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unerwartet zu Hilfe. Das ist wohl im Dschungel eine absolut seltene Ausnahme gewesen. Normalerweise gehen sich die Indianer allesamt aus dem Weg. Im Urwald vermeidet man das Zusammentreffen mit anderen, man bleibt besser unter sich. Aber der Zufall wollte es wohl, das sich an diesem Tag die beiden Jagdgruppen begegnen sollten. Jedenfalls behandelte einer dieser Fremden den jungen Indio wohl mit etwas ebenfalls völlig unbekanntem. Der Indio wusste anschließend genau so wenig wie seine Stammesbrüder, was es für ein Mittel war, dass ihm da so grandios half. Er bekam es anscheinend auch nie zu Gesicht, und wusste später nur zu berichten, das es seinen Bruch in vier Tagen geheilt haben soll. Das allein klingt heutzutage natürlich schon absolut lächerlich. Einen Bruch in vier Tagen heilen, vollkommen unmöglich. Siehst du, und deswegen lächele ich. Es hat wohl scheinbar in allen Kulturen und zu jeder Zeit, und zudem überall auf der Welt, den Glauben an etwas Überirdisches, etwas Zauberhaftes gegeben. Also auch im Regenwald. Ich erinnere mich an meine Studienzeit. Da sprachen wir alle vom heiligen Gral, von der sagenumwobenen, verschwundenen Bundeslade. Keiner wusste, um was es da eigentlich ging, aber alle redeten wir davon, dass es unheimlich wichtig sein müsse. Denke nur an die griechische Mythologie, das goldene Vlies, Troja, die Zerberusse. Zeus, die Heldensagen. Aber Sagen, Legenden und Mythen werden immer das bleiben, was sie darstellen sollen. Mysteriöses, gewünschtes. Und dieses lockende unerreichbare, hat noch viele weitere Namen: Der Apfel der Erkenntnis, das Füllhorn, Tischleindeckdich, der Trank der ewigen Jugend, der Stein der Weisen, der Jungbrunnen, Excalibur, El Dorado, Atlantis. Sternschnuppen, vierblättrige Kleeblätter, Wünschelkraut. Alles Gedankengebilde der Menschen mit Wünschen versehen. Die Druiden, die Alchemisten, die Priester, die Schamanen und Gurus, das waren schon immer diejenigen, die weiter sehen konnten als der normale Mensch in seiner Unkenntnis der Zusammenhänge. Das waren allesamt Betrüger am Menschen. Und so wird es immer weitergehen. Die einen wünschen sich in ihrer Schlichtheit und vielleicht aus einer Not heraus etwas, und die anderen streuen Gerüchte und angebliche Wahrheiten, um daraus Kapital zu schlagen und sie in Wirklichkeit zu manipulieren. Jetzt bekommt die Galerie diese wundersamen, komischerweise nie erreichbaren Dinge Zuwachs durch dieses angebliche Wundermittel der Indios, an die ich schon so lange gar nicht mehr gedacht hatte. Die unbekannten Indios nannten es nämlich: „Tränen der Götter“. Was für ein gewaltiger Name! Der passt aber gut in die Reihe der anderen frommen Wünsche und Märchen. Wenn wir so was hätten, ja, dann gäbe es Hoffnung für viele. Vielleicht sogar für Fälle wie Ina Stephan.“ Jorge ließ seinen Vater komplett aussprechen, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Als er merkte, dass der im Moment dazu nichts mehr zu sagen hatte, sprach er. „So weit, so gut, Papa. Du hast dabei nur ein paar unwesentliche Kleinigkeiten ausgelassen. Und zwar die Kräfte, die niemand so richtig erklären kann. Telekinese, Telepathie, Teleportation und die ganzen anderen unbewiesenen, aber vorhandenen Kräfte. Kryokinese, das plötzliche einfrieren von Dingen, Pyrokinese, das plötzliche entflammen von Dingen, Omnilingualismus, das Verstehen und Beherrschen aller Sprachen und Dialekte. Replikation, das selber Vervielfältigen an verschiedenen Orten. Ich kann mich an meine Jugend erinnern. Ich las immer die Romane über Perry Rhodan. Dort gab es immer Mutanten, die alle möglichen Kräfte in dieser Art besaßen. Und auch heute gibt es genug Zeugnisse von all diesen Dingen, Kräften und Vorkommnissen. Es gibt Menschen mit fotografischen Fähigkeiten, lebende Magnete, mathematische Superhirne die jedem Computer beweisen können, das er einen Tritt verdient hat. Alles Mögliche an Kräften und Fähigkeiten gibt es. Ist das nicht auch immer alles als Scharlatanerie abgetan worden? Das alles hat es nach Meinung derer, die es ja angeblich wissen müssen, nie gegeben und gibt es heute noch nicht. So wie du gerade über die anderen mysteriösen Dinge gesprochen hast. Wer sagt uns denn, dass es dieses Mittel wirklich nie gegeben hat? Nur weil es kein anderer kennt? Vielleicht ist es verschollen, aber dann könnte man doch danach suchen, oder nicht? Troja war auch nur eine Legende und erwies sich nach tausenden Jahren als real. An Penicillin glaubte auch erst niemand. Ein Mittel wie Viagra galt als unmöglich. Erst ein Robert Koch musste uns den Zusammenhang von Krankheiten und Bakterien nahebringen, bevor man daran glaubte. Fliegen war vor hundertfünfzig Jahren ein Unding für den Menschen. Und die Erde war für die Menschheit lange Zeit eine Scheibe, bevor mutige Männer endlich das Gegenteil bewiesen. Wie würdest du das denn nennen, was meine beiden Töchter machen? Kindliche Fantasie oder pubertäre Spinnerei vielleicht? Oder willst du das auch leugnen? Wach auf Vater, bitte. Es gibt mehr Dinge, von denen auch Gelehrte wie du keinerlei Ahnung haben, als uns allen vielleicht lieb sein kann. Dinge die hilfreich sein können oder das genaue Gegenteil bedeuten. Verschließe bitte nicht die Augen vor der Wahrheit, die eventuell unmittelbar vor dir steht. Gerade du als mein Vater nicht. Und jetzt erzähl mir bitte nochmal haarklein, was genau damals alles passiert sein soll, soweit du dich noch daran erinnern kannst.“

       Carmen I

      Es fing an, als Carmen und Mia fünf Jahre alt waren. Jorges Zwillinge waren bis dahin absolut normale, unauffällige Kinder. Sie spielten wie kleine Mädchen, sie lachten wie kleine Mädchen, und sie verhielten sich auch sonst in allem wie es kleine Mädchen tun. Jorge und seine Frau Elena waren mit ihnen eines schönen Sommertags am einsamen Strand von Staberhuk auf der Ostsee Insel Fehmarn. Sie hatten in Burg ein Ferienhäuschen gemietet und wollten vierzehn wundervolle Tage nur entspannen und mit den Kindern genießen. Die vier gingen viel spazieren und fuhren oft mit den Fahrrädern über die schöne, flache Insel. In der Regel wurde der Strand immer von einigen Anglern aufgesucht, die hier ihre Boote umständlich zu Wasser brachten, da er als Geheimtipp zum Dorsch und Meerforellen Angeln in der Ostsee galt. Aber an diesem schönen Tag waren sie bis auf ein paar gemütlich dahin schlendernde Strandwanderer ganz allein. Die Angler waren schon längst draußen auf dem Meer. Links hinter ihnen stand der große Wach- und Radarturm der Bundeswehr. Ein mittelgroßer, blonder Mann stand wie ein Nordlicht auf einer Plattform und schaute sonderbar lange mit seinem Fernglas auf das Wasser und die draußen treibenden Anglerboote. Elena hatte morgens schnell alles zu einem Picknick am Strand vorbereitet. Die Mädchen sausten schon am Wasser hin und her, und bewarfen sich mit den angeschwemmten Tangfetzen. Dann suchten sie auf einmal nach Bernstein. Groß war aber ihre Freude, als sie stattdessen im feuchten Tang ein noch lebendes Seepferdchen fanden. Sie brachten es gleich zu ihren Eltern. Der Vater musste ihnen leider mitteilen, dass das Seepferdchen gerade im Sterben lag. Es war schon zu lange ohne den nötigen Sauerstoff, den es im Wasser hatte. Die Mädchen weinten beide hemmungslos, als es bald darauf tot war und sich nicht mehr rührte. Sie legten es auf einen flachen Stein und drapierten Blumen, die sie im Gras am Hang fanden, um das arme Tierchen. Dann saßen sie nur davor und schauten es an. Die Eltern ließen sie dort in Ruhe sitzen und zogen sich auf ihre Decke zurück. Die Sonne stieg höher und es wurde wärmer. Sie fingen eine halbe Stunde später, nachdem sich die Mädchen wieder beruhigt hatten, mit dem Essen an. Die Mutter hatte in einer Kühlbox einen ihrer beliebten Eiersalate mitgebracht und frische Brötchen hatte Jorge beim Bäcker besorgt. Als alle beim Essen waren, kamen bald die ersten Wespen als ungebetene Gäste, natürlich angezogen vom unwiderstehlich leckeren Geruch des Salates. Jorge hatte in seinem Auto eine alte Fliegenklatsche entdeckt und sie vorsichtshalber mitgenommen. Er hatte keine Ahnung, wieso diese Klatsche gerade hier am Strand in seinem Kofferraum zum Vorschein kam. Aber wenn sie schon so unerwartet auftauchte, dann konnte sie sich ja auch eventuell auch bezahlt machen. Er nahm sie mit. Und die passende Gelegenheit kam schneller, als er erwartet hätte. Kaum das Elena die Kunststoffschüssel mit dem Salat aufgemacht hatte summten schon die ersten fliegenden Mitesser herum. Der Geruchssinn einer Wespe steht dem eines Hundes wahrscheinlich in nichts nach. Kein Windhauch regte sich, aber die gelb schwarz gestreifte Strandpatrouille war auf der Hut. Zum Glück hatte Jorge den schlagenden Beweis, wie er die Klatsche nannte, im Wagen gefunden. Sollten sie ruhig kommen, die Biester mit den stichhaltigen Argumenten zum Abräumen des Eigenanteils an der Mahlzeit. Denen würde er es schon besorgen. Und es dauerte bis zum ersten Angriff auch nicht allzu lange. Eine Wespe landete prompt genau an der Seite der Schüssel mit dem Eiersalat und kroch flink nach oben auf den Rand zu. Dort wollte sie gerade nach Wespenart herum wuseln, als Jorge sie zielgenau mit der Klatsche erschlug. Der Schlag war so geschickt von ihm geführt, dass die Schüssel nicht mal wackelte. Elena murrte trotzdem empört. Die Wespe fiel tödlich getroffen auf die Tischdecke und zuckte noch ein paarmal, bis sie völlig still da lag, ähnlich wie das Seepferdchen vorhin. Das sahen die beiden Mädchen gleichzeitig. „So“, sagte Jorge zufrieden. „Du nicht mehr.“ „Die nächste, bitte.“ Mia fing

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