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Regel kümmerte sich unser Kommissariat, das KK11, um alle Todesfälle, bei denen die Gerichtsmediziner nicht eindeutig einen natürlichen Tod bescheinigen konnten. Im letzten Jahr waren das über 1.000 Fälle gewesen, die uns sieben Tage die Woche auf Trab gehalten hatten. Eine eigene Mordkommission, wie das Fernsehen den Zuschauern vorgaukelte, gab es eigentlich nicht. Lediglich bei Fällen, in denen eine schwierige Faktenlage eine besondere Aufmerksamkeit rechtfertigte, wurden Sonderkommissionen gegründet, um sich ausschließlich um die Klärung dieser Mordfälle zu kümmern. Nachdem sich unser Mörder als potenzieller Serientäter entpuppt hatte, war genau das geschehen.

      Intern in unserer Abteilung lief der Fall unter der Bezeichnung ‚Der Rächer’. Der Vorschlag war hauptsächlich Bobby geschuldet, der nicht nur als erster den Vergleich mit Zorro in den Raum geworfen, sondern dem ‚R’ des Mörders auch noch die Bedeutung ‚Rache’ angedichtet hatte.

      Allerdings tappten wir weiterhin im Dunkeln, welche Motive der Mörder tatsächlich hegte. Wir konnten es immer noch mit mehreren Mördern zu tun haben; die Spurenlage war zu dünn, um die Taten auf einen Einzeltäter eingrenzen zu können. Letztendlich lief alles auf eine Fragen hinaus: Wem waren die beiden Opfer so auf den Schlips getreten, dass sie auf diese brutale Weise mit ihrem Leben dafür hatten büßen müssen?

      Nichtsdestotrotz hielt ich es auch nach einer kurzen Nacht mit wenig Schlaf immer noch für eine gute Idee, Bobbys – im wahrsten Sinne des Wortes - Schnapsidee einer genauen Überprüfung zu unterziehen. Ich verschwieg natürlich, in welchem Zustand Bobby auf diesen genialen Einfall gekommen war. Die Tatsache, dass beide Opfer vor Gericht gestanden hatten, aber nicht verurteilt worden waren, war, zumindest aus meiner Sicht, die derzeit einzige, überzeugende Verbindung zwischen beiden Mordopfern.

      Unser Einsatzteam bestand aus einer zu diesem Zeitpunkt noch wachsenden Anzahl von Polizisten. Steinmann, Bobby, ich selbst, sowie drei bis vier weitere Kollegen, die unserer Sonderkommission als Spezialisten zugeteilt worden waren. Ich erinnere mich noch nicht mal mehr an ihre Namen oder an ihre Gesichter; sie waren für den späteren Verlauf der Geschichte nicht von Belang, sondern spielten lediglich bedeutungslose Komparsen in der Tragödie meines Lebens.

      An diesem Morgen saß ich mit Bobby allein im Raum. Bobby war verständlicherweise nicht sonderlich gesprächig. Kreidebleich saß er zusammengesunken auf seinem Stuhl. Jedes kleine Geräusch ließ ihn zusammenzucken, als wäre er soeben aus dem Tiefschlaf aufgewacht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit litt er an einem unerbittlichen Kater, der sich in seinem Suffkopf häuslich eingerichtet hatte und rein aus Vergnügen von Zeit zu Zeit seine Krallen ausfuhr.

      Auf der linken Seite des Raumes hatten wir eine riesige Pinnwand aufgestellt, auf der wir unsere Ermittlungsergebnisse sammelten. Zugegebenerweise war noch nicht sonderlich viel zusammen gekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir die Fotos unser beiden Opfer aufgehängt, mit Großaufnahmen der Verletzungen, die in ihrer Form dem Buchstaben ‚R’ entsprachen. Nach wie vor mussten wir der strikten Anweisung folgen, dieses Detail geheim zu halten.

      Ansonsten fehlte es uns an allen Enden an weiteren Ideen, die uns auf die Spur des Mörders bringen würden. Wir hatten weder Zeugen, noch verwertbare Spuren, selbst nach Tagen und Wochen intensiver Befragungen im näheren Wohnumfeld der Opfer. Zwei unserer Kollegen wälzten seit diesem Morgen die Straf- und Prozessakten von Bruno Bauer und von Walter Merkmann. Es kam einer Lotterie gleich, oder zumindest einer gehörigen Portion Fleißarbeit, aber mit etwas Glück stießen die beiden Kollegen auf Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen – jeden der damaligen Prozessbeteiligten, ob Opfer oder Täter, mussten wir unter die Lupe nehmen. Sollte Bobby Recht behalten und das ‚R’ stand tatsächlich als Synonym für Rache, dann war der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Opfern der beiden Straftäter zu suchen. Vielleicht blieb am Ende eine Person übrig, die Opfer beider Männer geworden war.

      Ich seufzte und nippte an meinem kalten Automatenkaffee. Er war kaum genießbar, aber versorgte mich mit der dringend benötigten Dosis Koffein. Allem Augenschein nach erwarteten uns Wochen, vielleicht sogar Monate, mit wenig Schlaf und noch weniger Freizeit. Sollten die Taten tatsächlich die Handschrift eines Serientäters tragen, würde eine Aufklärung schwierig werden.

      Die meisten Morde werden aus Leidenschaft oder im Affekt begangen. Das bedeutet, in der Regel suchen wir den Täter im näheren Umfeld des Opfers. Täter, die ihren Mord aufgrund starker Emotionen oder aufgrund einer Kurzschlusshandlung begangen haben, sind leicht zu überführen. Sie verfügen weder über die Kaltblütigkeit, noch über die Erfahrung, ihre Spuren ausreichend zu verwischen. Wenn sie sich versehentlich nicht selbst verraten, ist häufig das eigene Schuldgefühl so groß, dass sie im Falle einer Verhaftung ein umfassendes Geständnis ablegen, in der schwachen Hoffnung, sich die quälende Schuld von der Seele reden zu können.

      Anders verhält es sich bei Serientätern. Serientäter beziehen eine Art Stimulanz durch ihre Taten, in den meisten Fällen sexueller Natur. Sie sind ausgesprochen gefährlich. Sie sind Gewohnheitstäter, routiniert, und morden aus der Lust heraus, meistens ohne erkennbares Muster bei der Opferwahl. Für die Ermittler beginnt mit dem ersten Mord ein tödliches Wettrennen. Mit jedem Tag, den der Täter in Freiheit verbringt, wächst die Gefahr, dass er erneut zuschlägt. Erschwerend kommt hinzu, dass mit jedem weiteren Mord eine Art Gewohnheitseffekt eintritt, der dazu führt, dass die Abstände zwischen den Taten immer geringer werden, aus dem einfachen Grund, dass der Stimulus irgendwann nicht mehr ausreicht, um ihre sexuell motivierte Mordgier zu befriedigen.

      Als ob dieser Druck auf uns nicht groß genug wäre, lässt sich eine Serie von Morden nur schwer aus der Öffentlichkeit fernhalten. Sobald die ersten Medien Lunte gerochen haben, ist alles möglich: Von der Massenpanik, bis zu öffentlichen Anklagen und Lynchmobs. Alles schon da gewesen, zumindest in den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist also verständlich, dass jeder von uns den Druck spürte, der auf uns lastete, und eigene Mittel und Wege suchte, mit diesem Druck umzugehen. Ich will nicht behaupten, dass diese Mittel gut waren, wie zum Beispiel bei Bobby mit seinen Kneipenbesuchen, allerdings würde ich keinen Kollegen einen Strick daraus drehen.

      Steinmann riss mich aus meinen Gedanken, als er ins Büro stürmte. Seine Krawatte hing lose gebunden um seinen Hals, entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten. Er sah aus, als hätte er um die Akte kämpfen müssen, die er wie eine Trophäe vor sich her trug. „Ich habe Merkmanns Obduktionsbericht, sowie die Ergebnisse der Spurensicherung“, verkündete er mit aufgesetzt wirkender, professioneller Miene, obwohl es ihm deutlich anzumerken war, wie angespannt er sich fühlen musste.

      Er schob mir die Akte hin. Er hatte mich zum leitenden Ermittler der Kommission ernannt, obwohl im Grunde auch Bobby dafür in Betracht gekommen wäre. Allerdings war es eine kluge personelle Entscheidung, Bobby in seiner derzeitigen emotionalen Verfassung nicht mit einem Fall dieser Größenordnung zu betrauen. Bei uns in der Abteilung standen wir füreinander ein. Wenn es einem von uns schlecht ging, hielten die anderen ihm den Rücken frei. Jeder von uns hatte zugesehen, Bobby zu entlasten, seitdem ihm die Sache mit Marie passiert war.

      „Dann zeigen Sie mal her“, sagte ich wenig enthusiastisch und nahm die schwere Mappe in die Hand. Sollten die Ergebnisse nur ansatzweise wie im Fall Bruno Bauer ausfallen, dann waren wieder einmal viele Bäume umsonst gestorben.

      Die ersten Seiten waren erwartungsgemäß wenig spektakulär. Sie listeten die Daten des Opfers auf, die wir inzwischen bereits kannten. Mit dem Finger folgte ich den Untersuchungsergebnissen, die sich mit den Spuren in der Wohnung beschäftigten, bis ich mit der Fingerkuppe auf den von mir gesuchten Eintrag stieß. „Aha!“, sagte ich triumphierend und tippte demonstrativ mit meinem Zeigefinger auf die winzige Schrift. „Der Urin konnte tatsächlich einer Person aus unserer Datenbank zugeordnet werden. Endlich!“

      „Wer?“, fragte Bobby und richtete sich neugierig auf. Seine Müdigkeit war schlagartig verflogen. „Soll das heißen, wir haben endlich einen Zeugen?“

      „Genauso sieht es aus! Thomas Becher. Ein alter Bekannter!“

      „Kenne ich nicht“, brummte Bobby. „Wer ist das?“

      „Ein Junkie.” Ich blätterte ein paar Seiten weiter, bis ich auf seine Akte stieß. „Ich hatte mit ihm zu tun, als ich noch im Streifendienst tätig war. Er war einer

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