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SCHULD-LOS. Dorothée Linden
Читать онлайн.Название SCHULD-LOS
Год выпуска 0
isbn 9783844260465
Автор произведения Dorothée Linden
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Vera zeigte keine Reaktion. Martin aber war begeistert. Er strahlte und freute sich und fragte sich gleichzeitig, wie Frank das wohl immer hinkriegte, völlig unbeteiligt zu wirken, auch bei den umwerfendsten Neuigkeiten. Er wäre immerhin bald ein reicher Mann, wenn Martin das richtig verstanden hatte. Er und Konrad. Tante Lore hatte ja wirklich alles ganz schön proper durchgeplant. Sie murmelte noch etwas, warum sie weg sei, Knieoperation und dann eine Kur oder sowas, aber Martin war gedanklich schon ganz woanders.
„Schön, dann sage ich Gérard, dass das klar geht. Die Einzelheiten wird er Euch am Sonntagabend bei der Übergabe erklären. Ihr könnt meinen Wagen nehmen, ich brauche ihn nicht in den nächsten Wochen. Vera, nun schau nicht so. Freu Dich doch! Die Großen werden das Haupthaus versorgen, Ihr beiden und die anderen wohnt unten in dem Ferienhäuschen. Ich kann Euch doch nicht hier allein lassen. Dafür seid Ihr einfach noch zu jung! Wenn es wider Erwarten doch Probleme gibt, so ruft Ihr an, und wir finden etwas anderes. Ellas Vater könnte Euch dann vielleicht wieder einsammeln.“
„Ja, ja“, sagte Vera. „Komm, Martin, lass uns rausgehen“. Sie zog ihn in den Garten, und sie hockten sich hinter den Schuppen.
„Vera, was ist denn los?“, fragte Martin.
„Ach, ich weiß nicht. Ich und meine Brüder. Das ist nicht so das Wahre.“
„Wir werden eine super Zeit haben! Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie wahnsinnig ich mich freue! Sie sind doch schwer in Ordnung, Deine Brüder! Und wenn wir keine Lust auf sie haben, scheren wir uns einfach nicht um sie. Die sollen doch sowieso im Haupthaus wohnen, und wir machen es uns in der gite gemütlich, unten in der Bauernkate. Du hast mir doch die Fotos schon mal gezeigt.“
Vera schien sich nun doch ein wenig von Martins Begeisterung anstecken zu lassen. Sie lächelte und sagte:
„Es ist so schön, dass ich noch einen Bruder dazubekommen habe, der mal wie ein richtiger Bruder zu mir ist.“
„Mehr als das“, sagte Martin und spürte, dass er errötete, noch bevor er ihren Kopf an sich drückte und ihr einen Kuss auf die Wange gab. Sie prusteten beide los und warfen sich lachend auf die Wiese.
Die nächsten Tage waren für Martin die reine Vorfreude. Das war nicht zu übersehen. Aber er musste sich auch vorbereiten. Dazu gehörte an erster Stelle, dass er es endlich einmal lernte, sich nicht wie ein unbeherrschter Junge aufzuführen. In drei Tagen würde er mit Frank und Konrad auf Reisen gehen, das war mal was. Er würde die beiden intensiver beobachten und genau darauf achten, wie sie es anstellten, so männlich daherzukommen. Zwei Wochen wäre er mit ihnen allein, bevor Vera und die anderen nachkämen. Ella hatte er flüchtig kennengelernt, ein Mädchen, ganz anders als Vera. Sie hatte kurzes braunes Haar und lachte viel, eigentlich ständig. Martin hatte sie erst einige Male gesehen. Sie war vor kurzem in Veras Klasse gekommen. Offenbar hatte sie keine Chance mehr gehabt, das Schuljahr noch zu schaffen. Darum hatte man sie schon jetzt in die Wiederholungsklasse gesteckt, zur Eingewöhnung gewissermaßen. Vera hatte ihm erzählt, dass die Neue der Renner sei. Immer lustig und voller Ideen. Dass sie sitzen geblieben sei, schien sie nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil. Sie fand sich schnell in die neue Umgebung ein. Sie war fast zwei Jahre älter als Vera und die meisten anderen in der Klasse. Das allein machte sie schon interessant. Es hieß, sie ginge mit Gerd aus der zwölf. Gerd war schon achtzehn oder neunzehn, und offensichtlich hatten Ellas Eltern nichts dagegen, die beiden zusammen nach Frankreich fahren zu lassen.
Ellas jüngerer Bruder hieß Jan. Den kannten sie beide noch nicht. Vera hatte ihn zwar kurz mal bei Ella zu Hause gesehen, aber das war auch alles. Er war vierzehn wie sie.
Tante Lore half ihm, eine vernünftige Mischung an Reisegepäck zusammenzustellen. Von allem etwas, aber nicht zu viel. Wetterfeste Kleidung sei wichtig, da sie sich vermutlich die meiste Zeit im Freien aufhalten würden. Und man wüsste ja nie, wie der Sommer sich entwickelte.
„Ihr habt dort eine Waschmaschine und alles, was Ihr braucht, um Euch zu versorgen. Frank kann einige Gerichte kochen, Vera ist auch nicht so schlecht darin.“
Martin hörte nur halb hin. Die Versorgung war ja wohl das geringste Problem. Ihn beschäftigten ganz andere Gedanken: Brauchte er Zigaretten? Frank und Konrad rauchten beide. Es wäre wahrscheinlich gut, ein Päckchen „Gauloises“ zur Hand zu haben. Oder würden sie ihn auslachen? Ihn, den Schleimer? Martin wusste es nicht. Er wusste einfach viel zu viel nicht. Er spürte eine handfeste Unruhe aufsteigen, wenn er mal konkreter über die bevorstehende Fahrt nachdachte. Worüber sollte er mit den Großen reden? Würden sie ihn gut behandeln, wären sie herablassend, würde er eine Chance bekommen sich zu bewähren, sozusagen aufgenommen zu werden als einer der ihren?
„So langsam gehen mir die Nerven durch“, kam Martin einer der Sprüche seines Vaters in den Kopf. Wenn er dies gesagt hatte, war es immer brenzlig geworden. Er hatte sich über irgendetwas aufgeregt, das nicht funktioniert oder nicht nach seinen Wünschen geklappt hatte. Meistens stand dann ein heftiger Wutausbruch bevor, der durch diesen Satz nur ein bisschen hinausgezögert wurde. Warum Martin ausgerechnet jetzt an seinen Vater dachte, konnte er sich nicht erklären. Eigentlich waren die letzten Tage seit Jahren das erste Mal, dass nicht permanent im Hinterkopf die Bilder vom brennenden Haus, vom Feuer und von seiner verlorenen Mutter flackerten.
Wenn man wirklich überhaupt keinen Schimmer mehr davon hatte, wie es weitergehen sollte, wie man sich in der Welt zurecht finden könnte, ohne blöd aufzufallen oder sonst welche gravierenden Fehler anzustellen, dann musste das mal gesagt werden: „So langsam gehen mir die Nerven durch.“ Seine Mutter hatte Sprüche eigentlich nur zum Trösten gehabt. Einer davon war besonders blöd: „Es wird alles gut.“ Es war schön, dass sie einen dabei fest in ihren Armen gehalten hatte, aber in Sachen Sprüche hatte sie einfach keine Ahnung gehabt.
Er müsste es auf der Fahrt wenigstens irgendwie hinkriegen, nicht ständig zu plappern. Erst mal alles anschauen und vielleicht mit „mmh“ kommentieren. Da ließ man sich alle Optionen offen. Und man gab nicht gleich alles preis, was in einem vorging. Das war gut, Martin grinste, war ein wenig stolz, eine vernünftige Strategie anzulegen. Einfach und glasklar, und doch das Ergebnis präziser Planung. Er war beruhigt. Na ja, fürs erste jedenfalls. Er würde das schon schaukeln. Und wenn er bis zum Ende der Ferien auch eine angemessene Weise finden könnte, Vera endlich so zu erobern, wie es sich gehörte, dann wäre das ja wohl ein Sommer mit einem Top-Ergebnis. Martin schwelgte in seinen Erwartungen. Hauptsache, es passierte nicht noch was ganz Blödes: Dass ihn der Mut auf einmal verließ zum Beispiel. Aber daran wollte er gar nicht denken.
Sonntagmorgen war es soweit. Alles nach Plan, sie waren sogar schon etwas früher fertig als gedacht. Um kurz vor sieben in der Früh tauschte Martin mit Vera Küsschen auf die Wange aus – das zweite Mal innerhalb weniger Tage und das erste Mal, dass es erwidert wurde. Tante Lore salbaderte einen Haufen Maßregeln, die nun aber wirklich niemanden mehr interessierten, und dann röhrte der Motor des alten Opel Diplomat auf, Frank setzte elegant und behände zurück, und sie fuhren los. Martin winkte Vera und ihrer Mutter hinterher.
„Willst Du ne Zigarette, Kleiner?“, fragte Frank.
Martin war überrumpelt. Auf das Szenario mit der Zigarette hatte er sich exakt vorbereitet. Natürlich unter seiner eigenen Regie. Immerhin hatte er ja nicht so richtig viele Situationen zum Punkten in Reserve. Vor dem Spiegel hatte er geübt, so beiläufig es irgendwie ging zu fragen: „Jemand ne Fluppe?“ Er hatte sich vorgestellt, dass eine halbe Stunde nach Abfahrt genau der richtige Zeitpunkt hierfür hätte sein können. Erst mal musste man sich ja mal einrichten auf so einer Fahrt, vielleicht den Weg diskutieren, die Fahrzeit, überlegen, ob man Pausen machen müsse und dergleichen. Und