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Auf seinen krummen Nussbaumstock gestützt, verschwindet der Alte in der kalten Nacht.

      »Versteck dich! Bleib hier! Schwör’s! Schwör mir dat op de Hellije Schrift«, fordert Christel mit einem bestätigungsheischenden Blick auf Küsters Jupp, der seine Sakristeigehilfin mit glasigen Augen anstarrt.

       Christel ist des Küsters rechte Hand. Wie er hat sie einen Schlüssel zur Kirche. Sie ist für den Blumenschmuck der Kapelle verantwortlich, und es gilt allein als ihr Verdienst, dass der Straßenaltar des Dorfes am Fronleichnamstag dreimal in Folge zum schönsten Altar der Pfarrgemeinde gekürt worden ist. Zu der Pfarrei im Herzen der Hohen Eifel gehören immerhin fünf weitere miteinander konkurrierende Haufendörfer. Die fromme Christel genießt das Vertrauen des strengen Pfarrers Dederich, der sich nicht scheut, den Messdienern während des sonntäglichen Hochamts vor seinen versammelten Schäflein eine durch das gesamte Kirchenschiff schallende Ohrfeige zu erteilen oder sie an den Haaren zu ziehen. Und auch der Dorfschullehrer, dessen schlagende Hand ohnehin recht locker sitzt, singt rühmende Lieder auf Christel und lobt ihren unermüdlichen Einsatz für das deutsche Vaterland.

      »Op de Hellije Schrift«, wiederholt Christel, die sich damit brüstet, als Einzige im Dorf die Bibel ganz gelesen zu haben. »Schwör mir dat in die Hand, Niklas!«

      »Ja, ja, ich schwör’s«, sagt Niklas genervt. »Jetzt geht! Es ist spät! Schleicht euch!«

       Er öffnet die Tür, schiebt sie alle hinaus. Einer nach dem andern torkelt betrunken vom Hof. Johann verlässt als Letzter das Haus. Er bemerkt, dass Margarete noch am Küchentisch sitzt.

      »Margarete! Was ist mit dir? Willst du hier etwa übernachten?«

       Margarete erhebt sich schwerfällig und schlingert dem Vater in die Arme.

      »Mein Gott, wenn Frauenzimmer zu viel trinken.«

       Er greift seiner Tochter unter die Arme, alleine kann sie unmöglich auf ihren Beinen stehen. Anne-Kathrin wirft den beiden einen verächtlichen Blick hinterher, als sie über den Hof schwanken und im Dunkeln verschwinden. Anna ist früher nach Hause gegangen. Anne-Kathrin wird mit ihr reden. Ihre Tochter soll die Finger von ihrem Sohn lassen.

      Niklas verriegelt die Tür. Einen schönen Geburtstag haben sie ihm beschert, den süßen Holunder der Mutter vernichtet, die nur wenig von diesem Krieg weiß und vielleicht doch mehr ahnt, als er gedacht hat. Aber was können sie hier tun? Mit ihren Sensen und Mistgabeln nach Berlin ziehen wie damals die wütenden Pariser Marktweiber gen Versailles? Den Führerbunker stürmen, in dem sich die letzten Getreuen Hitlers verschanzt haben? Das alles macht keinen Sinn. Der Ortsbauernführer würde alle verraten, noch bevor sie das Dorf verlassen hätten: Johann würde sie alle in ihren Hühnerställen einsperren.

      3

       Anfang Dezember 1944

      Niklas packt den Rest Brot aus der Vorratskammer in seinen Tornister und schnürt ihn zu. Dann bindet er sich den langen Wollschal, den ihm die Mutter gestrickt hat, um den Hals. Allein sitzt er mit einem Bogen Papier und einem Stift am Küchentisch, sein Heimaturlaub ist vorüber, pfeilschnell sind die Tage im Dorf verflogen. Margarete hat er nur einmal kurz treffen können, die Mutter hat ihn voll in Beschlag genommen und nicht aus den Augen gelassen. Wenn er sie nur in seinen Rucksack stecken könnte! Wenn er nur etwas von dem Frieden dieser Adventnacht mitnehmen könnte an die Front! Den Küchengeruch! Das leise Knistern des Holzfeuers im Ofen! Dann wäre es leichter aufzubrechen. Sind es nicht die Mutlosen, die zuerst ertrinken, wenn das Schiff untergeht, weil sie bis zum Schluss den unsinnigsten Befehlen gehorchen?

      Im Ofen glimmt das Feuer.

       Niklas schreibt einen Brief an die Mutter: Das Holz werde über den Winter reichen. Sie solle nur gut darauf achten, dass die Hühner keine kalten Füße kriegten, denn dann sei es vorbei mit dem Eierlegen. Und sie solle dem Ochsen kräftig Futter geben, damit er bei Kräften bleibe bis zum Frühjahr, dann sei er bestimmt wieder zurück. Versprochen! Pass auf dich auf! Alles wird gut, schreibt Niklas und legt einen vergilbten Zettel bei, darauf ein kleines Gebet, das Paul ihm im Schützengraben gegeben hatte, kurz bevor die Granate ihn zerfetzte. Er hat seiner Mutter, die wissen wollte, ob es an der Front jemanden gebe, auf den er sich verlassen könne, von Paul erzählt. Aber er hat nicht gesagt, dass es ihn getroffen hat. Auf wen kann sich der Soldat im Krieg verlassen? Niklas faltet den Bogen, schiebt ihn zusammen mit Pauls Zeilen in einen Umschlag und legt den Brief mitten auf den Tisch. Dann schnürt er den Rucksack auf den Rücken, wirft noch einmal einen Blick zurück in die Küche. Wie warm, wie gemütlich es hier ist! Er zieht sich die Mütze über den Kopf, öffnet die Tür. Durch den dunklen Flur verlässt er das Haus und geht hinaus.

       Draußen, vom Hof aus, kann er die Straße einsehen, die hinab zur Kirche führt. Auf den Dächern liegt Schnee. Niklas spürt, wie die Kälte unter seine Kleider kriecht. Wie kalt wird es erst in Russland sein? Er zieht den wollenen Schal enger um den Hals, dreht sich noch einmal um. Das kleine Bruchsteinhaus; die leeren Schwalbennester unter dem Dach; die knorrig-kahlen Äste des wilden Weins, die sich an den Putzresten festkrallen; der Misthaufen, der dampft wie ein Topf warmer Nudeln. Vor der Haustür sitzt Penelope, die nicht schläft und ihn ansieht, als spüre sie, dass er wieder aufbricht.

       Niklas geht die Straße hinunter, an der Kirche vorbei und verlässt das Dorf. Dahinter öffnet sich der weite Horizont. Preußisches Sibirien, so nennen die Deutschen die Gegend hier. Ein zarter Lichtsaum fällt auf die steinigen Böden. Es ist noch nicht lange her, da haben die Männer die Rennstrecke rund um die Nürburg ausgeschaufelt. Von überall her waren sie gekommen, brachten ihre Hacken und Schaufeln mit, sie waren arbeitslos. Und jetzt sagt Johann Gross, dieser Hitler habe den Nürburgring gebaut. Die Nazis behaupten sogar, sie hätten die Autobahn erfunden. Sie haben eigens einen Generalinspekteur Straßenwesen ernannt. Aber die Menschen rund um die heilige Autostrecke glauben dieser Propaganda schon lange nicht mehr. Auch Niklas weiß inzwischen, dass nichts von dem stimmt, was die Nazis sagen.

       Noch könnte Niklas sich in die einsamen Wälder schlagen, sich dort verstecken wie damals der »Stumpfarm«, der in der Eifel gewildert und gemordet hat, bis man ihn aufspürte, vor dem Koblenzer Schwurgericht zum Tode verurteilte und im Kölner Klingelpütz enthauptete. Abhauen ist sinnlos, egal ob im Krieg oder im Frieden, denkt Niklas. Weglaufen ist keine Lösung.

      Als er Koblenz erreicht und der Zug einrollt, ist es bereits taghell. Auf dem Bahnhof wimmelt es von Soldaten. Es ist nur ein kurzer Halt. Niklas wirft seinen Tornister mit Schwung in den offenen Bahnwaggon und springt auf den anfahrenden Zug. In einer Ecke des Waggons findet er ein freies Plätzchen, hier hockt er sich nieder zwischen zwei schlafende Soldaten.

       Das gleichmäßige Rattern der Räder auf den Schienen macht auch Niklas schläfrig. Er denkt an Margarete, von der er sich nicht hatte verabschieden können; er denkt an die Mutter, die seinen Brief inzwischen gefunden haben muss. Sein Herz zieht sich zusammen. Alle haben ihm bis zuletzt zugeredet, dass er sie nicht im Stich lassen dürfe, dass eine Mutter mehr zähle als ein Führer oder ein Vaterland. Er ist ein Bauernjunge, er ist kein Feigling. Die Mutter wird ihn verstehen: Ein Bauer muss graben, wo er steht. Er schlägt sich nicht in die Büsche.

       Niklas kann sich nur schwach an seinen Vater erinnern, er war noch klein, als sie ihn tot auf einem Karren heimbrachten. Niklas durfte ihn nicht sehen. Er war doch noch ein Kind. Einmal, da hatte er den Vater gefragt, warum ein Huhn nur ein Ei legt pro Tag, warum nicht zwei oder drei, dann hätten sie welche verkaufen können und mehr Geld.

      »Den Hühnern ist es schnurzpiepegal, ob wir Geld haben oder nicht«, antwortete der Vater.

      »Hühner sind dumm«, sagte Niklas.

      »Da bin ich mir nicht sicher. Ein Ei auszubrüten, das will was heißen. Das ist komplizierter, als man denkt, mein Junge. Ich habe großen Respekt vor den Hühnern. Die leisten verdammt gute Arbeit!«

       Im Sommer hatte der Vater ihm beigebracht, wie man Forellen mit den bloßen Händen fischt, man kitzelt sie unter dem Bauch, dann halten sie still. Blitzschnell muss man zupacken und sie aus dem Bach auf die Wiese werfen. Da zappeln

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