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wie Vater »meine Lotte« zu ihr zu sagen. Wie sehnte sich Nesthäkchen nach diesen beiden Worten, dem Kosenamen aus ihrer Kleinkinderzeit. Denn wenn Vater auch in seinen Karten an die Großmama »seine Lotte« grüßen ließ, das war doch ganz anders, als wenn Mutti sie dabei in ihre Arme nahm.

      Mutti gab gar keine Nachricht. Nicht eine Zeile kam von ihr, so oft Annemarie auch schon an sie geschrieben hatte. Ja, hatte die Mutter sie in England bei den Feinden denn ganz vergessen?

      Zuerst hatte Annemarie die Großmama gefragt und bestürmt. warum Mutti denn gar nichts mehr von ihnen wissen wollte. Aber als sie merkte, daß Großmama jedesmal dadurch traurig wurde, ja, daß sie sogar Tränen in den Augen hatte, fragte Nesthäkchen nicht mehr. Denn es wollte die gute Großmama nicht betrüben.

      Dafür wandte sich Annemarie aber um so angelegentlicher an die Brüder. Hans, der Große, beruhigte das kleine Mädchen. Vielleicht blieben alle Briefe an der Grenze liegen und wurden überhaupt nicht in das feindliche Land hineingelassen. Das war eine sehr verständige Auskunft des Obersekundaners.

      Klaus aber, in dessen Kopf der Krieg sämtliche Räubergeschichten, die er jemals gelesen, wieder aufgewirbelt hatte, wirkte weniger beruhigend auf das Schwesterchen.

      »Paß auf, Annemie, Mutti ist bestimmt von unsern Feinden gefangen genommen worden. Am Ende haben die Engländer sie in ein finsteres Schlossverlies gesperrt, wo sie nicht mal Wasser und Brot kriegt. Aber wenn ich groß bin, Annemarie, dann reise ich nach England und befreie Mutti. Dann wirst du sie gar nicht mehr wiedererkennen, denn sie hat bestimmt weiße Haare vor Gram bekommen.«

      Nesthäkchen machte entsetzte Augen. Hans aber lachte: »Schwindele doch der Kleinen nichts vor, Junge! Mutter ist sicherlich bei Onkel und Tante auf ihrem Landsitz und läßt sich das englische Roastbeef da schmecken.«

      »Und wenn sie nicht mal Wasser und Brot in ihrem Felsverlies bekäme, dann wäre sie ja längst verhungert, bis du groß bist, Klaus«, fiel Annemarie ein.

      Aber die Schauermär von Klaus hatte doch Eindruck auf die Kleine gemacht. Beim Abendbrot legte sie plötzlich die Gabel hin. Der Happen würgte sie im Halse. Trotzdem es ihr Leibgericht gab, Kartoffelpuffer mit Kompott.

      »Herzchen, fehlt dir was?« forschte Großmama sofort ängstlich.

      »Nee – nee – ich kann bloß nicht mehr essen«, Nesthäkchen begann plötzlich grundlos zu weinen.

      Das war bei dem lustigen Ding fast ebenso merkwürdig wie die Appetitlosigkeit. Mit Recht machte sich Großmama Gedanken. Sie forschte und drang in das Kind, bekam aber keine andere Antwort als: »Mir ist ganz gut zumute, ich kann aber nicht mehr essen.«

      Großmama, welche es mit der Verantwortung für die Enkelkinder in Abwesenheit der Eltern sehr ernst nahm, entschloß sich, an den Arzt, dem Vertreter ihres Schwiegersohnes, zu telefonieren und ihn zu bitten, möglichst noch am selben Abend nach dem Kinde zu sehen.

      Der Arzt kam denn auch und wurde von der Großmama an Annemaries Bett geführt, denn das kleine Mädchen war bereits schlafen gegangen. Da versteckte sich ein tränenüberströmtes Gesichtchen in den Kissen.

      »Herr Doktor, das Kind ist bestimmt krank, sicherlich hat es irgendwo Schmerzen. Warum sollte es denn sonst weinen! Es ist solch ein heiteres, kleines Mädel.« Die Großmama war ganz blaß vor Aufregung.

      »Das wollen wir gleich feststellen. Na, nun sage mir mal, wo es dir weh tut, mein Kind.« Nesthäkchen, das Zeit ihres Lebens gewöhnt war, nur vom Vater behandelt zu werden, wenn es krank war, schüttelte den Blondkopf. Es schämte sich, daß der fremde Herr Doktor sah, daß es geweint hatte.

      Der begann inzwischen eingehend zu untersuchen. Aber soviel er auch klopfte, horchte und befühlte, er konnte beim besten Willen nichts finden. Das kleine Mädchen war kerngesund.

      »Welche Anzeichen haben Sie denn für die Krankheit, gnädige Frau?«

      »Das Kind wollte nicht essen und hat geweint.«

      »Hat sie gefiebert oder sich übergeben?«

      Großmama schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht der Fall gewesen.

      »Ich rate, die Kleine jedenfalls morgen im Bett zu lassen, vielleicht entwickelt sich irgendeine Kinderkrankheit. Leichte Kost, dreimal täglich Temperatur messen und vor Erkältung in acht nehmen«, verordnete der Arzt.

      Das wurde Nesthäkchen aber nun doch zu bunt. Im Bett sollte sie bleiben, wo sie ganz gesund war! Nicht zur Strickstunde zu ihrem lieben Fräulein Hering gehen? Jawoll, daß Margot und ihre anderen Freundinnen mit ihrem Strumpf früher fertig wurden als sie! Und morgen sollte ja auch Fräulein kommen, die sie von der Bahn abholen wollte. Da sollte sie im Bett liegen? Nein, lieber besiegte sie ihre Scheu und sagte, weshalb sie geweint hatte.

      »Ich bin ja nicht ein bißchen krank, Herr Doktor, ich hab' ja bloß nicht gegessen, weil – weil –« nun stockte Annemarie doch.

      »Na, weshalb denn, mein Kind?« half der Arzt ihr aufmunternd ein.

      »Weil – weil meine Mutti in England hungern muß und nicht mal Wasser und Brot hat«, kam es plötzlich wieder jämmerlich schluchzend heraus.

      »Woher weißt du denn das, Herzchen, ist denn Nachricht gekommen?« Nun mußte die arme Großmama sich wieder um die ferne Tochter aufregen.

      »Nee – Klaus hat es gesagt.«

      Großmama atmete erleichtert auf.

      »Klaus ist ein dummer Junge, daß er dir so etwas vorredet, und du bist ein ebenso dummes, kleines Mädchen, es zu glauben. Entschuldigen Sie vielmals, Herr Doktor, daß ich Sie bei Ihrer vielen Arbeit umsonst herbemüht habe«, der alten Dame war die Sache recht peinlich.

      Aber der Arzt beruhigte sie lachend.

      »Ich freue mich, daß es umsonst gewesen ist, und daß das Töchterchen meines lieben Kollegen ganz gesund ist. Nun mache dir nur weiter keine Sorgen um die Mutter, mein Kind. So arg behandeln die Engländer Damen doch nicht, selbst wenn sie einer feindlichen Nation angehören. Grüße deinen Vater, wenn du an ihn schreibst, und sollte dir dein Bruder Klaus wieder mal derartiges erzählen, dann glaube ihm nur die Hälfte davon.« Der nette Herr Doktor nickte ihr noch einmal freundlich zu und verabschiedete sich von der Großmama.

      So wurde Annemaries Strumpf am nächsten Tage fertig. Zwar fand Marianne, daß er mehr für Elefantenbeine als für Soldatenfüße geeignet wäre, aber die war sicher nur neidisch, daß sie noch nicht so weit war.

      Annemarie aber stand gegen Abend mit Klaus auf dem Bahnhof, um ihr liebes Fräulein, das so viele Jahre für sie gesorgt, zu empfangen.

      Fräulein kannte Nesthäkchen kaum wieder. Nein, war das Mädel in dem einen Jahr gewachsen, es war ja nicht viel kleiner als sie selbst. Und kräftig und rosig war das damals so blasse Dingelchen geworden, eine wahre Freude.

      Aber zu Hause hatte Fräulein noch viel mehr Gelegenheit, über die Veränderung zu staunen, die mit Doktors Nesthäkchen vorgegangen. Wie ordentlich es im Kinderzimmer aussah, in dem Fräulein immer hatte nachräumen müssen. Und die Schubladen und Schränke, die Fräulein gleich ansehen mußte, waren ebenfalls schön aufgeräumt. Natürlich hatte Annemarie zum Empfang Großreinemachen in den nicht immer so schön aussehenden Kästen abgehalten.

      Aber auch zum Haustöchterchen hatte sich Nesthäkchen in den letzten Wochen herausgebildet. Großmama war schon alt, die sollte nicht viel tun. Und die Hanne sorgte wohl für Essen und Trinken, aber daß ein Tisch hübscher aussah, wenn eine Blumenvase darauf stand, das wußte sie nicht. Annemarie aber hatte das im Kinderheim gelernt. Auch die Fußbank brachte sie für die Großmama herbei und fegte nach dem Essen die Krümel von dem Tisch, ohne daß man es sie erst hieß.

      Noch eins fiel dem zurückkehrenden Fräulein erfreulicherweise auf – das gute Einvernehmen mit Bruder Klaus. Der große Weltkrieg hatte den Krieg, der stets früher in der Kinderstube zwischen den beiden getobt, ganz beendet. Frieden herrschte mitten im Kriege bei Doktor Brauns Sprösslingen.

      Am erstaunlichsten aber war Fräulein, als Annemarie

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