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Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke. Selma Lagerlöf
Читать онлайн.Название Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783746750200
Автор произведения Selma Lagerlöf
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Auf dem Ostberge.
Dienstag, 4. Oktober.
Wer sich in Gebirgsgegenden aufgehalten hat, weiß, wie beschwerlich der Nebel sein kann, der dahergewälzt kommt und die Aussicht verhüllt, so daß man nichts von allen den schönen Bergen zu sehen bekommt, die ringsumher aufragen. Der Nebel kann einen mitten im Sommer überfallen, und im Herbst, kann man wohl sagen, ist es ganz unmöglich, ihm zu entgehen. Niels Holgersen hatte eigentlich immer gutes Wetter gehabt, solange er in Lappland gewesen war, kaum aber hatten die Wildgänse ausgerufen, daß sie jetzt nach Jämtland hineinflögen, als sich die Nebel so dicht um sie zusammenzogen, daß er nicht das geringste von dem Lande sehen konnte. Er reiste einen ganzen Tag darüber hin, ohne zu wissen, ob er in ein Gebirgsland oder in ein Flachland gekommen war.
Gegen Abend ließen sich die Wildgänse auf einem grünen Platz nieder, der nach allen Seiten sanft abfiel, da war es ihm denn klar, daß er sich auf dem Gipfel eines Hügels befand, aber ob dieser groß oder klein war, konnte er nicht erkennen. Er dachte, daß sie sich in einer bewohnten Gegend befinden müßten, denn es war ihm, als könne er sowohl Menschenstimmen als auch das Rasseln von Wagen unterscheiden, die auf einem Wege dahinrollten, aber ganz sicher war er seiner Sache nicht.
Er hätte schrecklich gern versucht, einen Hof zu finden, aber er fürchtete, sich im Nebel zu verirren, und so wagte er denn nicht, die Wildgänse zu verlassen. Alles tropfte von Nässe und Feuchtigkeit. An jedem Grashalm und an jedem kleinsten Kraut hingen kleine Tropfen, so daß er eine Regendusche bekam, sobald er sich nur rührte. »Dies ist ja nicht viel besser als da oben im Felstal,« dachte er.
Aber ein Paar Schritte wagte er denn doch zu gehen, und nun konnte er dicht vor sich ein Gebäude unterscheiden. Es war nicht gerade groß, wohl aber viele Stockwerke hoch, das Dach konnte er nicht sehen. Die Tür war verschlossen und das ganze Haus schien unbewohnt zu sein. Er begriff, daß es nur ein Aussichtsturm war, und daß es dort weder Essen noch Wärme für ihn gab. Er eilte aber trotzdem, so schnell er konnte, zu den Wildgänsen zurück. »Lieber Gänserich Martin,« sagte er, »nimm mich auf den Rücken und trage mich auf die Spitze des Turmes da drüben hinauf! Hier ist es so naß, daß ich nicht schlafen kann, aber da könnte ich vielleicht ein trockenes Plätzchen finden, wo ich schlafen könnte.«
Der Gänserich Martin war sogleich bereit, ihm zu helfen; er setzte ihn auf der Turmgalerie ab, und dort schlief der Junge in guter Ruhe, bis die Morgensonne ihn weckte.
Als er nun aber seine Augen aufschlug und sich umsah, konnte er anfangs nicht begreifen, was er sah und wo er sich befand. Er war einmal auf einem Jahrmarkt in einem Zelt gewesen und hatte ein großes Panorama gesehen, und nun war es ihm, als stünde er wieder mitten in so einem großen, runden Zelt, das eine feine, rote Decke hatte, während an den Wänden und am Fußboden eine ausgedehnte Landschaft gemalt war, mit großen Dörfern und Kirchen, Marktplätzen und Landstraßen, ja sogar mit einer Stadt. Es ward ihm ja bald klar, daß es sich nicht wirklich so verhielt, sondern daß er oben auf einem Aussichtsturm stand, den roten Morgenhimmel über sich und ein wirkliches Land ringsumher. Aber es war nun so lange her, seit er etwas anderes als öde Gegenden gesehen hatte, und da war es denn nicht zu verwundern, daß er das, was er jetzt sah, und was eine dicht bebaute Gegend war, für ein Gemälde hielt.
Auch noch etwas anderes bewirkte, daß der Junge alles, was er sah, für ein Gemälde hielt: es hatte nämlich nichts seine richtige Farbe. Der Aussichtsturm, auf dem er stand, war auf einem Berg erbaut, der Berg lag auf einer Insel und die Insel lag dicht an dem östlichen Ufer eines großen Sees. Aber dieser See war nicht grau, wie es Binnenseen sonst zu sein pflegen, sondern ein großer Teil seiner Fläche war ebenso rot wie der Morgenhimmel, und in den vielen, tiefen Buchten schimmerte das Wasser fast schwarz. Und dann war das Land rings um den See nicht grün, sondern es schimmerte hellgelb mit allen den Stoppelfeldern und dem gelben Birkenwald an den Ufern. Rings um das Gelbe aber zog sich ein breiter Gürtel aus schwarzem Nadelwald. Vielleicht weil der Laubwald innerhalb des dunklen Fichtenwaldes so hell erschien, meinte der Junge, noch nie einen so schwarzen Wald gesehen zu haben wie an diesem Morgen. Jenseits dieses Schwarzen sah man im Osten licht blauende Höhen, aber am ganzen westlichen Horizont entlang erstreckte sich ein langer, glänzender Bogen aus zackigen, verschieden gestalteten Bergen, die eine so feine und sanfte und strahlende Farbe hatten, daß er sie nicht rot und auch nicht weiß und auch nicht blau nennen konnte. Es gab gar keine Bezeichnung dafür.
Aber der Junge wandte den Blick ab von den Bergen und Nadelwäldern, um die nähere Umgebung besser in Augenschein zu nehmen. Rings um den See herum, in dem gelben Gürtel, konnte er allmählich ein rotes Dorf erkennen und eine weiße Kirche nach der anderen, und ganz im Osten, jenseits des schmalen Sundes, der die Insel von dem Festlande trennte, lag eine Stadt. Die streckte sich am Seeufer aus, dahinter stand ein Berg und beschützte sie, und ringsumher lag eine reiche und bevölkerte Gegend. »Die Stadt hat es wirklich verstanden, sich eine gute Lage zu schaffen,« dachte der Junge. »Ich möchte wohl wissen, wie sie heißt.«
Im selben Augenblick fuhr er heftig zusammen und sah sich um. Er war völlig von der Betrachtung der Gegend in Anspruch genommen gewesen und hatte nicht bemerkt, daß Menschen auf den Aussichtsturm gekommen waren.
Sie kamen jetzt die Treppe hinaufgelaufen. Der Junge hatte gerade noch Zeit, sich nach einem Versteck umzusehen, um sich dort zu verbergen, da waren sie auch schon oben.
Es war eine Schar junger Leute, die sich auf einer Fußwanderung befanden. Sie sprachen davon, daß sie ganz Jämtland durchstreift hatten und freuten sich nun, daß sie Östersund noch am vorhergehenden Abend erreicht hatten, und daß sie einen so schönen, klaren Morgen hatten, um die weite Aussicht vom Östberge hier auf dem Frösö genießen zu können. Von hier aus konnten sie über zwanzig Meilen nach allen Seiten sehen, und noch einen letzten Blick auf ihr liebes Jämtland werfen, ehe sie von dannen zogen. Sie zeigten einander die vielen Kirchen, die rings um den See lagen. »Dort unten haben wir Sunnek,« sagten sie, »und da liegt Marby und da drüben Hallen. Die Kirche hier im Norden ist die Bödöerkirche und die dort an der Eisenbahn die von Frösö.« Dann begannen sie, von den Bergen zu sprechen. Die zunächstgelegenen waren die Oviksfjelde. Darin waren sie sich alle einig. Aber dann waren sie sich nicht klar darüber, welches wohl der Klövsjöfjeld sei, und welcher Gipfel der Anarisfjeld sein könne, und wo der Vesterfjeld und der Almåsaberg und der Åreskutan lägen.
Während sie hierüber redeten, holte ein junges Mädchen eine Karte heraus, breitete sie auf ihrem Schoß aus und begann, sie zu studieren. Plötzlich sah sie auf. »Wenn ich Jämtland so auf der Karte sehe,« sagte sie, »so finde ich, daß es einem großen, stolzen Felsen gleicht. Ich denke mir immer, daß ich eines schönen Tages hören werde, Jämtland hat einstmals ganz aufrecht dagestanden und geradeswegs zum Himmel hinauf gezeigt.« – »Das müßte wahrlich ein riesiger Felsen sein,« meinte ein anderer und lachte sie aus. »Freilich, und darum ist er auch wohl umgefallen. Seht aber doch selbst einmal, gleicht Jämtland nicht einem richtigen Hochgebirge mit breitem Fuß und spitzem Gipfel?« – »Es paßt gar nicht schlecht für ein Gebirgsland, selbst auszusehen wie ein Felsen,« sagte einer von den jungen Leuten. »Aber obwohl ich andere Sagen von Jämtland gehört habe, so habe ich doch niemals ...« – »Hast du Sagen von Jämtland gehört?« rief das junge Mädchen, und ließ ihm nicht einmal Zeit, den Satz zu vollenden. »Dann mußt du sie uns gleich erzählen. Das paßt nirgends besser als hier oben, wo man das ganze Land sehen kann.«
Alle stimmten darin überein, und der junge Mann ließ sich nicht lange nötigen, sondern begann sogleich:
Die Sage von Jämtland.
»Zu jenen Zeiten, als es noch Riesen in Jämtland gab, geschah es einmal, daß ein alter Bergriese auf dem Hof vor seinem Hause stand und seine Pferde striegelte. Während er hiermit beschäftigt war, sah er, daß die Pferde vor Angst zu zittern begannen. ›Was fehlt euch nur einmal, meine Pferde?‹ sagte der Riese und sah sich um; er wollte gern wissen, was die Pferde so erschreckt haben konnte. Es waren jedoch weder Wölfe noch Bären in der Nähe zu entdecken.