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29. Januar 2010. Pier Becker
Читать онлайн.Название 29. Januar 2010
Год выпуска 0
isbn 9783844240146
Автор произведения Pier Becker
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als sie den Vaio anschaltete, bemerkte sie sofort, dass auch das Internet gerade nicht funktionierte. Merkwürdig!
Allerdings hatte sie am Vorabend bereits cnn.com aufgerufen, und die zu jenem Zeitpunkt aktuellen Schlagzeilen flimmerten immer noch über den Bildschirm.
Das erste Bild, das Kim erblickte, ließ sie erschaudern. Es zeigte, wie drei ausgewachsene Männer, einer davon in Militäruniform, zwei Jugendliche in einer College-Uniform mit Äxten regelrecht in Stücke rissen. Die Gesichter der Mörder waren zu wütenden und entschlossenen Fratzen verzerrt. Sie waren unterschiedlichen Alters, Hautfarbe und sozialer Herkunft. Diese Szene spielte sich nicht in irgendeiner Bananenrepublik ab, sondern, wie die dazugehörige Schlagzeile betonte, in Boston, Massachusetts, Vereinigte Staaten von Amerika. Solche brutalen Bilder wurden für gewöhnlich nicht auf CNN gezeigt. Kim wurde übel. Die Angst in den Augen der Opfer, während sie starben, war ihnen genau anzusehen.
Ein anderes Bild zeigte tausende von wütenden und bewaffneten Japanern, die auf ein Gebäude vorrückten, das wie ein Regierungsbau aussah.
Darunter stand in dicken Buchstaben: „Putschversuch in Tokio“. Auch hier waren die vielen Beteiligten Menschen verschiedenen Alters und Herkunft, und auch hier gab es wieder Uniformen unter den Putschisten.
Eine andere Schlagzeile besagte, dass in Melbourne am selben Morgen der Notstand ausgerufen worden war und die Regierung geschlossen geflohen war, um dem sicheren Tod zu entgehen.
In Afrika schien das totale Chaos zu herrschen, aber es gab keine Bilder oder nähere Informationen darüber.
Im mittleren Osten brannten mehrere Ölfelder, davon gab es auch ein Bild. Kim konnte in den Feuern mehrere Menschen erkennen, die am lebendigen Leib verbrannten. Die Schlagzeile darüber verkündete, dass es diesmal in der bekannten Krisenregion dermaßen ‚brannte’, dass ein Löschen dieses ‚Feuers’ auf Jahrzehnte unmöglich erschien.
Kim war entsetzt. Wie konnte all dies an nur einem einzigen Tag geschehen sein? War das alles vielleicht ein schlechter Witz von irgendeinem Hacker, der sich einen kranken Spaß daraus machte, andere im Internet zu erschrecken?
Nein, der Bericht ihrer Mutter, die im Übrigen noch nicht angerufen hatte, sowie der Strom-, Handynetz- und Internetausfall sprachen leider sehr für die Authentizität dieser Berichte, die Kim nun so gnadenlos vor Augen hatte.
Sie scrollte weiter auf der Webseite hinunter und sah noch mehr markerschütternde Schlagzeilen und Bilder von Aufständen, Massenmorden, Bränden, umgestürzten und zerstörten Gebäuden und Bauten, die Kim fast alle kannte. Betroffen waren unter anderem der Berliner Reichstag, der Eiffelturm, die Freiheitsstatue, die brennenden Petronas-Türme in Kuala Lumpur und viele mehr. Kim erschauderte erneut.
Weiter unten entdeckte sie einen Bericht von einem CNN-Reporter, der, wie auch immer, errechnet hatte, dass bereits fünfhundert bis achthundert Millionen Menschen alleine am 29. Januar bis 17.00 Uhr Greenwichzeit weltweit ums Leben gekommen waren.
Kim war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Das Zimmer um sie herum drehte sich, als sie die nächste Überschrift las: „ Mob rückt auf Davos in der Schweiz vor, um die Schuldigen der größten Krise aller Zeiten alle zusammen auf einen Schlag zur Verantwortung zu ziehen – die Anführerin berichtet!“ Kim lief der Schweiß kalt den Rücken herunter.
Darunter war ein kleines Bild zu sehen, das eine überaus stolz und entschlossen wirkende Frau zeigte, deren Gesicht furchterregend entstellt war. Sie war so um die fünfunddreißig Jahre alt, gut durchtrainiert und hatte einen nagelneuen Kampfanzug. Kim schaute, inzwischen fassungslos und unter Schock, genauer hin und sah irgendwelche fremdartigen Abzeichen auf ihrer Uniform, die sie vorher nie gesehen hatte. Die Soldatin wirkte überhaupt nicht verrückt oder kriminell, sondern strahlte eine Befehlsgewalt und eine Entschlossenheit aus, die Kim in ihrem Leben bei einer Frau noch nie gesehen hatte.
Als sie genauer hinsah, entdeckte sie oberhalb der Brusttasche der Frau Buchstaben, die sie ebenfalls nicht erkannte. Da waren allerdings auch zwei ‚A’ und ein umgedrehtes ‚N’. Kim vermutete, dass es sich um kyrillische Buchstaben handelte.
Jetzt hielt sie nichts mehr auf ihrem Stuhl vor dem Computer. Kim sprang auf, zog sich in Windeseile an und schnappte sich noch schnell das Hightech Zeiss-Fernglas ihres Vaters, das dieser immer in der Kommode in der Ecke aufbewahrte.
Draußen angekommen, spähte sie durchs Glas in die Schluchten. Die Welt unter ihr schien völlig in Ordnung. Keine wütenden und mordenden Meuten, keine Brände, keine Zerstörung. Sie konnte St. Moritz von ihrer Position aus nicht direkt einsehen, aber weiter oberhalb des weltberühmten Skisportortes gab es einige Ansammlungen von Häusern etwa achthundert Meter unterhalb von ‚Almost Heaven’. Dort schien alles ruhig zu sein.
Kim blickte auf ihre Breitling und sah, dass es bereits 13.38 Uhr war. Dann sah sie nochmals durchs Fernglas, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Es stimmte doch etwas nicht. Es war viel zu ruhig für einen Samstag, früh am Nachmittag. Es war keine einzige Menschenseele zu sehen, keine Hunde, keine Kinder, nicht mal Rauch aus irgendeinem Schornstein, und das im Januar!
Kim wusste nicht, wie lange sie schon so durchs Fernglas starrte, ohne irgendetwas Neues zu entdecken, außer ein paar Rehen weiter unten. Plötzlich merkte sie, dass sie fror und am ganzen Leib zitterte. War sie alleine auf der Welt? Hatte sonst keiner überlebt? Und...waren Ihre Eltern noch am Leben?
Sie überprüfte nochmals ihr Handy, aber es hatte immer noch kein Netz. Die Batterie war fast leer. Sie ging hinüber zum Schuppen und schmiss den Notstromgenerator an. Sie glaubte sich zu erinnern, dass ihr Vater mal behauptet hatte, er hätte Heizöl und Diesel für den Generator für circa ein Jahr vorrätig, und Kim wusste, wie man mit den Geräten umging. Aber das interessierte sie jetzt nicht.
Sie ging hastig zurück zu ihrem Vaio, steckte den Stecker in die Steckdose, denn das Gerät hatte bereits auch die zweite Batterie fast komplett verbraucht, und starrte fassungslos auf den Bildschirm.
Es war 16.12 Uhr Ortszeit, die CNN-Seite war vom Internet-Browser verschwunden und stattdessen war dort ein seltsames Kommunique erschienen.
Darüber thronte das Foto vom Präsidenten der russischen Föderation, Dr. Bljukin.
5
Moskau, 21. Juni 2029
Präsident Dr. Roman Bljukin beobachtete seine Frau beim Schlafen. Er genoss diesen Augenblick jeden Morgen ausgiebig. Sie war wesentlich jünger als er, mit ihren Mitte Dreißig, sehr groß, schlank und einfach wunderschön. Und heute war ihr Hochzeitstag.
Er selbst hielt sich für sein Alter sehr gut und sah aus wie Fünfzig. Er schaute in den Spiegel über der Schlafzimmerkommode. Sein kurzes helles Haar hatte keinerlei graue Strähnen und von Falten war in seinem straffen, kontrollierten und gut geschnittenen Gesicht weit und breit nichts zu sehen. Seine stahlblauen Augen wirkten hoch intelligent und verrieten keinerlei Gefühle. Mit seinen 1,85 Meter und seinen dreiundachtzig Kilogramm war er immer noch topfit, obwohl er so gut wie keinen Sport trieb. Dazu fehlte im die Zeit, denn, trotz seiner gerade mal sechs Stunden Schlaf pro Nacht, war sein Tagesablauf bis auf die Minute genau verplant und das sieben Tage die Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr seit mehreren Jahrzehnten. Es war jetzt genau 6.00 Uhr morgens. Zeit für die Arbeit.
Auf dem Weg dorthin dachte Bljukin an Igor Wladimirowitsch Iwanow:
Iwanow war vor scheinbar einer halben Ewigkeit in einem kleinen Ort nahe dem heutigen Wolgograd in Südrussland, knapp eintausend Kilometer entfernt von Moskau, in eher gewöhnlichen Verhältnissen geboren. Sein Vater war Arzt, seine Mutter Grundschullehrerin. Igors früheste Kindheit verlief ohne besondere Vorkommnisse, bis auf die üblichen und alltäglichen Probleme jener harten Zeit. Seine Eltern waren beide dreiundzwanzig als er geboren wurde, auch das war damals absolut die Norm.
Später allerdings, bereits als Teenager, hatte er zwei jüngere Geschwister,