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als ginge es um ihr Leben. Eine Horde von Wilden bahnt sich den Weg durch die Straßen und Gebäude, durch Schnellrestaurants und Shopping-Center. Die Kontostände dieser Rennwütigen mögen hoch, mittel oder im Minus sein – es macht keinen Unterschied. Irgendjemand hat allen eingetrichtert, dass man arbeiten gehen muss, dass es Vorgesetzte gibt und feste Strukturen, dass Schlitzohrigkeit Spaß macht, Glück nur ein Augenblick ist, jeder Abstieg hochnotpeinlich, die eigene Sippschaft über allen anderen steht. So weit, so trostlos.

      Das Erstaunlichste aber ist, dass jeder dieser von weitem höchst uninteressant erscheinenden Menschen bei näherer Betrachtung einzigartig sein möchte und dies irgendwie auch ist. Ein Widerspruch?

      Es gibt diesen Moment in öffentlichen Verkehrsmitteln, wo sich der Gedanke von Ruhe und Frieden und besagter Unverwechselbarkeit in der Masse problemlos nachvollziehen lässt. Sie eilen in die Bahn oder den Bus und finden sich plötzlich in einem eigentümlichen Mikrokosmos wieder. In einer Art Zwischenwelt. Zwischen Zuhause, wo Sie bekannt sind, und der Arbeit, der Schule oder dem Freundeskreis, wo Sie ebenfalls einigermaßen prominent sind. Um vom einen Ort des Bekanntseins zum anderen Ort des Bekanntseins zu gelangen, müssen Sie durch die Schleuse des Unbekannten. Diese Schleuse hat durchaus eine kräftigende Wirkung. Aber ich will nicht vorgreifen. Sie sitzen oder stehen also in einer Bahn oder einem Bus. Um sie herum eine Schar von Menschen, zufällig zusammengewürfelt. Jeder von ihnen hat sich irgendwie positioniert, hergerichtet, in Szene gesetzt. Der eine schaut raus, der andere liest, der letzte ist nervös. Man tut beschäftigt oder gelangweilt, beschädigt oder topfit. Jeder scheint Relevanz zu haben, denn sonst wäre er ja nicht hier. Er muss ja schließlich wohin. Dahin, wo man angeblich auf ihn wartet, wo er einen Termin hat, wo er Bedeutung hat.

      Nicht jeder ist im Bus automatisch still. „Ich kann stehen“, „Ich muss mich setzen“, „Ist dieser Platz noch frei“, „Wissen Sie, wo ich aussteigen muss“… Es gibt einige Standardsätze, mit denen unsere Spezies bereits wenige Sekunden nach Erscheinen auf unbekanntem Terrain auf sich aufmerksam macht, ihr Feld absteckt oder sich als Opfer darstellen will, um nicht angegriffen zu werden. Viele sprechen nur deshalb, um ihre Aufregung zu überspielen. Wir entern den unbekannten Ort wie Tiere. Wer könnte uns gefährlich werden? Ist alles friedlich? Gibt es gleich Krawall? Könnte von den unmittelbaren Beisitzern oder –stehern eine Gefahr ausgehen? Erst nachdem wir die Situation für friedlich befunden haben, lassen wir uns nieder und beschäftigen uns wieder mit uns selbst.

      Was aber ist nun eigentlich das Wundervolle am anonymen Reisen? Wichtig ist: Sie kennen keinen dieser Menschen – und genau das, lassen Sie uns das nachdrücklich festhalten, macht die Faszination aus. Ist es nicht wundervoll, als Niemand unter Niemanden zu sitzen, schweigend, sich kurz anschauend? Besonders Menschen, die lange allein waren, krank oder eingesperrt, oder sich mit ihrem Partner gestritten haben, können die Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel mit völlig Fremden genießen. Sie erkennen rasch den Moment der Menschlichkeit, der sich in Bussen und Bahnen wie selbstverständlich abspielt. Völlig vorurteilsfrei lassen sich die Passagiere aufeinander ein und bekennen, indem sie sich bald der vorbeifliegenden Landschaft, einem Buch oder ihrem Handy widmen, dass das zufällige Miteinander tiefen Frieden und auch Glück bedeutet. Es ist ein Glück, wie es kein Familienabend und auch keine Party unter Freunden bieten kann. Wir sind zurück im Zustand eines Kleinkinds. Denn nur im Bus und in der Bahn müssen sie ihr Dasein nicht lange diskutieren oder erklären. Sie werden über ihre bloße Erscheinung wahrgenommen und akzeptiert, müssen keine Ansichten äußern und keine Lebenspläne oder Zeugnisse ausbreiten. Ihr Dasein, ihr lebendiger Körper, reicht. Jeder Aktionismus ist fehl am Platze. Das ist ein Segen. Säße unmittelbar vor Ihnen eine bekannte Person, würde das die ganze Situation verändern. Denn natürlich würde man plötzlich tuscheln und gucken. Sie würden zu der Prominenten hinsehen, weil sie bekannt ist, aber nicht weil Sie sie als Person, nur aufgrund ihrer Erscheinung oder Gesten, interessant finden. Ähnlich verhält es sich mit Mini-Stars wie Nachbarn oder Arbeitskollegen. Wir wollen sie in der Unbekannt-Schleuse nicht wirklich treffen. Sie stören unsere Stille mit den anderen. Viele weichen deshalb auch direkt aus, wenn sie in Bussen oder Bahnen von weitem eine bekannte Person sehen. Nur Kinder und Jugendliche rasen aufeinander zu. Sie wissen noch nichts vom Glück und Sinn der Anonymität.

      Nun zu einer weiteren kleinen Übung. Nehmen Sie sich nach dem Aussteigen, ruhig an einer Ihnen völlig unbekannten Haltestelle, irgendeinen Passanten. Eine Frau, einen Mann, ein Kind. Egal. Greifen Sie sich wahllos jemanden aus der Menge und folgen Sie ihm. Jawohl, folgen! Möglichst so, dass wegen Ihnen nicht die Polizei gerufen wird oder Sie eins auf die Nase bekommen. Folgen Sie der Person in gebührendem Abstand. Zunächst landen Sie vielleicht in einem Kaufhaus, einem Supermarkt oder in der U-Bahn. Folgen Sie der Person unverdrossen weiter. Es wird nicht lange dauern und Sie werden in einer kleineren Straße landen, vielleicht sogar vor einem Haus oder einer Wohnung. Einiges wird Ihnen vertraut vorkommen. Die Art und Weise etwa, wie die Person ihre Haustür öffnet und im Briefkasten nach Post fischt. Oder wie sie sich noch einmal umschaut und dann die Tür hinter sich schließt. Plötzlich stellt sich Individualität ein, Nähe, bei längerer Betrachtung vielleicht sogar Liebreiz. Und was sagt Ihnen das? Nun, hochverehrte Leserin, geschätzter Leser; dass der Mensch in der Ruhe attraktiv wird, wenn er sich vom Schaffer- und Besorgertum entfernt und Raum für sich findet. Ist er in diesem Raum, seinen Refugium, nun ein Jemand oder ein Niemand? Sein Name steht zwar an der Tür und die Bleibe hat er sich mit einer gewissen Arbeit verdient – aber bedarf es dazu wirklich einer unverwechselbaren Biografie, eines Lebenslaufes mit Titeln, Abschlüssen und anderen Vergewisserungen? Ist Kampf nötig, um Ruhe zu finden? Muss man andere ausschalten oder überrunden, um einen Drink genießen zu können?

       Übung: Folgen Sie einer fremden Person eine Viertelstunde quer durch die Stadt, möglichst ohne aufzufallen.

      3 Lob der Kinderlosen

      Besonders Frauen sind von der Religion des Erfolges betroffen. Zwischen Karriere und Kinderwunsch bewegen sich zahllose weibliche Leben. Ein bedauernswerter Zustand, der von unseligen Schwiegermüttern und im Karrierismus gefangenen Arbeitssimulanten beiderlei Geschlechts eifrig befeuert wird und mit Selbstbestimmung nicht zu verwechseln ist. Ist es nicht tragisch zu sehen, dass sich Frauen nicht mehr aufs Flirten verstehen, aufs Kaffeetrinken in einem Café oder auf einen ruhigen Spaziergang? Wer als wache, ausgeruhte Person zur Mittagszeit über eine belebte Straße flaniert und Blickkontakt mit den Damen dieser Welt sucht, weil er alles andere für aufgesetzt, abgeleitet oder schlicht töricht hält, wird natürlich immer ein oder zwei Exemplare finden, die mit den Augen antworten – andernfalls wäre diese Welt keine Welt mehr, sondern ein unpersönlicher Ameisenhaufen. Aber diese letzten Flirtwilligen, meist Töchter im Schlepptau beschäftigter Eltern, restfröhliche Studentinnen oder Damen im besten Alter auf Shoppingtour, stehen in einem Meer der Gehetzten mit festem Ziel und Termin. Aus deren Wesen spricht, wie beschäftigt sie sind, wie zielgerichtet, wie leblos.

      Gestatten Sie mir, an dieser Stelle einen Toast auszubringen auf die kinderlose Frau mittleren Alters, deren Wert in Vergessenheit zu geraten droht. Ich hatte in meinem Leben das Glück, mehrere dieser beeindruckenden Wesen kennenzulernen. Frauen, die keine Kinder wollten oder bekamen, deren Leben nie auf irgendwelche Karriereweihen ausgerichtet war, und die, während andere ihre Seele an Promotionen und Bewerbungen verkauften, in sich ruhten, mit oder ohne Begleitung durch die Welt tollten – und dieser Welt dadurch so viel mehr gaben als alle Übermütter und weiblichen Vorstandsvorsitzenden zusammen. Ist es nicht ein weiterer fataler Irrtum, dass man als Mensch, auch als Kind, nur von seinen Eltern lernen kann? Oh nein, viel mehr lernt man von denen, die einem zufällig begegnen, in die man sich verliebt, die einen sprachlos zurücklassen und gerade so Zuversicht schenken. Ungebundene, kinderlose Frauen können eine Zuversicht ins Leben schenken, von der jede Weltreligion nur träumen kann. Mit einer solchen, völlig dem Leben zugewandten Bekannten streifte ich einmal tagelang lachend durch Orte und Landschaften. Sie gab den Menschen, die sie traf, eine unglaubliche Kraft. Sie spendete mit ihrer Persönlichkeit ein Urvertrauen ins Leben, das man spätestens in der ersten Schulklasse zugunsten eines lächerlichen Glaubens ans Lernen und Wissen abgestreift hatte. Dieses Urvertrauen hat nichts mit Geld oder Ansehen oder Erfolg zu tun, wohl aber mit Sicherheit. Es ist die Sicherheit, sich als freier Mensch fühlen zu dürfen. Als endlicher,

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