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der deutschen Klassiker durch seine Initiative und Generosität schuf, ihn findet freilich mein Dank nicht mehr; Alfred Walter Heymel, den Begründer der Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker, hat der Tod in Flandern vom Sattel gehoben, und auch er, dessen Werk in dieser neuen Form ich in diesen Tagen wie zum erstenmal genieße, auch er, Goethe, ist irdischem Danke entrückt. Der Anlaß ist ins allgemeine zurückgefallen, und so dankt in mir das Gefühl nur dem eigenen Erlebnis.

      Nun habe ich's schon gesagt, daß ich der Neuausgabe von Goethes Gedichten in dieser entzückenden Taschenform seltene und nun siebenfach seltene Freude schulde, aber keineswegs möchte ich's vordringlich als sonderliche und persönliche Entdeckung rühmen, daß Goethesche Gedichte, wann immer sie wieder einem sich auftun, unendliche Tröstung schaffen, noch mich vermessen, von ihnen etwas Neues und Bedeutsames rühmen zu können. Sie anzupreisen, Goethes Gedichte, tut wahrlich nicht not, dann wer kennt sie nicht? Im flüchtigsten Wort des Gespräches eines jeden von uns ist viel von ihnen geheimnisvoll unbewußt als geprägtes Wort lebendig, Sprichwort und Rede sind getränkt von ihrem Saft, Schrift und Satzbild trächtig von ihren lebendigen Kräften. Mit dem Buchstaben, mit dem Alphabet fast schon lernt der Deutsche sie sich ein, denn schon aus der viereckigen Fibel, die man noch mit kleinen Händen vor dem ungeübten Blick hob, buchstabierte man sich die ersten heraus, das ›Heideröslein‹ etwa oder ›Gefunden‹. Aufsteigend in der Schule, ist man anderen Versen dann vertraut geworden, hat manche selbst vor dem Katheder unsicher und als etwas unwillig Gelerntes gestammelt, hat diese Balladen später vielleicht, getragen vom flügelnden Schlag der Stimme Kainzens, in sich eingeklungen, andere wieder – und von Jahr zu Jahr andere – sich selbst entdeckt beim Schein einer abendlichen Leuchte oder auf einem Gang übers Feld. So allgemein bekannt und vertraut sind sie dem Deutschen Goethes Gedichte, daß der Begriff der Bildung fast bestimmt ist und gebunden an ihre Kenntnis – und doch, und doch, wie konnte es geschehen, daß sie mir diesmal neu wurden, ohne mir je fremd gewesen zu sein, daß ich sie wieder las in dieser Ausgabe wie zum erstenmal und ihnen dankte wie vielleicht nie zuvor? Was hat sie, die immer schon Seelenhaften, nun so seltsam neubeseelt, daß ihr altgewohnter Besitz sich nochmals zurückverwandeln konnte in ein wie erstes Erleben?

      Nur ein Geringes ist in dieser neuen Gesamtausgabe anders als in allen bisherigen, nichts ist verwandelt in Gewicht und Gehalt, nur die Form ist leicht gewandelt und – da der Sinn an Formen hängt – mit ihr auch der innere Sinn. Eine kleine Verschiebung, eine anscheinend ganz unbeträchtliche, eine philologische Umstellung ist vorgenommen, aber so wie im Kaleidoskop ein kleiner Ruck genügt, um das farbige Glasmosaik in ein ganz neues Ornament zusammenrieseln zu lassen, so hat hier in dieser neuen Anordnung der kleine Ruck einer liebevoll gewandten Hand den Sinn des Ganzen wesenhaft verwandelt. Bisher waren fast alle Ausgaben entweder Auswahlen, deren Lese und Ordnung der Geschmack und die persönliche Absicht des Wählenden bestimmte, oder sie ordneten sich als Gesamtausgaben jener Gruppierung der Ausgabe letzter Hand nach, die im wesentlichen noch von Goethe selbst herstammt. Dort war die gewaltige Zahl der Gedichte um einzelne Kreise, einzelne Begriffe methodisch gereiht, deren Überschriften »Natur «, »Kunst«, »Antiker Form sich nähernd«, »Gott und Welt« Goethe selbst mit prägnanten Denksprüchen begleitete. Wie ein Blumenstrauß waren dort die Verse zusammengebunden um einen inneren Begriff, das ungeheure lyrische Reich aufgeteilt in einzelne Provinzen der Seele und der Sinne. Hier nun ist die künstlerische Einordnung zerstört, um der Übersicht willen das Organische nicht der Kunst, sondern des Lebens erstrebt. Zum erstenmal in einer Gesamtausgabe erscheinen hier Goethes Gedichte chronologisch geordnet, einzig gereiht nach dem bunt-bedeutsamen Durcheinander ihrer Entstehung. Die kunstvollen Blumensträuße sind wieder aufgebunden und von sorglicher Hand jede einzelne wieder eingesenkt in das Erdreich, in die Landschaft seines zeugenden Lebens, das ordnende Prinzip nicht in der Kunst Goethes, sondern in seiner Existenz gefunden, die wir längst gewohnt sind, selbst als ein Kunstwerk zu betrachten und zu verstehen. Es sind eigentlich nicht Goethes Gedichte mehr, die diese neue Ausgabe uns genießen läßt, sondern Goethes Leben im Gedicht.

      Bei jedem anderen Dichter wäre die Zulänglichkeit und Ersprießlichkeit eines solchen Unternehmens, das unscheinbar und bescheiden eine kaum übersehbare Fülle philologischen Fleißes in sich schließt, in Diskussion zu ziehen. Bei Goethe aber, der seinem schöpferischen Werk die Formel fand: »Poetischer Gehalt ist Gehalt des eigenen Lebens«, dient in wunderbarer Wechselwirkung jede Biographie zum Begreifen seines Kunstwerkes, jedes Kunstwerk zum Erfassen seiner irdischen Natur. Bei keinem so sehr wie bei ihm steigert sich das Genießen des Gestalteten so durch die Beziehung auf sein Leben, erklärt sich Bedeutsamstes der inneren Welt so sehr durch äußeren Anlaß. Alles, auch das Entfernteste, hat ja bei ihm Bezug auf Tatsächlichkeiten, und niemand hat es deutlicher als er selbst bekannt, damals im denkwürdigen Gespräche mit Eckermann: »Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte: sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden«, und mit diesem Bekenntnis uns berechtigt, diesen Bezug immer wieder aufs neue zu suchen. Liest man die Gedichte nun zum erstenmal in dieser neuen Ordnung, ganz so wie sie vor einem Jahrhundert Tag um Tag, Jahr um Jahr seiner steigenden und allmählich wieder erstarrenden Schöpfungskraft entquollen sind, so erlebt man sie in einem neuen und viel persönlicheren Sinn als je zuvor, denn alles hat nun Beziehung auf sein Schicksal, spiegelt in leichten oder starken Reflexen fremde Gestalten, Frauen und Landschaften, Stadt und Reisen bis ins einzelne Gedicht hinein. Gleichsam ein Hintergrund ist hinter jedes einzelne gestellt, ein Rahmen jedem Bilde umtan, der seine Farben seltsam verstärkt, und mancher Klang in einem oft gelesenen Vers hat mit einem Male seltsam bewegte Resonanz von verklungenem Leben. Was früher ein Beisammensein war von Gedichten, ist nun eine einzige Wanderschaft durch die gesegneten siebzig Jahre seiner schaffenden Existenz, durch die Landschaft seines unvergleichlichen Lebens.

      Wunderbar, wie man sie fühlt, diese Landschaft seines Lebens, geführt vom Gedicht, denn nicht still und kalt liegt sie da, gleichsam in seinem warmen Blute wandern wir hin und spüren nachfühlend die Jahreszeiten des Lebens. Frühling, Sommer, Herbst und Winter ist darin, mit allen Mysterien des Überganges, und gleichzeitig schließt jenes andere Geheimnis sich auf, das Erwachen der Kunst, das Blühen und Erstarren des bildnerischen Triebes mit dem blühenden und wieder erkaltenden Blute. Das erste Blatt gleich das Gelegenheitsgedicht des Achtjährigen an seine Großeltern ›Bey dem erfreulichen Anbruch des 1757. Jahres seinen hochgeehrten und herzlichgeliebten Großeltern von derselben treugehorsamsten Enkel gewidmet‹. Es tut die Frankfurter Kinderstube rührend auf, zeigt wie ein kleines Pastell den Knaben im heimischen Kreis. Ungelenk, starr wie die Schrift auf dem gelblichen Blatt, das im Hause am Hirschgraben zu Frankfurt zu sehen ist, plagt sich der Ausdruck mit vorgezeichneten Formen: wie die Feder der kindischen Hand, so wehrt sich das Wort noch dem Reim. Ein paar Seiten weiter und wir blättern seine Knabenjahre mit, an denen die spielerischen Versuche immer mehr Gelenkigkeit gewinnen, französische und deutsche, englische Gedichtlein fließen flink und sauber von der leichten Schülerhand. Dann plötzlich eine Überschrift: Leipzig, der muntere Vogel ist flügge geworden und aus dem Nest. Mit einmal ist er nun der junge Student, der an der Pleiße zwischen Spaß und Spiel, Kolleg und Tanzen, Reiten und Fechten modische Verslein macht, Verse, die sich bald in Alexandrinerfloskeln verschnüren, mit bunten Schäferbändern behängen, bald wieder im burschikosen Übermut den Mummenschanz sich abreißen und mit derben Reimen wie mit der Peitsche knallen. Unwillkürlich blättert man sich dazu das Silhouettenbildnis des damaligen Studenten Johann Wolfgang auf, das zierliche Bürschchen mit Zopf, Puderquaste und Spazierstock, aus dessen Profil noch ganz der spielerische Knabe lugt, der sich vergnüglich in Klein-Paris die Zeit vertreibt. Man blättert weiter in diesen lyrischen Tändeleien, blättert weiter vorbei an der neuen Jahreszahl, dem neuen Orte Straßburg, um plötzlich in wundervoller Überraschung zu erschrecken. Denn da ist plötzlich ein Gedicht, ein wirkliches Gedicht, das vollendete herrliche Gedicht mit dem strömenden, stürmenden Anfang: »Es schlug mein Herz; geschwind zu Pferde!« Staunend spürt man, hier hat aus losem Spiel plötzlich das ewig-unbegreifliche Wunder in diesem Menschen begonnen, das nicht mehr endet für ihn und nicht mehr für uns, hier ist in diesen Friederiken-Liedern zum erstenmal das deutsche lyrische Gedicht geschaffen und vollendet zugleich. Und von diesem Blatte an, von diesem ersten wahrhaften Gedicht, das den lyrischen Menschen in ihm gleichsam aufgesprengt hat, strömt's dahin, strömt's, ein ungeheurer rauschender Bach diese ganzen anderthalbtausend Seiten mit einer Fülle, die immer unbegreiflicher wird an jedem erneuten Erleben. Die wundervollen Jahre

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