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Schattenseiten. Kai Kistenbruegger
Читать онлайн.Название Schattenseiten
Год выпуска 0
isbn 9783742765833
Автор произведения Kai Kistenbruegger
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich hörte erst auf, als mich ein verlegendes Hüsteln aufschreckte. Steinmann und Bobby standen in der Tür und musterten mich mit versteinerter Miene.
„Tut mir leid, Mann“, murmelte Bobby, als er sich vorsichtig ans Ende meines Bettes setzte. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Er verstummte schlagartig und fuhr sich fahrig durch die Haare, wie immer, wenn er nervös war.
„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sich Steinmann mit einer merkwürdig flachen Stimme, die ihre Kraft wahrscheinlich irgendwo in meinem Wohnzimmer verloren hatte.
„Keine schwerwiegenden Verletzungen“, antwortete ich. Ich vermied Worte wie ‚Gut’, oder ‚Den Umständen entsprechend’. Sie wären alle gelogen gewesen und hätte nicht annäherungsweise das ausgedrückt, was ich empfand.
Steinmann räusperte sich. „Es tut mir leid.” Er bedachte mit diesen Worten nicht nur meinen Verlust, sondern entschuldigte sich gleichzeitig für das, was jetzt unweigerlich folgen musste. Ich wusste, wie es ablief. Ich war selbst zu lange Polizist, um so ein Gespräch nicht bereits mehrere tausend Male geführt zu haben. Zuerst wurde der Zeuge nach seinem Befinden gefragt, verständnisvoll genickt und das persönliche Beileid ausgesprochen. Schema F, direkt aus dem Polizeihandbuch. Anschließend musste lediglich eine geschickte Überleitung gewählt werden, die nachsichtig aber mit Nachdruck die Wichtigkeit der Informationen betonte, die der Zeuge tief unter seinem Trauma verbarg. Sie würden so etwas sagen wie „So schwer es Ihnen fällt, bitte versuchen Sie sich an die letzte Nacht zu erinnern. Jedes Detail könnte von Bedeutung sein“ und ich würde traurig nicken und ihrem Wunsch nachkommen.
Ich ersparte ihnen die Pein, dieses Drama mit ihrem Kollegen und Freund durchspielen zu müssen.
„Ich kann mich kaum an etwas erinnern“, kam ich ihnen zuvor. „Nur ihr Schrei ist mir in Erinnerung geblieben…“, mir brach die Stimme weg, bevor ich fortfahren konnte.
„Weißt du, ob er es war?“, fragte Bobby. Mir entgingen nicht die leisen Zweifel, die in seiner Stimme mitschwangen.
Ich schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich weiß gar nichts! Es könnte genauso gut einer von euch gewesen sein, ohne dass ich mich daran erinnern könnte…“ Ich atmete tief ein. „Es hat an der Tür geklingelt“, fuhr ich mit mühsam kontrollierter Stimme fort. „Ich weiß nicht genau, was dann passiert ist. Die Tür wurde unerwartet heftig aufgestoßen und ich ging zu Boden. Bevor ich reagieren konnte, beugte sich ein Mann über mich, spritzte mir etwas in den Arm…” Ich rieb gedankenverloren meine Armbeuge. „Er trug eine Skimaske, oder eine ähnliche Kopfbedeckung. Und dann hörte ich nur noch Sandras Schreie. Ich wollte ihr helfen, aber ich konnte mich kaum bewegen.“ Ich verstummte. „Ich habe es versucht, aber es ging nicht“, ergänzte ich leise. Meine eigene Stimme klang fremd.
„Ketamin“, sagte Steinmann. „Er hat Ihnen Ketamin gespritzt. Ein Narkosemittel, das auch als Partydroge verwendet wird und dementsprechend auf dem Markt leicht zu besorgen sein dürfte. Er hat ihnen genug verabreicht, um Sie auszuschalten, aber zu wenig, um Sie sofort das Bewusstsein verlieren zu lassen.“
„Ach, was!“, giftete ich. Auf die gut gemeinten Erklärungen des alten Haudegens konnte ich verzichten. Seine sachlichen Worte hörten sich in meiner gereizten Gemütslage wie der reinste Hohn an. Ich konnte es nicht verhindern, dass die Tränen zurückkehrten.
„Mein Gott. Ich habe zuhören müssen, wir Sandra starb! Dieser Mistkerl hat meine Frau vor meinen eigenen Augen umgebracht!“
Ich schluckte meine Wut und Tränen herunter. „Moment!“, murmelte ich und starrte Bobby an. Verlegen wich er meinem Blick aus. „Wieso kommt ihr auf die Idee, dass ‚Er’ es war? Hat er, ich meine, er hat doch nicht?“, stotterte ich und ließ das Ende unausgesprochen.
„Doch“, bestätigte Steinmann und nickte. Er sah in diesem Moment zu Tode betrübt aus. „Ein ‚R’, wie bei den anderen Opfern.“
„Ich weiß nicht“, brauste Bobby unerwartet auf. „Das ergibt überhaupt keinen Sinn! Die anderen Opfer waren alle Kriminelle! Sandra passt überhaupt nicht in das Opferschema!“
„Vielleicht sind wir ihm zu dicht auf den Fersen“, mutmaßte Steinmann. „Vielleicht will er uns eine Warnung zukommen lassen.” Er trat näher ans Bett und ergriff meine Hand. „Was immer seine Gründe auch sind, ich verspreche Ihnen, Erik, hoch und heilig; wir werden diesen Bastard zur Strecke bringen!“
21 Tage davor
Steinmann erwartete uns bereits im Flur des heruntergekommenen Mehrfamilienhauses. Vor der Haustür hatte er zwei Polizisten platziert, für den unwahrscheinlichen Fall, dass einige findige Journalisten einen Weg durch die zahlreichen Polizeisperren fanden und sich in Dinge einmischten, die Steinmann so lange wie möglich von der Öffentlichkeit fernhalten wollte. Sie nickten unverbindlich, als wir forschen Schrittes an ihnen vorbei in den dunklen, kühlen Flur schritten. Sie kamen mir vage bekannt vor, wahrscheinlich von der letzten Weihnachtsfeier unseres Reviers, allerdings konnte ich keine konkrete Erinnerung mit ihnen verbinden.
Noch bevor mein Blick auf Steinmann fiel, schlug mir der ranzige Geruch nach altem Fett und Schimmel entgegen. Die penetranten Schwaden aus dem nahe gelegenen Chinaimbiss vermischten sich mit dem uralten Mief der vergangenen fünfzig Jahre zu einer luftraubenden Herausforderung für unsere Nasen. Das Treppenhaus zeigte symptomatisch für die ganze Wohngegend die typischen Anzeichen stetigen Zerfalls, der sich seit Jahrzehnten ungestört ausbreitete und über die Jahre eine ehemals aufstrebende Wohnsiedlung zu einem Düsseldorfer Problemviertel hatte verkommen lassen.
„Wir stecken tief in der Scheiße“, brummelte Steinmann zur Begrüßung. Er hielt seine Hände tief in seinen Anzugtaschen vergraben und machte keine Anstalten, sie für einen Händedruck herauszuholen. „Eine Mordserie mitten in Düsseldorf.” Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn wir nicht bald mit ein paar brauchbaren Hinweisen aufwarten können, wird uns die Staatsanwaltschaft die Hölle heißmachen.“
„Der gleiche Täter wie bei Bruno Bauer?“, fragte ich.
„Sieht so aus. Entweder ein Einzeltäter oder eine Gruppe. Beides wäre übel. Düsseldorf als Schauplatz eines Bandenkrieges wäre der Super-GAU.“
Er blickte die Treppe hinauf. Von oben waren undeutlich die Stimmen mehrerer Männer zu hören. Wahrscheinlich die Spurensicherung, die Millimeter für Millimeter den Tatort absuchte. Geduld war die wichtigste Eigenschaft, die zu ihrem Beruf gehörte. Ich beneidete sie nicht darum.
Durch die mittlerweile zahlreichen, modernen Krimiserien war ihre Arbeit nicht einfacher geworden. Gerade amerikanische Fernsehserien vermittelten gerne den trügerischen Eindruck, jeder Mordfall wäre im Grunde nichts anderes als die Suche nach ein paar Faserspuren oder Blutstropfen, die mit Hilfe absonderlicher Wunderapparaturen sofort den gesuchten Verdächtigen mit Namen, Anschrift und Vorstrafenregister ausspuckten. Leider war die Polizeiarbeit im normalen Leben nicht so einfach. Selbst wenn sich Spuren des Täters finden ließen, führten sie nur in den seltensten Fällen zu einer Verhaftung. Dafür waren zu wenige Menschen genetisch erfasst oder die Spuren reichten für eine eindeutige Identifizierung nicht aus. Manchmal beneidete ich die Fernsehfahnder um ihre heile Welt der schnellen Fälle, die am Ende jeder Folge zweifelsfrei den Täter dingfest machen konnten. In der Realität blieben leider viel zu viele Verbrechen ungesühnt.
Bevor wir die baufällige Treppe zum Tatort erklimmen konnten, hielt mich Steinmann am Arm zurück. „Die Presse darf nichts davon erfahren, bevor wir nicht ein paar Fahndungserfolge vorweisen können“, stellte Steinmann das Offensichtliche fest. „Haben wir uns verstanden?“
Wir bestätigten unisono murmelnd unsere Zustimmung. Solche Ansprachen kannten wir von Steinmann bereits. Im Grunde war Steinmann Politiker, der auf dem schmalen Grad zwischen Polizei- und Öffentlichkeitsarbeit wandelte. Er hatte mit dem bemitleidenswerten Los zu kämpfen, die zahlreichen Interessensgruppen aus Politik, Justiz und Presse