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ihr eine außerordentlich beherrschte Frau kennengelernt. Sie würden lange arbeiten müssen, um zu ihren wahren Gefühlen vorzudringen. Sie hat, dachte Laura Sontheim, den Verlust ihres Geliebten geschildert, als spräche sie über jemanden, den sie flüchtig gekannt hatte. Was für eine Entscheidung, wenige Tage nach seinem Tod eine Bühne zu betreten! Ein Wunder, dass sie bis zum letzten Akt durchgehalten hatte.

      Floria verließ die Praxis mit ganz neuen Gefühlen. So etwas wie Erwartung machte sich in ihr breit. Was hielt die Zukunft für sie bereit? Sie stellte sich diese Frage zum ersten Mal seit langer Zeit.

      Ihr Handy vibrierte.

      »Susan! Du rufst zum richtigen Zeitpunkt an. Wo bist du?«

      »Ich sitze im Taxi in Mailand. Übermorgen fliege ich nach Deutschland. Ich habe drei Wochen Zeit.«

      »Wunderbar, ich freu mich auf dich.«

      »Bis dann.«

      Floria eilte, in Gedanken noch bei ihrem Gespräch, durch die Bahnhofshalle, während sie ihr Handy verstaute.

      »Hoppla!«

      Der Mann, mit dem sie unsanft zusammengestoßen war, hielt sie an beiden Schultern fest.

      »Nicht fallen. Du siehst ja so fröhlich aus. Liegt das an mir?«

      »Bilde dir nichts ein, Julian. Susan kommt in zwei Tagen. Was tust du hier?«

      »Ich muss meinen Verleger treffen. Komm doch mit. Danach könnten wir essen gehen und gemeinsam nach Hause fahren.«

      Floria zögerte.

      »Ich habe Emma gesagt, dass ich am frühen Abend zurück sein würde.«

      »Ruf sie an. Alex ist bei ihr. Sie wird verstehen, dass du das verlockende Angebot, von mir zum Abendessen eingeladen zu werden, unmöglich ausschlagen kannst.«

      Floria musste lachen. Dass sie seine Einladung wirklich verlockend fand, würde sie ihm nicht sagen.

      »Besuch deinen Verleger allein. In diesem Räuberzivil kann ich kein anständiges Lokal betreten.«

      Sie trug schmale braune Hosen, die in hohen Winterstiefeln steckten. Der Rollkragen eines weißen Pullovers schmiegte sich um ihren Hals.

      In diesem Aufzug würde ich dich überall mit hinnehmen, dachte er und sagte: »Oh, ich hatte an Currywurst am Stand dort drüben gedacht.«

      Zwei Stunden später betrat Floria ein gemütliches Restaurant. Julian sah ihr entgegen und dachte, eine Primadonna betritt den Raum.

      Von der jungen Frau in Arbeitshosen, dicken uralten Wollpullovern und Kopftuch war dieses Geschöpf weit entfernt.

      Ein Kellner nahm ihr den Mantel ab. Darunter trug sie ein schlichtes schwarzes Kostüm mit einem korallenroten Top. Die hochhackigen Schuhe machten sie ein paar Zentimeter größer. Julian erhob sich und kam ihr entgegen.

      »Wo hast du denn Emmas Enkelin gelassen?«

      Floria deutete auf eine hochglänzende Papiertüte mit dem Logo einer exklusiven Marke, die der Kellner sorgsam neben der Garderobe abgestellt hatte.

      »Dort drin.«

      »Die Arme.«

      »Vermisst du sie? Ich habe gleich alles anbehalten. Ich hoffe nur, dass keine Preisschilder mehr an mir hängen.«

      »Das würde den faszinierenden Gesamteindruck allerdings erheblich stören.«

      »Ich habe Hunger.« Floria griff nach der Karte.

      Julian fuhr langsam und vorsichtig. Sie befanden sich dort, wo Floria in einer Oktobernacht ihren Leihwagen abgewürgt hatte. Wie damals waren die Wege aufgeweicht. Der Wagen schlingerte in den breiten Fahrzeugspuren landwirtschaftlicher Geräte. Schmutzige Schneeberge türmten sich zu beiden Seiten des Weges. Es war deutlich wärmer geworden.

      Vielleicht, dachte Floria, würde auf den Wiesen noch Schnee liegen, dann könnte sie noch einmal mit Katja Schlitten fahren.

      Floria atmete auf, als Julian den Wagen vor Emmas Haus zum Stehen brachte. Emma stand im Licht der geöffneten Haustür.

      »Kommst du noch mit herein, Julian?«

      »Nein danke, Emma. Heute nicht. Ich muss den Babysitter ablösen.«

      Er umarmte Floria flüchtig, winkte Emma zu, stieg in sein Auto und verschwand in der Dunkelheit. Mit ihm verschwand ihre Tüte.

      Die musst du mir morgen wiederbringen, dachte Floria

      »Komm rein, Kind. Willst du die ganze Nacht dort stehen und ihm hinterhersehen?«

      Wenn ich mir etwas wünschen dürfte …, dachte Emma. Sie verbot sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Ihre Wünsche waren die einer alten sentimentalen Frau und nicht von Bedeutung. Sie würden an der Wirklichkeit nichts ändern.

      In der Küche saßen sich Alex und Thomas gegenüber. Sie starrten verbissen auf das Schachbrett zwischen ihnen und schauten nicht auf, als Floria und Emma den Raum betraten.

      Emma legte den Finger an die Lippen. »Es geht um Tod und Leben«, flüsterte sie. »Sie sind heute besonders verbissen. Eine Tasse Tee?«

      »Nein, Emma, gib mir einen von deinen Schnäpsen. Ich habe zu viel gegessen.«

      Floria setzte sich mit Emma aufs Sofa.

      Sie beobachtete die zwei Spieler am Tisch. Alex war schon bald nach Silvester in seine Junggesellenwohnung über Thomas’ Praxis zurückgezogen. Aber die beiden trugen ihre abendlichen Schachpartien so oft es ging in Emmas Küche aus. Ihr Sturz hatte allen klar gemacht, wie schnell ihr etwas passieren konnte.

      Emma schien jedoch wieder ganz die Alte zu sein. Sie war immer eine starke selbstständige Frau gewesen, die nach ihren eigenen Gesetzen lebte. Und daran würde sich bis zu ihrem Tod nichts ändern. Nur in einem gehorchte sie. Sie holte weder Holz hinter dem Haus, noch Briketts aus dem Schuppen.

      Das überließ sie Floria oder Tim.

      »Ich erzähle dir morgen, wie es war, Emma.« Floria erhob sich und gab ihrer Großmutter einen Kuss. »Ich bin müde.«

      »Gute Nacht, mein Kind.«

      Frühling

      Zwei Tage später war Susan wieder da. Ihre Stimme war von morgens bis abends zu hören. Sie hatte viel zu erzählen, aber sie konnte auch zuhören. Florias wechselnden Launen begegnete sie mit Geduld. Sie trieb ihre Freundin am Morgen aus dem Bett und ließ nicht zu, dass sie nach ihren Albträumen bis zum Mittag schlief. »Du brauchst Bewegung und du solltest deine Stimmübungen wieder aufnehmen. Jeden Tag zur gleichen Zeit. Das ist wie Zähneputzen, das vergisst du auch nicht«, meinte Susan. Sie begleitete und unterstützte Floria auf dem Klavier. Dieses Instrument zu beherrschen, war für eine Opernsängerin eine Selbstverständlichkeit.

      Von einem Tag zum anderen war der Frühling ausgebrochen. Die Natur erwachte zum Leben.

      Die ersten Krokusse brachen aus der braunen Erde. Die Vorboten des Frühlings wurden von Emma besonders liebevoll begrüßt.

      Tim kam jetzt täglich, um Gehölze und Beerensträucher zu beschneiden und den Obstbaumschnitt zu Ende zu bringen.

      Bestimmte Arbeiten behielt sich Emma vor. An ihren geheimnisvollen Kräutergarten ließ sie niemanden heran.

      Der letzte Schneemann, den Katja und Floria gebaut hatten, zerfloss im Garten. Katja hatte Anfang März ganz glücklich davor gestanden. Sie war nicht dazu zu bewegen gewesen, ins Haus zu kommen. »Ich warte, bis dem Schneemann Haare wachsen und ein Schnurrbart«, hatte sie erklärt. Unglücklich musste sie jetzt mit ansehen, wie er schrumpfte.

      »Wir werden nächstes Jahr einen neuen bauen«, tröstete Floria sie. »Schau!« Floria deutete auf die Krokusse, die sich unter den Resten

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