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der darauffolgenden, schlaflosen Nacht wurde Holstein von Krämpfen der Verzweiflung, der Wut und des Zorns geschüttelt. Abgrundtiefer Haß bracht aus ihm heraus, Haß auf diejenigen, die auch ihn mit Lügen und Halbwahrheiten gefüttert, mit pseudowissenschaftlichen Phrasen belogen und betrogen, die mit einer selbstgerechten Arroganz und Ignoranz ohnegleichen sein Land, sein Volk so weit an den Abgrund einer Katastrophe geführt hatten.

      Freitag, 3. November 1989

      Holstein verzichtete auf seinen für diesen Tag eigentlich geplanten Urlaubstag und beschloss, sich an der Wandzeitung seiner Abteilung in aller Offenheit und mit aller Konsequenz zu offenbaren. Er bekannte sich in seinem Aushang zu den Zielstellungen des Neuen Forum und vermeldete gleichzeitig seine Teilnahme an der Demonstration in Berlin unter dem Motto: Wir sind das Volk – keine Diktatur!

      Seinen Standpunkt zur gesellschaftlichen Krise in der DDR , den er bereits dem Neuen Deutschland als offenen Brief zugeschickt habe, befestigte er daneben. Außerdem forderte er die Einberufung der längst überfälligen Parteiversammlung, um endlich klar Schiff zu machen.

      Der Aushang ruft einen Menschenauflauf hervor, wie ihn dieses allzeit mit rotem Fahnentuch bespannte Brett wohl noch nie gesehen hat. Rufe werden laut im Tumult, die euphorische Woge rundete sich von abgrundtiefem Haß bis Zustimmung, nur wenige standen dabei, die nichts zu sagen hatten.

      Am Abend beteiligte sich Holstein wieder an der Demonstration durch das Stadtzentrum. Zu Hause erwartete ihn ein Kollege von Dani, gerade erst aus einem Auslandseinsatz in Rumänien und Bulgarien zurückgekehrt. Auf der Heimfahrt durch die Slowakei wären sie fast in Österreich gelandet, da sie wie gewohnt dem Strom der mit DDR-Kennzeichen versehenen Fahrzeuge in Richtung Heimat folgten und ihren Irrtum erst kurz vor der Grenze bemerkten. Sie scherten aus der Kolonne aus ernteten bei ihrer Umkehr von den ihre bisherige Route Beibehaltenden erstaunte Minen und lange Hälse. Im Betrieb angelangt führte man sie gleich zuerst in einen eigens dazu eingerichteten Raum, wo Mitglieder der noch amtierenden Betriebsparteileitung die zurückgegebenen Parteiausweise einsammelten und, fein säuberlich nach dem Alphabet sortiert, in Karteikästchen ablegten. Außen neben der Tür zu diesem Raum hing ein Foto von Schalk-Golodkowski, darunter stand „Wanted!“. So kam Bernd ob der unerhörten Geschehnisse rundum aus dem Staunen nicht heraus und suchte die Holsteins abends als erste Anlauf- und Informationsstelle auf. Holstein setzte ihn grob von den Vorgängen in Kenntnis, schilderte ihm auch seine eigenen Anteile am Versuch, demokratische Verhältnisse auf sozialistischer Grundlage im Lande zu schaffen und informierte ihn über seine Absicht, an der Demonstration in Berlin am folgenden Tag teilzunehmen. Spontan sagte Bernd seine Teilnahme zu. Sie schnitten noch an diesem Abend aus einem Bettlaken ein Transparent heraus und beschrieben es mit roter Farbe: „Volksentscheid zur Verfassung“.

      Samstag, 4. November 1989

      Gegen drei Uhr morgens brachen sie auf. Das Wetter war kalt und regnerisch und beiden nicht wohl. Was wird sie erwarten dort in Berlin? Polizei- und Armeesperren, Panzer, spanische Reiter? Sie wussten es nicht, was sie wussten war: An diesem Tag ging es nicht um Bananen oder Reisefreiheit, es ging um die Wurst, um die Brechung des Machtmonopols der SED-Führung nebst deren Vasallen. Kurz vor Berlin wurden sie von einer Polizeistreife angehalten, wollten sie sie nicht hineinlassen in die Stadt? Alles in Ordnung, die Polizisten gaben nach Angabe des Fahrzieles den Weg wieder frei. Ab und an schauten sie in den Rückspiegel. Nach dem Umsteigen in die S-Bahn am Stadtrand wechselten sie an der dritten Station den Zug. Niemand folgte ihnen, aber Vorbeugen ist besser als auf den Rücken fallen.

      Am Alexanderplatz erblickten sie eine unübersehbare Menschenmenge, Holsteins Erwartungen hatten nicht getrogen. Der Demonstrationszug war bereits in Bewegung, uniformierte Sicherheitskräfte oder gar schwer bewaffnete Einheiten nirgendwo zu sehen, abgesehen von den wenigen sperrenden und regelnden Verkehrspolizisten. Entlang der Strecke standen Männer und Frauen mit gelb-grünen Schärpen, versehen mit der Aufschrift: Ohne Gewalt.

      Noch erschien ihnen die Stimmung im Demonstrationszug, in den sie sich einreihten, ernst und gedrückt. Ihr Transparent hielten sie mit den Händen zwischen ihnen gespannt, Fahnenstöcke und Reißzwecken waren im Kaufhaus am Alex ausverkauft. Die hinter ihnen Laufenden trugen ein farbenfrohes und breitflächiges Fahnentuch, darauf stand : Asterix ins Politbüro!

      Zunehmend kam, unterstützt auch durch die Vielzahl der politischen Karikaturen, Freude und Optimismus auf unter den Demonstranten, die Stimmung wurde ausgesprochen locker, keine Spur von Aggressivität. Ruhig und diszipliniert strebte der endlose Strom nun wieder dem Alexanderplatz entgegen, begleitet von der Musik zahlreicher Liedermacher und Gesangsgruppen, keine der sonst üblichen dumpf-dröhnenden Marschmusik unter der Allmacht roter Fahnen.

      Der erste Redner trat ans Pult, jetzt gilt’s! Aber die Forderung nach dem Erscheinen von Egon Krenz blieb aus. Es lief nicht so, wie es Holsteins Plan vorsah, er sah die große Chance vertan. Doch Holstein wurde auf andere Weise entschädigt: Gleich einem roten Faden durchzog eine Forderung fast alle Reden: Schluss mit dem Führungsanspruch der SED! Schon der dritte Redner formulierte sie klar und eindeutig, tosender Beifall branntete auf. Gleich einem Zeichen höherer Gewalt zog sich der bis dahin verhangene Himmel auf und die Sonne tauchte mit ihren Strahlen in die bunte Vielfalt der Demonstranten. Diese Art von Revolution war auch Holstein lieber als eine am Rande der Gewalt balancierende.

      Auf der Rückreise trafen sie in der S-Bahn auf zahlreiche andere Demonstrationsteilnehmer, sie kamen ins Gespräch mit Katholiken aus dem Eichsfeld, mit parteilosen Landwirten aus Mecklenburg, die Barrieren der Weltanschauungen schienen überwunden, alle eint das gleiche Ziel: die Errichtung einer menschenwürdigen Demokratie mit sozialistischem Antlitz.

      Holstein glaubte, mit der Demonstration hätte die Herbstrevolution ihren Höhepunkt erreicht, der Ministerrat wird zurücktreten und den Weg freimachen für Neuwahlen. Das Volk trug den Sieg davon. Eine Revolution auf höchster Kulturstufe, würdig eines Goethes und Hegels.

      Auf der Heimfahrt im Trabi atmete sich die Luft irgendwie leichter und freier als bei der Herfahrt, sie schauen auch nicht mehr in den Rückspiegel, jedenfalls nicht aus dem Grund, Verfolger oder Beobachter zu erspähen.

      Sonntag, 5. November 1989

      Gleich morgens befestigte Holstein das Transparent, welches er mit Bernd zur Demo in Berlin vor sich her trug, am Balkon seiner Wohnung, dann begab er sich mit Daniela zur Mensa der Technischen Universität, dort sollte im Beisein des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, seines obersten Dienstherrn also, und des Oberbürgermeisters der Stadt eine Diskussionsrunde zu kommunal-politischen Themen stattfinden. In Holstein verstärkte sich zunehmend der Verdacht, dass die an der politischen Führung des Landes Beteiligten versuchten, von den wirklichen Problemen abzulenken und der allgemeinen Spannung im Volk durch Verlagerung der Debatten auf sekundäre Ebenen die Brisanz zu nehmen. In der Mensa seiner einstigen Uni waren weit über tausend Menschen eng aneinander gedrängt versammelt, unzählige standen im Treppenhaus und noch draußen vor der Tür.

      Sofort nach Eröffnung der Diskussion ergriff Holstein als erster Diskussionsredner das Mikrophon. Es galt zu verhindern, dass die Thematik von den derzeitigen gesellschaftlichen Hauptfragen, allem voran der der Machtausübung, auf Nebengleise geschoben wird. Nicht kommunale Angelegenheiten waren hier und heute aufzuwerfen sondern Grundüberlegungen zur Demokratisierung und Erneuerung der DDR, so lautete, nachdem sich Holstein vorgestellt hatte, sein erster Satz. Er bekannte sich zur vieljährigen Mitgliedschaft in der SED und zu seinen sozialistischen Idealen, schilderte seine Eindrücke von der gestrigen Demonstration in Berlin, sprach der Arbeiterklasse und der sie angeblich führenden Partei das Recht auf das Machtmonopol ab und forderte einen Volksentscheid zur Verfassung.

      „Ja,“ sagte er abschließend, „ich bin Kommunist und werde es auch bleiben. Eben deshalb stehe ich ein für einen demokratischen Sozialismus, nicht für einen Kasernenhofsozialismus preußischer Prägung. Farbenfroh soll mein Sozialismus sein wie die gestrige Demonstration in der Hauptstadt. Inmitten der bunten Farbtupfer aber will ich auch meine rote Fahne nicht vermissen, gleichberechtigt neben den vielen anderen.“ Tosender Beifall.

      Nach ihm sprachen noch viele, emotionell erregt die meisten, teilweise auch unsachlich, alle aber von sozialistischem Gedankengut geprägt. Beim Beitrag des letzten Redners, die Uhr zeigte

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