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      Auf dem Bauch liegend schwebe ich über den Häusern meiner Stadt und schaue hinab. Winzig klein scheint mir der Rathausturm dort unten, den ich einst für einen Wolkenkratzer hielt, der er also noch immer ist? Längst schon sehe ich den Platz nicht mehr, wo ich einst auf einer Bank unter Platanen saß. Sitzt mein zweites Ich noch immer dort, lauscht dem Ruf der Mondin und träumt in ihrem Licht?

      Jetzt schwebe ich dem untergehenden Sonn entgegen und immer weiter hinauf und hinaus in die Nacht und in ein neues Morgen, hinein in eine andere Welt mit Namen Wald, eine Welt aus Bäumen aller Art, der sich endlos nach allen Seiten erstreckt. Ins Gestern führt mich der Leuchtende Pfad, den ich vor meinen Augen sehe, träumend auf meinem Bett bei mir zuhause.

      „Ein Pfad?“ fragst du.

       Ja, ein Weg, ein schmaler Weg, der alles verbindet, den meine Füße beschreiten, den mein Körper durchfliegt. Ein Pfad in mir, dem meine Seele folgt, der mich hin zu ihr führt, die ich schon immer liebe, zu den anderen hin, die so sind wie ich, und hin zur Einheit, aus der wir alle kommen.

      „Wach auf! Das ist ja nur ein Traum!“, ruft irgendwer hinein in meinen Traum.

      So werde ich geweckt, stehe auf und gehe die gewohnten Wege, tagein, tagaus, nicht weniger, nicht mehr. Zeit vergeht. So rasen die Jahre dahin. Ich werde alt und älter, um eines Tages, nachts zu sterben. Nun ja, noch nicht, doch irgendwann mit Sicherheit.

      „Und das soll schon alles gewesen sein? Nicht mehr als ein kurzer Ausstieg aus dem Alltagstrott? Dann ist ja alles vorbei, noch ehe es begann. Am Anfang kann doch nicht schon das Ende sein?“

       Und weiter fragst du dich und mich: „Wenn alles Wirklichkeit wäre, also keine Illusion, was ist überhaupt so toll daran, über den Dächern einer Stadt dahin zu fliegen? Und dann auch noch bei Nacht in eisiger Kälte.“

       Das fragst du, der du drinnen in deiner beheizten warmen Stube vor dem Flimmerkasten sitzt und „wahre“ Begebenheiten schaust?

       Ja, alles war nur ein Traum, eine Vorschau auf das, was noch kommen sollte, und doch war es der Beginn einer Reise, ein Neuanfang. Damals dachte ich, es würde bald geschehen.

       Doch Jahre vergingen, und nichts geschah.

       Wann würde ich aufbrechen? Würde ich es tatsächlich irgendwann tun? Noch in diesem, meinem jetzigen oder einzigen Leben? Noch in meinem Zimmer unter dem Dach innerhalb einer Wohngemeinschaft mit Nachbar Rilke und einem indonesischen Studenten, kurz WG genannt?

       Damals geschah noch nichts.

       Zunächst waren da also nur der Traum und das Warten auf seine Erfüllung. Wie oft schaute ich gebannt auf zu den dahinrasenden Mauerseglern, die mancheiner noch immer für Schwalben hält. Zahlreich aber kamen auch sie jedes Jahr aus dem Süden nach K, und also war es Sommer. Mein Gott, fliegen, dachte ich immer wieder voller Sehnsucht.

       Dann geschah es doch, plötzlich und unerwartet. Es war ein kalter, verregneter Oktobertag, als alles begann, wirklich begann, hier draußen, nicht nur in meinen Träumen.

       Sagte ich eben „Tag“?

       Der war bereits vorüber. Nacht herrschte dort, wohin ich ging, denn ich ging in tiefer Dunkelheit hinaus in den Sturm.

      „Bleib!“, riefen meine Freunde vom Stammtisch. „Geh noch nicht! Trink noch einen Wein! Geh nicht! Diese Böen könnten dich erschlagen!“ Sie taten es, obwohl sie wussten, wie sehr ich die Nacht liebte, und dass es nutzlos war, mich aufhalten zu wollen, wenn ich ihren Ruf vernommen hatte.

       Ich antwortete ihnen nicht, ging, schaute im Türrahmen verharrend noch einmal zurück - als ob ich wüsste, dass ich nie mehr wiederkommen würde - und verschwand aus ihren Augen.

      Das ist die Nacht der Nächte. In mir ertönt der Ruf.

      Ich gehe hinaus auf die Straße und schaue auf. Noch ahne ich nur die Sterne hinter dahinfegenden Wolkenschleiern.

      Noch immer blicke ich empor. Die Himmel öffnen sich über mir, und die rasenden Wolken halten inne in ihrem Lauf. Dort oben bildet sich ein kreisender Raum, in dem Volle Mondin und Sterne leuchten.

      „Komm!“, singt das Sternenlied in mir.

      Ich höre den Ruf und weiß: Jetzt ist die Zeit gekommen, die Zeit des Aufbruchs.

      Noch einmal aber kehre ich für einen Augenblick in meine alte Welt zurück, betrete ein letztes Mal die Kneipe.

      Aha, wieder da, denkt einer dort vorne am Tresen.

      Ich aber nehme meine Jacke von meinem Stuhl, die ich dort vergaß, ziehe sie über und sage leise: „Tschüss!“

      „Du gehst schon? Schon wieder? Als Erster?“, fragen meine Stammtischfreunde - wie seltsam! - alle zugleich, wie aus einem Munde.

      Auch diesmal antworte ich ihnen nicht. Ich antworte ihnen nie mehr!

      O ja, ich gehe, denke ich. Warum gehe ich? Weil ich muss!

      Bilder aus einem Film steigen vor meinem innerem Auge auf: Da ist ein Land im Süden damals am Beginn einer großen Religion, die die Nächstenliebe lehrte und den Sklaven Hoffnung brachte. Seine Jünger fragten ihn, als sie ihn nach seinem Tod noch einmal trafen: „Quo vadis, domine? Wohin gehst du, Herr?“

      Ich erinnere mich an meine Tränen bei diesen, seinen Worten. Doch ich bin nicht der Herr und nicht ihr Herr. Dennoch weine auch ich jetzt leise bei meinem Abschied. Ich gehe stumm hinaus.

      Drinnen sehen sich die Freunde verwundert an.

      „Warum geht er?“

      „Sollte unter Menschen bleiben. Is’ nicht gut, allein zu sein.“

      „So lasst ihn doch!“

      So sprechen die Stammtischfreunde: die ältere, so jung und munter gebliebene Autorin, die natürlich nicht vom Schreiben lebt, die junge Lehrerin, der Rechtsanwalt und seine Mitarbeiterin, der fitte Paddler und Krankenpfleger in Rente und die drei Generationen: Mutter, Tochter und Enkelin.

      Dann werden wieder andere Themen wichtig: die ewigen Baustellen in der Stadt - Straße auf, Straße zu, Straße auf, die leer stehenden Läden in der Fußgängerzone - Wahnsinnsmiete und minimaler Umsatz, wen wundert da noch dieses überall zu findende Schild: Laden zu vermieten - immer wieder neu, jetzt auch massenhaft, nebeneinander im Viererpack, ja, die Fußgängerzone, die vielleicht doch noch so nach und nach ein neues pfützenloses Pflaster erhält, private Dinge und Probleme, Geschichten, die das Leben schreibt. Auch diese nicht jugendfreien Witze, sexuelle Anspielungen und Jugenderlebnisse, als Mann noch jung und fit war. Natürlich auch Fußball, unbedingt! Die Roten Teufel vom Betze, ihr Wiederaufstieg in die erste Liga - sie werden wieder Deutscher Meister sein, das ist klar, hurra, es lebe der FCK! Dann das liebe Geld und der kommende Euro und ... viele Probleme hier wie überall auf der Welt im Jahre 1998 A.D.

      Ich stehe nur wenige Meter von allem und doch Meilen von allem entfernt draußen auf der Straße und breite meine Arme aus, werde Ruhe und warte. Ich schaue mit in den Nacken geneigtem Kopf empor. Ich bin es schon, also spreche ich auch die Worte nicht aus: „Sei still!“

       Was seltsam war, Manfred fiel es gar nicht auf, die Straße war menschenleer. Alles schien ausgestorben.

       Und niemand sah, was dann mit ihm geschah?

       Kein Mensch, das ist gewiss.

       Und niemand sonst?

      Leuchtend grüne Augen schauen den Menschen von unten verwundert an. Hinter einem Rad unter dem Auto versteckt sitzt die Katze mit dem rotbraunen Fell. Sie ist es, die alles sieht und - nichts verrät.

      Während ich noch immer auf der Straße

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