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und die Stadt mit eigenen Augen sehen, statt ständig von Chyrrta umgeben zu sein, die mir die Sicht auf diese herrlichen Gebäude und das alltägliche Leben hier verwehren.«

      »Das verstehe ich. Ich wünsche dir, dass dieser Plan gelingt, aber ich bezweifle es. Tritam ist wirklich eindrucksvoll. Du wolltest wissen, warum ich hier bin und wie es den Bewohnern von Lam Olhana erging?« Kyla nickte. »Unser Dorf hat sich sehr verändert, seit du es zuletzt gesehen hast. Dank der Unterstützung der Reiter, die du mir geschickt hattest, konnten wir uns lange Zeit gegen die Eindringlinge zur Wehr setzen. Doch schließlich war unser Dorf nur eines unter vielen, die ständig aufs Neue den Ansturm der Feinde erdulden mussten. Ich will nicht klagen, dass schließlich immer weniger Unterstützer vom Palast ausgesandt wurden. Auch in den anderen Ortschaften bangten die Chyrrta um ihr Leben.

      Als unsere Mauer schließlich fiel, hatte ich bereits die Taschen gepackt und für mich, meine Frau und Zindra – unsere Tochter – Pferde besorgt. Wir ritten davon, während Lam Olhana in Flammen aufging. Alles, was ich viele Jahreszeitläufe hindurch beschützt hatte, verschwand unter der grenzenlosen Gewalt der Eindringlinge. Während wir durch die Wälder ritten – einem unbekannten Ziel entgegen – brach eine ganze Reiterarmee der Herrscherin durch den Wald. Sie kamen zu spät, um unser Dorf zu schützen, aber sie töteten wohl jeden, der von der anderen Seite der Undurchdringlichen Mauern kam. Ich hörte, das zerstörte Bauwerk wurde nicht nur repariert, sondern auch mit einer ganzen Menge tödlicher Fallen versehen.

      Der Ort, an dem sich einst mein Heimatdorf befand, ist nun eine unpassierbare Todeszone. Wir konnten nicht mehr dorthin zurück. Also nahm ich all meinen Mut zusammen und brachte meine Frau und meine Tochter hierher nach Tritam. Es gab eine Anfrage im Palast, ob ich mir ein Leben hier verdient hätte – Herrscherin Paraila stimmte zu, und so wurden meine Familie und ich aufgenommen. Hat sie dir nie von dieser Anfrage erzählt?«

      Kyla schüttelte den Kopf. »Nein, sie spricht mit mir meist nur über Dinge, die mich direkt etwas angehen – deine Umsiedlung gehörte ihrer Ansicht nach wohl nicht dazu.«

      »Vermutlich war ihr nicht klar, wie wichtig wir damals füreinander waren. Und, um ehrlich zu sein, muss sie das auch nicht wissen. Ihr war bewusst, dass ich ein Wächter war, der sein Dorf lange Zeit geschützt hatte – lange genug, um mir ein Leben in der Sicherheit der Stadt zu erarbeiten. Und ich bin sehr dankbar dafür, denn meine kleine Familie ist hier sehr glücklich. Ich habe die Überwachung der Wasserstellen übernommen. Allerdings bin ich längst nicht der einzige, der ein Auge auf die Brunnen und Tanks hat. Die Gefahr, dass jemand sich daran zu schaffen macht, scheint mir eher gering zu sein. Dennoch nehme ich meine Aufgabe natürlich ernst«, erläuterte er rasch.

      Kyla nickte, denn sie war überzeugt, dass er auch hier stets wachsam war. Sie gönnte ihm dieses neue Leben. Es musste schwer sein, alles zu verlieren und neu anzufangen. Zwangsläufig kam ihr Quyntyr in den Sinn. Auch er hatte ein neues Leben begonnen, und sie fragte sich, ob er es freiwillig getan hatte, wie Paraila glaubte. Vielleicht war er wirklich ein Verräter, der alles von langer Hand geplant hatte. Doch Kyla wurde den Verdacht nicht los, dass er nur gegangen war, weil sie ihn gezwungen hatte, sie vor Zeugen zur Frau zu machen.

      Dass ihr Befehl ihn wirklich verletzt hatte, hatte sie ihm ansehen können. Und dass er ihre langjährige Freundschaft aufgekündigt hatte, sprach ebenfalls dafür, dass er den Palast wegen dieses Vorfalls verlassen hatte. Es musste eine Katastrophe für ihn gewesen sein, zu begreifen, dass er seine angebetete Paraila niemals für sich würde erwärmen können. Natürlich hatte er vorgegeben, das längst zu wissen, aber der Funke Hoffnung war wohl nie erloschen – bis Kyla ihn dazu gezwungen hatte. Zumindest musste es ihm so vorkommen, als habe sie endgültig einen Schlussstrich unter die Möglichkeit gezogen, dass Paraila ihn irgendwann erwählen könnte. Denn natürlich hätte die Herrscherin niemals einen Mann gewählt, mit dem Kyla sich bereits vereinigt hatte. Dass sie Quyntyr aber ohnehin niemals erwählt hätte, war Kyla klar geworden, als sie Parailas Hass auf ihn gespürt hatte.

      Paraila hatte Quyntyr schon immer argwöhnisch betrachtet und seine Anwesenheit im Palast nur geduldet, weil ihre Mutter es einst so entschieden hatte. Dass er sich jetzt in ihren Augen als Feind entpuppte, war wohl ihrer schwelenden Unzufriedenheit über die Situation geschuldet. Und nun wollte sie ihn sogar in aller Öffentlichkeit hinrichten lassen.

      Kyla war der Gedanke ein Gräuel, denn Quyntyr hatte bereits ein Leben voller Qualen hinter sich, und ihn so enden zu sehen, war ihr unerträglich. Aber was, wenn die Herrscherin recht hatte und durch sein Zutun viele Chyrrta ihr Leben verloren hatten? Sie würde es herausfinden müssen. Das schlechte Gewissen begann sich zu regen, als sie sich eingestehen musste, dass sie besser sofort zum Berg Ultay geritten wäre. Doch wenn sie es getan hätte, ohne sich zuvor – wie von Paraila befohlen – in Tritam blicken zu lassen, wäre der Herrscherin sofort klar gewesen, dass Kyla mehr wusste, als sie ihr gesagt hatte. Ihr Gewissen beruhigte sich wieder. Was machten schon ein oder zwei Tage Verzögerung aus? Quyntyr würde ja auf sie warten. Sie musste einfach sichergehen, dass Paraila glaubte, sie habe die Spur zu ihm erst hier gefunden, nicht bereits im Palast, in seinen Räumen, als sie seine Nachricht gelesen hatte. Immerhin hatte Quyntyr darin angekündigt, ihr weit mehr über ihre Vergangenheit mitteilen zu können, als sie bislang erfahren hatte. Es war also eine ganz persönliche Angelegenheit, dass sie seinen Aufenthaltsort nicht preisgeben wollte, bevor er die Möglichkeit fand, ihr zu sagen, was er angekündigt hatte.

      »Ich habe dich nun lange genug aufgehalten. Es war schön, dich wiederzusehen. Ich wünsche dir, dass du noch mehr schöne Erinnerungen sammeln kannst, damit du einen Ausgleich zu den Schlachten findest, die du schlagen musst.« Lopal erhob sich und legte ein paar Münzen auf den Tisch. »Nein, lass! Ich möchte bezahlen.« Er zögerte kurz, dann steckte er sein Geld wieder ein. »Mutig, schön und auch noch großzügig – du solltest den besten Mann in ganz Chyrrta bekommen, denn jeder andere wäre zu wenig für dich.«

      Kyla wusste nicht recht, wie sie mit seinem Wunsch umgehen sollte; sie murmelte einen unsicheren Dank. Als er sich zum Gehen wandte, legte sie eine bei weitem ausreichende Menge Münzen auf den Tisch und brach ebenfalls auf. Das Tageslicht blendete sie, als sie auf die Straße trat, denn im Schankraum war es wirklich recht düster gewesen. Kyla fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr. Das Gespräch mit Lopal hatte ihr gut getan, und der ganze Tag lag noch vor ihr. Da sie den Mut aufgebracht hatte, unhöflich zu sein, drohte auch nicht ein erzwungenes Abendessen in großer Gesellschaft ihr die Laune zu verderben. Kyla ging zur ‘Kriegerin der grünen Wasser’ zurück, jedoch nur, um sich zu vergewissern, dass es Golan gut ging und er bestens versorgt wurde. Sie streichelte dem Tier den Hals und sagte: »Ruh dich noch ein wenig aus. Wir haben einen beschwerlichen Weg vor uns. Ich werde die Stadt zu Fuß erkunden. Vor Anbruch der Nacht reiten wir los, dann erreichen wir das gefährliche Ödland, wenn das Tageslicht anbricht und uns einen besseren Überblick bietet. Wir werden uns dann am Abend nach einem sicheren Lager umsehen. Ja, ich denke, so wird es besser sein, als wenn wir bei einsetzender Dunkelheit in die tückischen Gebiete kommen.«

      Golan schien dazu keine besondere Meinung zu haben. Kyla streichelte ihm noch einmal den Hals und verließ dann den Stall. Nur wenige Augenblicke später stand sie im Getümmel des Marktplatzes. Sie tastete mit einer Hand nach ihrem Münzbeutel und mit der anderen nach ihrem Messer. In dieser Menschenmenge musste sie sich einfach versichern, dass sie auf alles vorbereitet war. Sie ging langsam an den Ständen vorbei und betrachtete die angebotenen Waren.

      Ab und zu blieb sie stehen und erwarb etwas, das sie für ihre Reise benötigen würde: Nahrungsmittel, neue Stiefel, Flickzeug, zusätzliche Behälter für Wasser, ein Tongefäß und ein Armband für Lanari. Das Schmuckstück war aus kunstvoll geschliffenen grünen Steinen gefertigt. Es leuchtete im Sonnenschein so hübsch, dass Kyla davon völlig hingerissen war. Für sich selbst wollte sie aber keines kaufen, denn sie hatte ohnehin keine Gelegenheit, es zu tragen. Für Lanari schien es ihr jedoch wie gemacht. Ebenso wie der hübsche Schal, den sie für die Freundin gekauft hatte. Kyla musste die Traurigkeit verdrängen, als ihr einfiel, dass sie nicht einmal absehen konnte, wann sie Lanari ihre Geschenke überreichen würde. Nur zu gerne hätte sie die Tochter ihrer Dienerin, die ihr so viel bedeutete, an diesem Abenteuer in Tritam teilhaben lassen. Aber natürlich war das nicht möglich gewesen, denn unmittelbar im Anschluss an den Besuch in der Stadt musste Kyla sich

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