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dem Zeitraum, über den die Morde vom Täter begangen wurden. In der Fachliteratur lag die Schwelle bei fünf Opfern und bei den Umständen und den Beziehungen der Opfer untereinander. Wer bei einem Bankraub fünf Wachleute erschoss, war kein Serienmörder. Wer sich innerhalb eines Jahres willkürlich drei Opfer aussuchte, gehörte dagegen schon in diese Kategorie. Aber das war alles Theorie, ein Versuch der kriminologischen Einordnung. Ich schaute nach, was ich sonst noch von Holmes & Holmes besaß: Profiling Violent Crimes, ein relativ neues Buch. Ich blätterte es durch und erinnerte mich, dass ich es in meinem letzten Jahr in Quantico viel für den Unterricht verwendet hatte.

      Gleiches galt für die kleine DVD-Sammlung. Das ganze CSI-Zeugs, Crime Scene Investigation. Die Serie CSI-New York lag mir wegen der Örtlichkeit noch am nächsten. Ich hatte einzelne DVDs an die Schüler verteilt, mit der Aufgabe, die Fälle, die Ermittler und die Ermittlungsmethoden auf Authentizität zu analysieren. Es hatte dazu geführt, dass trotz aller Professionalität, der Schauspieler Gary Sinise in der Rolle des Detective Mac Taylor als einer der ihren angesehen wurde. Ich sortierte die DVD-Hüllen. Von CSI-New York hatte ich die Staffeln eins bis drei, von CSI-Maimi eins bis fünf und von CSI-Crime Scene Investigation sogar die Staffeln eins bis acht. Die meisten Folgen hatte ich mir selbst gar nicht angesehen.

      Ich legte die DVDs wieder in den Karton zurück. Dabei hätte ich fast zwei weitere Bücher übersehen: Applied Criminal Psychology und Offender Profiling beide von Richard Kocsis. Letzteres interessierte mich. Es war ein umfassendes Werk zum Thema Profiling und es war ebenfalls noch relativ neu. Ich blätterte auf die Verlagsseite, erste Auflage 2005. Das Inhaltsverzeichnis erstreckte sich über sechs Seiten. Die Themen waren wirklich sehr umfassend. In den ersten Kapiteln begann es mit psychologischen und soziologischen Täter-Opfer-Profilen zu Gewaltverbrechen. Im zweiten Teil des Buches wurde die eher technische Seite beleuchtet, die Crime Scene. Spurensuche, Spurenanalyse und Forensik waren die Stichworte. Der dritte Teil schließlich, war der Arbeit des Ermittlers, des Profilers gewidmet.

      Ich begann in einzelnen Kapiteln zu lesen. Nach einer Viertelstunde wurde es mir zu kalt auf dem Dachboden und ich beschloss, das restliche Möbelschleppen auf den Nachmittag zu verlegen. Ich verschloss den Umzugskarton und sah noch einmal kurz in die anderen beiden. Hier hatte ich nur meine Unterrichtsmanuskripte und die Kopien der schriftlichen Arbeiten meiner Schüler. Es wäre sicherlich sehr interessant gewesen, auch noch dieses Material durchzuschauen, aber ich verschob es auf später.

      *

      Am Sonntag hatte ich doch nicht mehr die Gelegenheit, mich näher mit Kocsis Offender Profiling zu beschäftigen. In der Hoffnung, im Büro mehr Ruhe zu finden, hatte ich das Buch am Montagmorgen gleich in meine Tasche gesteckt. Nach einem Telefonmarathon von über einer Stunde brachte Frau Sievers mir meinen zweiten Kaffee und ein Stück Bienenstich. Ich wühlte in meiner Aktentasche, fand das Buch und lehnte mich in meinem Bürostuhl zurück. Ich studierte noch einmal das Inhaltsverzeichnis. Es gab ein Kapitel, das schon gestern mein Interesse geweckt hatte. Ich blätterte auf Seite hundertfünfundvierzig und begann im Abschnitt The Crime Classification Manual zu lesen.

      Als das Telefon erneut klingelte, war ich schon drauf und dran, gar nicht abzunehmen. Der Anruf würde bei Gustav landen, und wenn es wirklich für mich war, dauerte es höchsten eine Minute, bis Frau Sievers zu mir kam, um nachzusehen, was los war. Ich entschied, dass mir diese Minute Aufschub auch keinen Vorteil brachte. Ich schwang in meinem Sessel nach vorne und hätte beinahe das ganze Telefon umgerissen, als ich nach dem Hörer griff. Ich drückte auf die Rufannahme und musste mich auf meinem Platz erst wieder stabilisieren, sodass ich den Anrufer nicht gleich verstand. Ich hörte nur den Hall seiner Stimme, aber das reichte, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Ich räusperte mich und presste den Hörer an mein Ohr.

      »Hallo, Entschuldigung, Bruckner, sind Sie das?«

      »Wollten Sie mich taub machen?«, lachte Bruckner, »oder sind Sie vom Stuhl gefallen?«

      »Das eine wollte ich natürlich nicht, das andere habe ich gerade noch verhindert.«

      »Würde auch nicht zu Ihnen passen«, entgegnete Bruckner und lachte noch einmal. Ich hörte, wie er Luft holte und sich dann räusperte. »Ist immer lustig mit Ihnen, leider habe ich in den letzten Monaten nicht viel zu lachen gehabt.«

      »Und Sie fallen immer gleich mit der Tür ins Haus.«

      »Mache ich das?«

      »Jetzt gerade machen Sie es, noch bevor ich Sie fragen kann, wie es Ihnen seit dem Sommer ergangen ist.«

      »Dann fragen Sie doch«, entgegnete Bruckner.

      »Gut«, erwiderte ich, »wie ist es Ihnen ergangen?«

      »Beschissen!« Bruckner lachte.

      »Hört sich nicht so an.«

      »Doch, doch, beschissen ist schon richtig, zutiefst beschissen. Die Sache vom Sommer hängt mir noch nach.«

      »Aber das war doch gar nicht Ihre Schuld.«

      »Na, ich bitte Sie, wie sieht das denn aus. Ich ermittle bei einem ehrenwerten Bürger und das Ganze artet in einen SEK-Einsatz aus.«

      »Wer hat behauptet, dass Sebastian von Treibnitz ein ehrenwerter Mann war?«

      »Da gibt es genug Leute, und das Schlimme ist, dass diese Leute Einfluss haben. Ich musste sogar Angst haben, verklagt zu werden.«

      Ich hatte von der Geschichte erfahren. Magdalena von Treibnitz war bis zum heutigen Tage nicht verhandlungsfähig und wurde gleich nach den Vorfällen vom 2. August letzten Jahres in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Bruckner hatte kein Geständnis bekommen. Der Prozess gegen den Entführer des kleinen Jérôme von Treibnitz war ausgesetzt, weil auch die Leiche des Kindes noch nicht gefunden wurde.

      Bruckner griff meine Gedanken auf. »Hilke schweigt seit seinem Geständnis, das damit nicht viel Wert ist. Und die Treibnitz spielt die Verwirrte. Da hat ein ehrlicher Polizist keine Chance und so sehen es leider auch meine Chefs. Ich werde ziemlich kurzgehalten, sodass ich nichts mehr anrichten kann. Ich hatte schon überlegt, zu schmeißen. Wenn die Täter sich mit einer Klatsche aus der Verantwortung ziehen können, dann muss mir das doch auch möglich sein. Ich habe Kollegen, die sich darauf berufen. Psychologischer Stress! Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, meine Situation dadurch zu verbessern und den Kopf wieder freizubekommen.«

      »Davon hat mir Hartmann nichts berichtet. Ich habe Hartmann mal in der Europapassage getroffen, Ende Januar. Der hat sich ja wieder gut erholt.«

      »Ich weiß«, meinte Bruckner, »hat er mir erzählt, ich meine, dass er sie mal getroffen hat.« Ich merkte, wie Bruckner am Telefon zögerte. »Schade, dass Sie sich nicht auch mal bei mir gemeldet haben.«

      »Sorry, aber so bin ich eben. Außerdem hätten Sie ja auch ...«

      »Hab’ ich doch jetzt«, warf Bruckner sofort ein und lachte wieder. »Also Schwamm drüber. Irgendwie kommen wir ja immer wieder zusammen, oder?«

      »Das hört sich nicht gut an, das endet meistens in einem Fall.«

      »Ich hab’ keine richtigen Fälle mehr, nur noch unwichtigen Kleinkram.«

      »Dann ist es wieder ein Cold Case. Bitte hören Sie damit auf.«

      »Auch kein Cold Case. Mein Chef hat den Staatsanwalt davon überzeugt, dass die ganze Angelegenheit ein Scherz ist.«

      »Aber das ist ja noch schlimmer als ein Cold Case, mit Mord scherzt man doch nicht.« Diesmal musste ich lachen.

      Bruckner blieb ein paar Sekunden still.

      »Hallo, sind Sie noch dran«, fragte ich, »oder habe ich endlich ein Mittel gefunden, Sie loszuwerden?«

      »Ja, ja, ich bin noch dran.« Bruckners Stimme klang etwas ernster als zuvor. »Ich nehme das wichtig, für mich ist das kein Scherz«, sagte er nach einem weiteren Zögern.

      »Gut, meinetwegen, dann erzählen Sie.«

      »Nein, nicht am Telefon.« Bruckners Stimme blieb ernst. »Wir müssen uns unbedingt treffen. Ich brauche Ihre Hilfe.

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