof herab. Im Innern gab es zwei Schalter und eine lange, dicht an die Wand gedrängte Bank. Auf dieser lag mit geschlossenen Augen ein Obdachloser. Sein Mantel war zerrissen, seine Schuhe durchlöchert, die Hände, die eine Flasche hielten, gerötet und rau.

      Eine ältere Dame eilte zielstrebig auf einen der Schalter zu. Bevor sie ihn erreichte, stockte ihr Schritt und ihr Kopf wandte sich dem Obdachlosen zu. Sie runzelte die Stirn, näherte sich ihm, blickte ihm direkt ins Gesicht und sagte: »Eberhard?«

      Der Obdachlose öffnete die Augen und sah die ältere Dame an. Ein Strahlen erhellte sein schmutziges Gesicht. Er reckte sich, wollte sich hochrappeln, sank aber sofort wieder zurück. Dann antwortete er freudig: »Tante Magda? Bist du es?«

      »Ja, ich bin es. Aber bist du es?«

      »Ja, ich bin es. Wie geht es Mutter?«

      »Liebe Güte, Eberhard, was ist aus dir geworden?

      »Das siehst du doch.« Endlich richtete sich Eberhard auf.

      Tante Magda setzte sich neben ihn.

      Eberhard grinste sie an. »Ja, ich sollte Arzt werden, wollte Musiker werden und wurde: das hier!« Er griff sich in die Haare, ins Gesicht, strich über seinen alten Mantel, zeigte auf die Schuhe.

      »Oh, Eberhard! Wie entsetzlich traurig ist das. Deine Eltern waren die glücklichsten Menschen, als du auf die Welt kamst. Wenn sie wüssten, was aus dir geworden ist, sie würden sich im …« Magda drückte die Hand auf die Lippen.

      »Mutter ist also tot?«

      Die ältere Dame nickte und erzählte ihm, was passiert war.

      Anfangs habe sie nicht gewusst, dass er einfach davongelaufen sei. Irgendwann habe sie Hanna in der Stadt getroffen und von ihr alles erfahren. Dabei habe sie die Hälfte nicht verstanden, so heftig habe diese geschluchzt und geweint. Ihr Zustand sei ihr sonderbar vorgekommen und sie habe Hanna hin und wieder besucht. Da diese aber immer eigenartiger wurde, nicht mehr zur Arbeit ging und auch das Haus vergammeln ließ, musste etwas getan werden.

      »Als ich merkte, dass sie kaum noch ansprechbar war und nicht auf mich reagierte, habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit sie in ein betreutes Wohnen kam. Dazu musste natürlich das Haus verkauft werden.«

      »Und nun?« Eberhard hatte sich ganz aufgerichtet und blickte Magda mit traurigen Augen an.

      »Nun, eine Weile hielt sie es durch …« Magda machte eine Pause und verzog schmerzlich das Gesicht, bevor sie den nächsten Satz sprach. »Dann brach ihr wohl endgültig das Herz. Wir wissen nicht, wie sie an die vielen Schlaftabletten gekommen ist, jedenfalls hat sie sich, erst vor drei Wochen übrigens, das Leben genommen.«

      Eberhard schoss hoch. Seine Augen quollen hervor, auf seiner Stirn glänzte Schweiß und seine Lippen zitterten, als es mühsam aus ihm herausbrach: »Was? Sie ist keines natürlichen Todes gestorben? Sie besitzt die Frechheit, sich das Leben zu nehmen. Zuerst haben sie über mein Leben bestimmt, so dass ich nicht wusste, was ich selbst will. Und dann sterben sie, ohne mir eine Chance auf ein neues Leben zu geben.«

      Aus Magdas Gesicht war alle Farbe gewichen. Auch sie hatte nun Mühe, ihren Satz hervorzubringen: »Wie kannst du nur so ungerecht sein!« Sie stand auf. »Dein Vater konnte für seinen Tod nichts. Er hat dich geliebt wie sonst nichts auf der Welt. Ich erinnere mich noch, mit welchem Stolz er in deine Wiege blickte. Mein Sohn, mein wunderbarer Sohn, hat er geflüstert und dich sanft gestreichelt.«

      In Magdas Augen standen Tränen. Doch Eberhard stimmte ihre Regung keineswegs milde. Sie brachte ihn noch mehr auf. »Mein Sohn, mein Sohn! Ja, ja, aber irgendwann lag ich nicht mehr in der Wiege und sollte ein eigenständiger Mensch werden, was mir nie gelungen ist, weil sie mir meinen Lebensweg vorgeschrieben haben.«

      »Ach was! Du hattest doch einen Kopf und einen Mund, um dich zur Wehr zu setzen. Du bist nichts weiter als ein Idiot. Wenn du noch ein bisschen Grips im Schädel hast, dann geh aufs Rathaus, weise dich als der Sohn von Hanna und Bernd Pross aus, damit du wenigstens ans Erbe kommst. Mit dem, was vom Hausverkauf übriggeblieben ist, kannst du dir vielleicht das Leben aufbauen, von dem du immer geträumt hast.« Erbost über sein egoistisches Betragen stand Magda rasch auf und strebte zum Schalter.

      Müde beobachtete Eberhard, wie sie ein Ticket kaufte, ohne sich nach ihm umzudrehen, zu den Gleisen hinausging und aus seinem Blickfeld verschwand.

      Er sank zurück auf die Bank. Irgendetwas war anders als vor einer Stunde. Er hatte das Gefühl, dass sich seine trägen Arme und Beine mit frischem Blut füllten. Unwillkürlich griff er in die Innentasche seiner abgegriffenen Jacke. Natürlich, da war sein Pass. Da steckte seine formale Identität. Sollte er nicht auf Magdas Ratschlag hören? So wie er aussah, würde ihm keiner glauben, aber dem Pass würden sie glauben. Und vielleicht könnte er doch noch in ein richtiges Leben starten.

       Fin

      Erika und Renate

      Erika und Renate waren beide zehn Jahre und einige Monate alt, als sie der Klassenlehrer nebeneinandersetzte. Die blasse, schüchterne Renate kam aus der Großstadt, trug einen karierten Rock, das dazu passende Jäckchen und Stadtschuhe. Ihre Wimpern waren fast unsichtbar, ihre Lippen farblos, ihre Augen von einem wässrigen Blau. Sie redete wenig, lachte aber oft und über jede Belanglosigkeit. Daran störten sich ihre Kameradinnen und wandten sich ab, denn zu alledem trug Renate

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