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Tödlicher Nordwestwind. Lene Levi
Читать онлайн.Название Tödlicher Nordwestwind
Год выпуска 0
isbn 9783738071719
Автор произведения Lene Levi
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Robert startete seinen PC und wartete ab, bis das Programm vollständig aufgebaut war. Die Vermisstendatei erfasste täglich bis zu 300 Neuzugänge. Insgesamt waren es über 6.000 Personen. Es war immer wieder erstaunlich, wie viele Menschen täglich verschwanden. Der Versuch wäre also zwangsläufig sowas wie die berühmte Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Das stand schon jetzt fest. Als er die Datenbank öffnete und die ersten Einträge der verschwundenen Männer in der Altersgruppe zwischen 20 und 35 Jahren zu überprüfen begann, klingelte plötzlich sein Telefon. Er nahm ab und hörte Lins Stimme am anderen Ende.
„Entschuldige bitte Robert, wenn ich jetzt noch störe. Aber ich wusste rein intuitiv, dass du noch im Büro sein würdest.“
„Du störst nicht, im Gegenteil. Ich versuche gerade, die Informationen in meinem Kopf zu ordnen. Es wird wohl heute Nacht noch ein ziemlich kompliziertes Puzzlespiel.“
„Hör mal. Mir ist da noch was eingefallen, Robert. Es ist wahrscheinlich nichts von Bedeutung, aber es könnte vielleicht doch wichtig sein.“
„Schieß los“, sagte er und lehnte sich entspannt im Schreibtischsessel zurück.
„Es geht um die Klärung der Identität des Toten. Die Armbanduhr könnte dir vermutlich einen entscheidenden Hinweis liefern. Sieh dir mal das Ding etwas genauer an. Hast du sie?“
„Ja, sie liegt hier vor mir auf dem Schreibtisch.“
„Mir ist eingefallen, dass echte Uhren des Herstellers Jaeger LeCoultre alle eine Seriennummer besitzen. Es ist so eine Art Produkt-ID. Kannst du eine Zahlenkombination entdecken?
Er drehte und wendete die Armbanduhr zwischen seinen Fingern hin und her: „Nein, kann ich nicht. Wo soll diese Nummer eingraviert sein?“
„Für gewöhnlich auf der Rückseite, am unteren Rand in der Mitte. Das gesamte Gehäuse lässt sich irgendwie drehen.“
Er sah auf die Uhr und stand auf, um sie direkt unter den Lichtkegel der Schreibtischlampe zu halten. Plötzlich entdeckte er einen winzigen Schutzmechanismus und das Gehäuse sprang federleicht aus seiner Halterung: „Du hattest recht. Ich habe den Mechanismus gefunden. Das Uhrwerk lässt sich drehen. Aber da ist nur so eine kitschige Strass-Verzierung auf der Rückseite eingearbeitet.“
Mehr konnte er auch nicht im Lichtschein der Lampe erkennen. Aber im nächsten Augenblick stockte ihm eine Sekunde lang der Atem: „Moment mal“, sagte er hastig und klemmte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter fest. Nun konnte er mit beiden Händen den Gegenstand genauer untersuchen.
„Was ist? Hast du die ID entdeckt?“, hörte er Lins Stimme.
„Nein, die Nummer nicht, aber du hast mir doch heute die Fotografie mit dem Tattoo gezeigt. Ich glaube, die Verzierung und das Tattoo“, er zögerte kurz, bevor er weitersprechen konnte, „sind vom Motiv her beide sehr ähnlich. Warte bitte mal einen Augenblick.“
Robert legte den Telefonhörer auf den Schreibtisch, aktivierte die Freisprechtaste und begann eilig die Akte des Untersuchungsberichts zu durchwühlen. Wenig später hielt er das gesuchte Foto in der Hand: „Volltreffer, Lin! Volltreffer! Die beiden Motive sind tatsächlich absolut identisch.“
„Du hast eben von einer kitschigen Strass-Verzierung gesprochen. Sehr merkwürdig.“ Lins Stimme begann leicht zu vibrieren.
„Ja, da sind unglaublich viele und ganz winzige Glitzerdinger eingearbeitet. Solchen Tinnef habe ich jedenfalls auf einem Uhrengehäuse noch nie gesehen.“
„Mit der Bezeichnung Tinnef wäre ich an deiner Stelle zunächst etwas vorsichtig. Wenn das echte Diamantsplitter sind, hältst du gerade ein kleines Vermögen in der Hand. - Versuche es doch morgen einfach mal bei einer Vertretung dieser Firma. Soviel ich weiß, gibt es in Bremen einen von Jaeger LeCoultre autorisierten Vertragshändler.“
„Woher weißt du das alles, Lin? Und seit wann interessierst du dich für solchen Luxuskram? Manchmal muss ich mich wirklich über dich wundern.“
„Ich bin eine Frau. Schon vergessen? Und Frauen lieben nun mal Luxuskram. Obendrein habe ich bereits im Internet recherchiert, Herr Kommissar. Ist das etwa verboten? Außerdem steht es noch gar nicht fest, ob es sich um eine echte Reverso oder doch nur um ein billiges Imitat handelt.“
Bevor er antworten konnte, sagte sie: „Du, hör mal. Du solltest jetzt nach Hause gehen. Mach einfach für heute Schluss. Kriminalpolizisten, die rund um die Uhr im Einsatz sind und obendrein noch in ihrem Büro schlafen, gibt’s doch nur in diesen albernen Tatort-Krimis.“
„Besten Dank für den netten Hinweis, Lin. Ohne deine Mithilfe hätte ich mir vermutlich tatsächlich hier die ganze Nacht um die Ohren geschlagen.“
„Besuche lieber deine Mutter und schaue nach, ob da alles in Ordnung ist. Und vergiss die Kekse nicht! Gute Nacht. Ich leg jetzt auf.“
Aus dem Lautsprecher der Telefonanlage hörte er nur noch ein atmosphärisches Rauschen, dann legte auch er den Hörer auf und sagte leise zu sich selbst: „Gute Nacht, Lin. Gute Nacht. Die wünsche ich dir auch.“
Die Straßen draußen wurden ruhiger und schimmerten im Laternenlicht, weil es ganz sanft angefangen hatte zu regnen. Als er wenig später von der schwachbeleuchteten Nebenstraße aus hinauf zum Wohnungsfenster seiner Mutter sah, jagten noch immer die Ereignisse des Tages durch sein Hirn. Es fiel ihm verdammt schwer, sich davon freizumachen. Robert hielt nur die kleine Aluminiumdose in seiner Hand, als er das Hausflurlicht anschaltete und die Treppe hinaufstieg.
Kapitel 7
Als Robert am nächsten Morgen das Polizeigebäude betrat, wurde er von seinem Chef bereits ungeduldig erwartet. Kaum hatte er den Aufzug auf der 5. Etage verlassen, hörte er auch schon dessen Stimme über den langen Etagenflur hallen. De Boer war ein ziemlich humorloser Mann, hielt sich aber genau für das Gegenteil. Er war etwas älter als Robert und hatte die meiste Zeit seines Lebens wahrscheinlich in diesem Betonplattenbau zugebracht. Eine gewisse Form von geistiger Engstirnigkeit war ihm deutlich sichtbar in die Physionomie geschrieben. Aber mithilfe seines Durchstehvermögens war es ihm immerhin geglückt, die Karriereleiter über die Jahre hinweg behutsam hinaufzuklettern. Nun hatte er es schließlich geschafft und war ziemlich weit oben angekommen. Seit dreieinhalb Jahren durfte er sich Kriminaldirektor nennen und seiner Aufsicht unterstanden auch die beiden Kommissariate der Oldenburger Kriminalpolizei.
Immer, wenn Robert seinem Chef begegnete, fiel ihm ein Polizeieinsatz ein, der schon Jahrzehnte zurücklag. Damals, es war wenige Tage vor Weihnachten, fand in Oldenburg eine spektakuläre Sonderaktion der Kriminalpolizei gegen zwei mutmaßliche Haschischdealer statt, die auf der Dobbenwiese festgenommen wurden. Sehr schnell entpuppte sich allerdings die Aktion als Reinfall, denn der Beamte, der die beschlagnahmte Ware für »gelben Libanesen« hielt, konfiszierte nichts anderes als gut präpariertes Viehfutter. Und genau dieser Polizist, der damals als verdeckter Ermittler für die Polizei den Deal mit den Rauschgifthändlern einfädelte, war kein anderer als Heribert de Boer. Aber die Geschichte war damit noch nicht beendet. Die irritierten Polizeibeamten wollten anschließend unbedingt noch überprüfen, ob nicht doch ein Quäntchen Rauschgift in dem Heu-ähnlichen Stoff zu finden wäre. Aber es ließ sich tatsächlich keine Spur irgendeiner verbotenen Substanz nachweisen. Die Bullen waren auf einen simplen Betrugsversuch zweier Kleinkrimineller hereingefallen und machten sich damit zum Gespött der ganzen Stadt. Bald stellte sich heraus, dass die festgenommenen Brüder mit dem Zentner falschen Haschischs offensichtlich einen ihrer »Geschäftspartner« linken wollten, nicht aber den Undercover-Ermittler Heribert de Boer. Er war ihnen nur in die Quere gekommen. Dieser Irrtum war gewissermaßen so was wie Künstlerpech, wenn auch für beide Seiten. De Boer wurde daraufhin nie wieder mit einem Undercover-Job beauftragt. Die beiden Ganoven kamen lediglich mit einem blauen Auge und einer Verwarnung davon, dafür wurden sie jedoch in gewissen Kreisen als wahre