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Sie glaubt, dass es ein Proteingetränk ist. Ich gehe jetzt trainieren. Es ist 6 Uhr 30, ich gehe um 6 Uhr 30 trainieren. Corinna löscht die Aufnahme. Sie läuft durch den langgestreckten Flur in das hintere Zimmer. Die Bettdecke liegt zerwühlt auf der Matratze, Rock und Lacklederstiefel liegen daneben. Sie tastet nach der Kuhle, in der Konrad gelegen hat, findet Katzenhaare, warum haben Katzen diese Haare überall, Kernobst gibt es auch ohne Kerne, den Samen ohne Mann. Sie stellt sich auf das Laufband, macht eine paar Schritte und spürt den Widerstand der Rolle. In der Hasenheide war sie nicht mehr joggen, seit der Mann ihr den Hund vorgestellt hat. Gnädiges Fräulein, mein kleiner Freund hier heißt Klitschko ... Ihre Schritte werden schneller, der Widerstand der Rolle verstärkt sich. Sie sollte sich Schuhe anziehen. Klitschko würde Ihnen gern ein Plätzchen zeigen, gnädiges Fräulein, schön lauschig und nicht weit von hier ... Ihre nackten Füße hämmern auf das Band ein. Sie sollte in den Rhythmus finden. Er würde sich wünschen, dass Sie vorangehen, gnädiges Fräulein, hier geht es lang ... Ihr Blut rast durch den Körper, sie fällt in Schritttempo zurück, starrt auf die Füße, die auf der Stelle treten. Schweiß tropft auf das Band und rollt an ihr vorbei und taucht wieder auf, mehr Schweiß, sie zieht nochmal an, noch mehr Schweiß, sie zieht an, bis die Lunge nichts mehr hergibt. Das Blut rast, das Herz rast, Band und Füße stehen still. Sie wird rausgehen und joggen, sobald die Sache vorbei ist, mit den richtigen Schuhen und dem richtigen Rhythmus, und dann wird sie mit Julia die Wohnung teilen, und die Schwester wird sie nie wieder erwähnen. Konrad, wo ist Konrad? Sie wechselt in den ungenutzten Raum mit der Katzenklappe im Fenster. Die Klappe ist nach außen geschoben. Also ist der Kater unterwegs und wird sich sein Essen von den Resten des Restaurants holen, das mit ihr den Hinterhof teilt. Sie duscht sich den Schweiß vom Körper, räumt die Weinflasche weg und stellt das Glas in die Spüle. Der Dielenboden in der Wohnküche bewegt sich unter ihren Füßen. Sie mag die Bewegung, und sie mag das Geräusch, das das Holz dabei macht. An dem Küchentisch haben sie vor einem Monat Canasta gespielt. Sie sieht aus dem Fenster. Der Asphalt verliert sich Richtung Hasenheide im Nebel. Die Feuchtigkeit hat sich auf den parkenden Autos niedergeschlagen. Die Gehsteige sind verlassen. Die Stadt wartet darauf, dass der Nebel sich auflöst.

      Sie zieht eine Jogginghose an, Kapuzenpullover, eine leichte Jacke und feste Schuhe. Am Görlitzer Bahnhof steigt sie in die U-Bahn. Sie entdeckt das Fenster sofort. Die Sonne hat ein Loch in die Nebeldecke gerissen, spiegelt sich im Glas und verhindert so den Blick in das Zimmer. Sie steigt am Kottbusser Tor aus, trinkt Kaffee, isst ein Croissant und sieht sich in einem Buchladen um. Dann macht sie weiter. Die Sonne steht jetzt so, dass sie sich nicht mehr im Fenster spiegelt. Das Fenster hüpft an ihr vorbei, sie kann das Innere des Zimmers erahnen. Beim zweiten Mal sieht sie die Tür. Dann die Matratze, und schließlich sein Bein, das von der Matratze auf den Boden fällt. Sie haben ihn noch nicht entdeckt. Das ist gut. Die Mutter hat ihn noch nicht weggeschafft. Das ist schlecht. Sie fährt die Strecke nochmal. Sieht: Matratze, Oberkörper, Zimmertür. Dass das Bein jetzt anders liegt, das sieht sie nicht.

      Mit den Sonnenstrahlen tanzt der Staub durch ihre Wohnung. Vor einem Monat, da hätte sie mitgetanzt. Heute tanzt sie nicht mit. Denn der Rest des Lebens ist ein Trauerspiel. Sie bewegt sich langsam. Sieht Löcher in den Dielen. Bückt sich. Tastet nach Projektilen. Findet keine Projektile. Geht von Zimmer zu Zimmer. Die Dielen knarzen. Es klingelt. Durch den Spion sieht sie Julia. Die Freundin schneidet Grimassen. Sie macht einen Spaltbreit auf.

      „Geht es dir gut?“ Corinna antwortet nicht. „Du siehst irgendwie gut aus, nein, nicht irgendwie, einfach gut, wie machst du das bloß?“ Julia trägt Ausgehkleidung. Einen knielangen Rock, Stiefeletten, Lederjacke, Makeup. Der Rock ist mit bunten Motiven bedruckt: Blumen, Sonnen, Tauben, Obst. Ein selbstgestrickter Schal verdeckt das Kinn. Auf der Nase, die Julia für zu klein und Corinna für gerade richtig hält, sitzt eine John-Lennon-Brille mit beschlagenen, rosaroten Gläsern. Das Haar ist hochgesteckt. Corinna macht keine Anstalten, die Freundin in die Wohnung zu lassen. Julia zieht den Schal vom Kinn. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

      „Hippies kennen keine Sorgen.“

      Julia nimmt die Brille ab und putzt die Gläser mit dem Schal. „Selbstgestrickt, von einer Freundin.“

      „Der zerkratzt das gute Glas tut der, ja weißt du denn gar nichts.“ Corinna hat schlechte Laune.

      „Früher, da hat eine Frau gestrickt, weil die Familie etwas zum Anziehen brauchte.“

      „Ja“, sagt Corinna, „früher, und jetzt?“

      „Jetzt strickt man Geschenke.“

      „Dann strick sie dir doch, deine Freunde, oder verschwinde nach früher.“ Corinna geht in die Küche. Julia folgt ihr. Sie legt den Schal zusammen. „Was zählt, sind Gefühle.“

      „Gefühle täuschen. Und dann haben sie dich am Wickel.“

      „Was ist mit deinem Zeigefinger?“

      „Ein Bluterguss, und jetzt?“

      „Bluterguss.“ Julias Blick sucht den der Freundin. „Manchmal sind wir wie die Kinder, und wenn wir alles kaputtgeschlagen haben, dann stehen wir vor dem Scherbenhaufen und müssen uns wie Erwachsene benehmen.“ Sie versucht ein Lächeln. „Man muss aufeinander zugehen, wenn man sich näherkommen will.“ Corinna nimmt einen Kerzenständer und macht sich daran, das Wachs aus dem Boden zu puhlen. „Es ist für mein Studium. Drei Männer für mein Studium. Und der Bluterguss kommt von der Fahrradbremse.“

      „Fahrradbremse.“ Julia deutet auf den Tisch. „Da haben wir Canasta gespielt.“

      „Ich bin eine schlechte Verliererin.“

      Julia steht auf und schenkt sich ein Glas Wasser ein. Sie sieht das leere Weinglas. „Du trinkst allein.“

      „Konrad leistet mir Gesellschaft.“

      „Du hast heute Morgen nicht einmal gewusst, wo Konrad ist.“ Julia trinkt das Glas leer und stellt es mit einer heftigen Bewegung auf den Tisch. „Und mit dieser Puhlerei ruinierst du dir die Fingernägel. Also?“

       „Matrosen, und mit einem bin ich gestern mit, also was?“ Corinna greift sich die Handtasche und läuft aus der Wohnung. Julia hat Mühe, aufzuschließen. „Matrosen? Jessas! Drei Matrosen?“ Corinna bleibt stehen. Julia läuft auf, verliert den Schal, lacht, legt Corinna eine Hand auf die Schulter. „Ich habe ihn selber gestrickt.“

      „Was?!“

      „Den Schal, ich habe ihn selber gestrickt. Für mich.“

      Corinna schüttelt die Hand ab. „Du hältst Abstand, und im Restaurant, da kennen wir uns nicht.“ Sie geht weiter. Julia folgt ihr. Am Kanal kommt der Schnee. Die Flocken schmelzen auf dem Boden, der nicht kalt genug ist, um die Eiskristalle zu halten. Aber in der Luft, da sind sie schön anzusehen. Corinna zieht den Mantel enger an den Körper und hält sich unter den Bäumen. Sie hat keine Augen für Dinge, die schön anzusehen sind. Sie biegt in die Manteuffelstraße ein. Der Schneefall wird stärker. Sie stellt sich unter und überlegt, wie sie es anstellen soll. Ein Lastwagen mit Schrott auf der Ladefläche macht mächtig Lärm. Das Kopfsteinpflaster ist feucht und glänzt im Lichtkegel, den die Scheinwerfer vor sich herschieben. Hinter dem Lastwagen hängt ein PKW und setzt zum Überholen an.

      Offensiv, entscheidet sie, du gehst die Sache offensiv an, denn wenn du es nicht tust, wirst du in die Ecke gedrängt, und da fliegt dir dann alles um die Ohren. Der PKW überholt. Sie wechselt die Straßenseite. Ein Hund schnappt nach den Schneeflocken. Das Mädchen, das den Hund an der Leine führt, macht es ihm nach. Neben dem Mädchen läuft die Freundin und macht ein Video. Corinna stößt die Tür zum Radieschen auf und geht auf die Bar zu, an der Schleyer mit zwei Männern steht. Sie erkennt die beiden genauso wenig, wie sie Sailor oder Schleyer erkannt hat, aber die Clowns in den Männern, die sind nicht zu übersehen, und wenn die beiden mit dreizehn ähnlich komisch ausgesehen haben, dann muss es für sie ein Leichtes gewesen sein, die Marktbesucher abzulenken. Der eine hat einen ausladenden, kahlgeschorenen Kopf, der auf einem mageren, hochgeschossenen Körper sitzt, selbst der Hals ist mager, mit einem vorspringendem Adamsapfel, aber am Kopf, da ist alles sehr fleischig geraten, die Nase, die Lippen, die Backen, die Augäpfel quellen hervor, ja

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