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Die Auferstehung des Oliver Bender. Hermann Brünjes
Читать онлайн.Название Die Auferstehung des Oliver Bender
Год выпуска 0
isbn 9783750226234
Автор произведения Hermann Brünjes
Жанр Языкознание
Серия Ein Jens Jahnke Krimi
Издательство Bookwire
*
Am Nachmittag recherchiere ich noch ein bisschen mehr zum Tagungshaus und der christlichen Gemeinschaft dort. Sie haben eine eigene Homepage. Man kann dort sein Freiwilliges Soziales Jahr machen und in Gemeinschaft mit acht weiteren jungen Leuten leben und arbeiten. Sie machen morgens und abends eine Andacht in der Kirche. Ganz schön fromm, denke ich. Dabei wirkten sie ganz normal. Ich muss grinsen. Wieder dieses »normal«, diesmal von mir. Vermutlich erscheint einem alles, was fremd und ungewohnt ist, erst einmal »unnormal«. Bei der Begegnung damit ändert sich das dann – jedenfalls meistens.
Ich rufe Pastor Klaus Kerber an. Sein Anrufbeantworter bittet um eine Nachricht. Vielleicht bereitet er seine Predigt vor. Es ist ja schließlich Samstag. Ob er morgen irgendwo einen Gottesdienst macht? Vielleicht sogar in Himmelstal? Dann könnte ich hinfahren und ihn möglicherweise auch antreffen.
Ich schaue in den Gottesdienstplan unserer Zeitung. Tatsächlich, morgen um zehn Uhr gibt es in Himmelstal einen Gottesdienst mit Pastor Kerber. Na, wunderbar!
Inzwischen habe ich großen Hunger. Am frühen Abend gönne ich mir ein »Madras-Chicken« beim Inder. Hier esse ich sehr gerne, trotz der recht hohen Preise. Als ich am Appalam knabbere, das sie zum Reisgericht serviert haben, fällt mir ein, dass Oliver Bender oft in Indien war. Ob er auch jetzt als möglicherweise Wieder-Belebter oder gar Auferstandener noch scharf isst? Ob er überhaupt noch essen muss? Ich bestelle mir ein großes Alsterwasser. Wenn man es mit angeblich lebendigen Toten zu tun hat, kriegt man seltsame Gedanken und vor allem Durst.
Sonntag, 11.8.
Wie lange war ich nicht in einer Kirche? Keine Ahnung. Das letzte Mal war wohl, als ein Freund geheiratet hat. Es ist Jahre her ... Inzwischen ist er wieder geschieden. Nun aber sitze ich in der drittletzten Reihe und erlebe eine Mischung aus Showprogramm, Déjà-vu, Zeitreise, Überraschungsei und Irritation.
Die Show ist wirklich gediegen. Jede Geste und jedes Wort sitzen, getragen von vermutlich hundert Jahren Praxiserfahrung. Pastor Kerber beherrscht sein Handwerk. Würdevoll und aufrecht schreitet der schlanke Mittdreißiger zum Altar. Mit klarer, heller Stimme betet er und intoniert die Gesänge. Sein schwarzer Talar fällt knitterfrei zu Boden. Das weiße Beffchen leuchtet. Mit klaren und doch dezenten Handbewegungen leitet der Hirte seine Herde. Aufstehen, hinsetzen, singen, hören. Alles klappt hervorragend. Oben auf der Kanzel erscheint er als himmlischer Bote und schwebt wie ein Engel des Herrn über uns Menschenkindern. Wie gesagt, die Inszenierung des Gottesdienstes ist beeindruckend.
Mit Déjà-vu meine ich Szenen, Gefühle, Gerüche und Gedanken, die mir irgendwie vertraut erscheinen. So, als hätte ich sie in einem anderen Leben schon einmal erlebt. Etwa gleich zu Beginn die Bewegung beim Aufrücken in die Kirchenbank. Am Platz angekommen, wird der Kopf zum Gebet gesenkt. Ich mache das seltsamerweise, ohne nachzudenken, einfach so. Dann die Müdigkeit, die während der Predigt aufkommt. Auch sie kommt mir erstaunlich bekannt vor. Als der Klingelbeutel herumgeht, zuckt es mir in den Fingern, etwas herauszunehmen. Auch das muss noch ein Restreflex aus meiner Zeit als Konfirmand sein.
Heute Morgen bei meinem kurzen Frühstück hätte ich niemals gedacht, dass dieser Kirchenbesuch so viel bei mir auslösen würde. Auch zu einer Art Zeitreise wird er zwischendurch. Ich fühle mich wieder als Konfirmand und muss der Versuchung widerstehen, etwas mit dem Fingernagel in die grüne Kirchenbank zu ritzen. Ich sehe mich als Bräutigam bei meiner ersten Trauung vor dem Altar sitzen. Ich stelle mir Jesus bei seiner Bergpredigt vor, wie er seinen Jüngern sagt, sie seien Licht der Welt und Salz der Erde. Zwischendurch scheint grelles Licht durch die Fenster in die Kirche. Vorne, neben dem Altar, sind auf beiden Seiten bunte Glasfenster, die das Leben Jesu darstellen. Einmal habe ich den Eindruck, ich sitze auf einem Lichtstrahl und berühre plötzlich die Dornenkrone des Gekreuzigten. Ich muss wohl für einen Moment völlig außer mir gewesen sein.
Vor allem aber bin ich überrascht, deshalb »Überraschungs-ei«. Ich hätte nicht gedacht, dass so ein Gottesdienst derart kurzweilig sein kann. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mir die Besucher genau anschaue. Nur die alte Dame vom Friedhof ist mir bekannt. Sie sitzt gegenüber auf der linken Seite. Ihren Rollator hat sie im Mittelgang abgestellt. Sonst kenne ich niemanden. Auch die jungen Leute aus dem Tagungshaus sind nicht da. Sie müssen wohl ihre Gäste versorgen. Genau genommen sind nicht besonders viele Besucher gekommen. Ich zähle 23, davon vier Jugendliche, vermutlich Konfirmanden.
Einige der Erwachsenen fallen besonders auf. Dazu gehört ein alter Mann in Trachtenlederhose und mit einem weißen Bart, der Rübezahl alle Ehre gemacht hätte. Neben ihm auf der Bank liegt eine Art Tirolerhut mit Gamsbart. Der Mann murmelt immer wieder seine Kommentare, auch zur Predigt. Ich verstehe gelegentlich ein »Amen« oder »Jaa!«. Er nimmt jedenfalls innerlich starken Anteil am Geschehen. Vorne sitzt eine ältere Frau, die sich eine altertümliche Fußbank unter die Füße geschoben hat. Sie hat uns vorhin am Eingang die Liederbücher gereicht und sammelt die Kollekte ein. Vermutlich ist sie die Küsterin. Ob man dafür Geld kriegt? Jeden Sonntag da sein, das ist selbst mit Entlohnung eine echte Leistung, finde ich. Ein Mann und eine Frau, beide um die fünfzig, haben die Begrüßung und Lesungen übernommen. Ich finde es prima, dass nicht nur der Profi alles macht. So kenne ich es aus meiner eigenen Konfirmandenzeit.
Überraschend ist für mich, dass der Pastor trotz zwischendurch etwas salbungsvoller Stimme ganz normal vom Glauben spricht. Als ob er glaubt, was er da sagt. Der Mann wirkt auf mich ziemlich vernünftig, glaubhaft und verantwortungsvoll.
Allerdings warte ich vergeblich auf das Thema »Oliver Bender«. Das irritiert mich. Der Pastor muss doch etwas von den Gerüchten im Dorf mitbekommen haben – selbst wenn er in der Kreisstadt lebt und nur wenige Kontakte zu den Dorfbewohnern hat! Vor einer Woche taucht zwei Tage, nachdem er ihn unter die Erde gebracht hat, der Tote angeblich wieder auf. Er wird von mindestens zwei Personen gesehen: Gerald und Corinna. Im Tagungshaus, wo Kerber auch mitarbeitet, diskutiert man über die Vorfälle. Längst kursieren Gerüchte im Dorf und man spekuliert bereits im Bäckerladen über Zusammenhänge – aber hier im Gotteshaus kein Wort davon!
Am Dienstag wurde das Grab geöffnet. Pastor Kerber soll selbst dabei gewesen sein. Seltsam. Wenn Benders Leiche nach der Öffnung noch unberührt im Grab lag, könnte der Geistliche doch die »Auferstehung Benders« ohne Probleme dementieren. Wenn das Grab dagegen allerdings leer war – warum verschweigen Kerber und alle, die bei der Öffnung dabei waren, dies?
Obwohl, dass die Kirche schweigt, ist vielleicht doch nicht ungewöhnlich. Im Dritten Reich, bei den Missbrauchsfällen ... die Kirche und ihre Vertreter haben vermutlich zu Vielem zu oft geschwiegen! Aber hier? Vielleicht sind die Christen von Himmeltal auch allesamt verunsichert. Lieber nichts sagen als falsche Urteile fällen. In einem kleinen Dorf wie diesem kann so was schnell eskalieren. Oder irgendetwas läuft hier im Hintergrund und niemand soll es wissen. Möglicherweise sind der Pastor und die Eingeweihten auch in einer Art Schockstarre. Immerhin gerät ihr gesamtes Bild vom Tod und wie und wann es danach weitergeht durcheinander. Oder hat sich ihre Erwartung einer Auferstehung von den Toten erfüllt und eben damit können sie nicht umgehen?
Ich habe natürlich keine Ahnung. Seltsam und irritierend ist es aber schon, dass der Vorfall ausgerechnet hier nicht angesprochen wird.
Am Ausgang reicht der junge Pastor allen die Hand. Aus der Nähe betrachtet wirkt Klaus Kerber noch jünger, als auf der Kanzel oder am Altar. Sein Händedruck ist fest, sein Blick ebenfalls.
»Und Sie sind das Erste mal hier?!«
Damit, dass er mich anspricht, habe ich nicht gerechnet. Aber vielleicht ist es meine Chance.
»Ja. Und ich würde Sie gerne gleich noch einmal sprechen.«
Nun wirkt er irritiert. Vermutlich erbitten nur wenige seiner Schäfchen nach Gottesdiensten ein Gespräch.
»Hm, ja gerne. Bitte