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Haus das junge Mädchen aufwuchs. Denn Vera war eine Waise.

      »Guten Tag, Vera. Nun kann sich meine Lotte mal tüchtig vor dir schämen, daß sie mit dem Klaus keinen Frieden hält. Draußen ist der Krieg nun glücklich zu Ende, aber hier in unseren vier Pfählen tobt er immer noch.« Es sollte scherzhaft klingen, aber man hörte doch einen mißbilligenden Ton aus den Worten der Mutter heraus.

      Doktors Nesthäkchen schämte sich wirklich. Es begrüßte die Freundin lange nicht so jubelnd, wie das sonst der Fall war.

      »Tag, Verachen. Sei froh, daß du keinen Bruder in Berlin hast.« Seufzend machte sich Annemarie daran, die entsprungenen Haarnadeln vom Teppich zusammenzusuchen, um die herabgerutschte Frisur wieder aufzustecken. Vera half ihr dabei.

      »Oh, ich tue serr wünschen, daß Brruder Stani lebt auch hierr in Berlin bei die Onkel und Tante. Wenn er mirr auch noch so serr ärrgern wollte. Czernowitz ist so serr weit – oh, so serr!«

      Traurig schaute das junge Mädchen in die Ferne.

      Klaus aber rief lebhaft: »Da siehst du, Annemie, wie andere Leute über Brüder denken. Wir sind ein sehr begehrter Artikel.« Pfeifend schritt er in sein Zimmer.

      »Ja, nach meinem Hänschen bange ich mich auch. Da wünschte ich ebenfalls, er studierte in Berlin und nicht in Freiburg,« rief Annemarie lebhaft hinter ihm drein.

      Inzwischen hatte das Hausmädchen eine andere Kaffeedecke aufgelegt und die Ordnung im Zimmer wieder hergestellt. Es war auch die höchste Zeit, denn zum Kränzchen war man pünktlich.

      Annemarie hatte gerade noch ihre eben erblühte mattrosa Hyazinthe, die sie in Gläsern zwischen den Doppelfenstern zog, unter Veras lebhafter Bewunderung auf den Tisch gesetzt. Da ging die Türklingel in kurzen Zwischenräumen hintereinander.

      »Eins – zwei – drrei – vierr – sie werrden kommen, alle auf eine Mal.« Die beiden Freundinnen lauschten hinaus.

      »Es können auch Patienten sein, Vater hat noch Sprechstunde.« Trotzdem es der beweglichen Annemarie in den Füßen zuckte, hinauszueilen, um zu sehen, ob die Freundinnen da wären, bezwang sie ihre Ungeduld. Der Vater liebte es nicht, wenn sie sich während der Sprechstunde im Korridor aufhielt.

      Es waren die Kränzchenschwestern. Alle vier zugleich. Das heißt, Ilse Hermann und Marlene Ulrich, die beiden Cousinen, erschienen nie eine ohne die andere. Sie holten sich stets gegenseitig ab.

      »Tag, Annemie, Tag, Vera – puh, ist das ein Wetter!« Die Freundinnen brachten einen frischen Hauch von Winterkälte mit in das mollige Zimmer.

      »Marianne, du hast dir die Füße nicht ordentlich auf der Strohdecke draußen abgetreten,« sagte Margot Thielen, die peinlich saubere, und wies vorwurfsvoll auf die schwärzlichen Spuren, die Mariannes derbe Stiefel auf dem hellgrauen Teppich hinterließen.

      »Macht nix – trocknet wieder,« entschied Annemarie mit der ihr eigenen Sorglosigkeit. »Kommt nur gleich Kaffee trinken, da werdet ihr am schnellsten warm.«

      »Ich sitzen auf die Sofa« – »au, Pfannkuchen« – »habt ihr die Mathematikaufgaben schon gemacht« – »na, ich kriege sie nicht raus« – »ach, Kinder, fangt doch bloß nicht gleich mit der dummen Schule an, dazu ist nachher auch noch Zeit,« so schwirrten die Mädchenstimmen lustig durcheinander.

      Minna brachte den Kaffee. Aber einschenken mußte ihn die junge Wirtin selber. So verlangten es die Kränzchenparagraphen. Ob es die Minna nun zu gut gemeint und die Kanne zu voll gefüllt hatte, oder ob Annemaries huschliges, unachtsames Wesen die Schuld daran trug, genug – auch die zweite Kaffeedecke mußte dran glauben. Diesmal war es ein bräunlicher See, der sich zu Füßen der mattrosa Hyazinthe ergoß.

      Aber das störte die fidele Kränzchenlaune durchaus nicht. Wenn auch Margot Thielen, »Tugendschäfchen« genannt, sich nicht enthalten konnte, auszurufen: »Au weh, Annemie, deine Mutter wird schön schimpfen.«

      Man ließ es sich schmecken. Ein edler Wettstreit entspann sich um den zu teilenden Pfannkuchen. Keine wollte einen ganzen essen, jede verzichtete großmütig zugunsten der andern. Der Erfolg davon war, daß sogar noch zwei Pfannkuchen übrig blieben. Bei einem Haar wären dieselben noch in Klaus' unersättlichen Magen gewandert. Als er im Nebenzimmer den uneigennützigen Wettstreit vernahm, erbot er sich großmütig, sich zu opfern und die mit Pflaumenmus gefüllten beiden Urheber der lebhaften Auseinandersetzung ebenfalls noch zu vertilgen, auf daß sie den Kränzchenfrieden nicht störten.

      »Jawoll, das könnte dir passen, aber daraus wird nichts, mein Söhnchen,« erhob Annemarie lebhaft Einspruch. Sie wurde darin von der Mutter unterstützt, welche die jungen Gäste ihres Töchterchens gerade zu begrüßen kam. Frau Doktor Braun schlug vor, eine ehrliche kränzchenschwesterliche Teilung vorzunehmen, jeder Pfannkuchen in drei Teile.

      »Nee, aussteinen müßt ihr,« rief Klaus dazwischen, »ihr wollt doch mal Studentinnen werden.« Als Primaner hatte er bereits reges Interesse für studentische Gepflogenheiten.

      »Au ja« – »aber du mußt uns sagen, wie man das macht« – »los, Klaus!« so bestürmten die Mädels ihn von allen Seiten. Sie waren gut Freund miteinander und duzten sich noch aus der Kinderzeit her. Nur Annemarie, die ihren Bruder am besten kannte, gab zögernd zu bedenken: »Aber du darfst dich nicht dabei beteiligen, Klaus, sonst betrügst du uns.«

      »Dann macht's doch ohne mich.« Der junge Mann zuckte gleichmütig mit der Achsel und gab sich den Anschein, als ob er das Zimmer verlassen wollte.

      »Hierbleiben« – »du soll uns das Aussteinen zeigen« – »natürlich darfst du dich auch daran beteiligen« – »Annemie hat ja nur Spaß gemacht,« schwirrte es wie in einem Bienenstock durcheinander.

      Klaus war nicht empfindlich. Er ließ sich erbitten. »Also paßt auf: Wenn ihr mit der Hand eine Faust macht, das bedeutet einen Stein. Streckt ihr die Hand aus, so wird es ein Stück Papier. So – und kreuzt ihr Mittel- und Zeigefinger übereinander, so habt ihr eine Schere.« Sechs Mädchenhände, kleine und große, zarte und frostrote, bemühten sich eifrig, dem Primaner seine Kunst nachzumachen.

      »Schön – nun aufgepaßt – jetzt kommt das Eigentliche: Der Stein schleift die Schere, die Schere schneidet das Papier, und das Papier wickelt den Stein ein. Also, wenn ich zum Beispiel einen Stein mache und Vera eine Schere, habe ich gewonnen, denn der Stein ist mehr als eine Schere, er schleift sie. Hat aber Vera statt der Schere die Hand ausgestreckt und ein Stück Papier dargestellt, so hat sie gewonnen, denn das Papier geht über den Stein, es wickelt ihn ein. Verstandez – vous?«

      »Nee« – »keine Spur« – »völlig schleierhaft« – »aber Kinder, das ist doch klar wie Kloßbrühe!« Wieder erhob sich ein lebhafter Tumult. Annemarie und Marlene Ulrich waren die einzigen, welche die Auseinandersetzung begriffen hatten.

      »Weibliche Sekundaner sind Heupferde,« stellte Klaus weniger ritterlich als sachgemäß fest. »Probiert's doch mal, man lernt's am besten in der Praxis. Aber, du Schafsbock, doch nicht alle auf einmal, immer nur zwei und zwei.« Diesmal galt die brüderliche Liebkosung der Schwester. Diese quittierte dankend mit einem Knuff.

      »Los – Marlene und Ilse können beginnen – eins – zwei – drei – alle beide Stein, – noch mal – Marlene Schere, Ilse Papier, wer hat also gewonnen?«

      »Marlene« – »nein, Ilse« – die Parteien waren sich nicht einig.

      »Noch nicht mal die Reife für Sexta; wenn es nach mir ginge, kommt keine von euch zu Ostern nach der Obersekunda,« neckte der unverbesserliche Klaus. »Natürlich hat Marlene gewonnen, denn die Schere schneidet das Papier.«

      Die schwarzzöpfige Marlene streckte erfreut die Hand nach dem leckeren, zuckerbestreuten Pfannkuchen aus. »Ich gebe dir die Hälfte ab, Ilse,« flüsterte sie ihrer blonden Intima tröstend zu.

      Aber »liegen lassen – so schnell geht die Geschichte nicht,« kommandierte der Jüngling. »Jetzt muß Marlene erst mit einer anderen den Pfannkuchen aussteinen, wer weiß, ob sie ihn behält.«

      Tatsächlich, wie gewonnen, so zerronnen.

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