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Die Ei-Geborenen. Michael H. Schenk
Читать онлайн.Название Die Ei-Geborenen
Год выпуска 0
isbn 9783847698166
Автор произведения Michael H. Schenk
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Oben, in der Spitze des Kegels, befanden sich die Gemächer der Herrin von Sha, der Großen Mutter Shanaii-Doras-Sha, tief unten lagen die Bruthöhlen, in denen die Männchen, unter der Aufsicht wachsamer Kriegerinnen, die Eier pflegten. Einst hatte man dies nicht riskieren können. So selten es auch Regen in der Wüste gab, so waren die Wasserstürme zu Recht gefürchtet. Früher hatte man die Eier in den oberen Ebenen lagern müssen, da die unteren Räume zu schnell vom Wasser bedroht wurden. Da die Eier zu ihrer Reife jedoch eine bestimmte Temperatur benötigten, waren die Männchen gezwungen gewesen, sie ständig im Gelege hinauf oder hinab zu transportieren. Inzwischen hatten die Raan gelernt, ihr Gelege mit einem System von Schächten und Balgpumpen gleichmäßig zu klimatisieren.
Das Gelege der Sha war nicht die einzige Stadt der Raan, aber mit Sicherheit das größte Gelege des Volkes. Mehr als zwanzigtausend Köpfe zählte die Bevölkerung, darunter knapp zweitausend Männchen. Männchen, von denen Olud-Sha das unscheinbarste war.
„So, du siehst also das Gelege der Sha.“ Shanaii-Doras-Sha entblößte ein Stück ihrer Fänge. Ihr Blick wirkte verärgert, als sie Olud musterte. „Wärst du ein gewöhnliches Männchen, so würde ich die Antwort gelten lassen. Aber von dir, Olud-Sha, erwarte ich eine intelligentere Antwort. Also, nochmals, Olud, was siehst du?“
Olud grub die oberen Reißzähne in seine untere Lefze und kratzte sich unbewusst mit einem Vorderlauf am Kehlsack. „Das Land der Raan?“
Die Große Mutter schnaubte und stieß ihren Schützling ärgerlich an. „Olud!“ Sie schüttelte missbilligend den langen Schädel. „Besinne dich auf deine Fähigkeiten! Was meinst du, warum ich dich das Buch der Bücher studieren ließ? Nur wenige Kriegerinnen haben diese Ehre und du bist ein Männchen!“
Um die Stadt der Sha erstreckte sich die Wüste. Sie wirkte unendlich und, auf den ersten, flüchtigen Blick, nahezu leblos. Der Sand bedeckte den Boden in sanften Kuppen und Mulden. Oft strich Wind über ihn hinweg und brachte ihn in Bewegung. Es gab ausgedehnte Wälder der Kugelkakteen, die sich mit ihren langen Stacheln verankerten, um den Böen zu widerstehen. Die Kakteen ernährten sich von Mineralien und kleinen Insekten, die im Boden lebten. Zwischen ihnen huschte gelegentlich einer der kleinen Wüstennager umher. Die Pflanzenfresser suchten nach kranken oder abgestorbenen Kakteen und fanden zwischen den Pflanzen Schutz vor den seltenen Raubvögeln, die in den warmen Luftströmungen über der Wüste kreisten oder vor den noch seltener gewordenen Sharaks, die den Kampf gegen die Raan verloren hatten. Einst gefürchtete Raubtiere und die Herren der Wüste, waren die sechsbeinigen Räuber nun selber Bestandteil der Nahrungskette, und sie standen nicht mehr an ihrem oberen Ende.
Um den Stadtkegel herum erstreckten sich ausgedehnte Kakteenfelder. Die Raan hatten ein System ersonnen, mit dem sie die Bewegungen der Kugelpflanzen kontrollieren konnten. Auf dieselbe Weise, mit der sie die Räume und Gänge ihrer Gelege formten, hatten sie niedrige Wälle errichtet. Diese sperrten einige Areale der Wüste ab. Hatten die Pflanzen einen Bereich nach Nahrung abgesucht, wurden sie von den Ei-Geborenen mit langen Stachelstäben in einen anderen getrieben. So konnte sich der ausgelaugte Wüstenboden erholen. Die Raan förderten dies, indem sie ihn gelegentlich bewässerten und düngten. Pragmatisch, wie sie eingestellt waren, nutzten sie hierfür auch die Leiber ihrer Verstorbenen.
Olud konnte von der hohen Aussichtswarte mehrere Gruppen von Raan erkennen, welche in den Kakteenfeldern arbeiteten. Die Raan waren Allesfresser. Sie vertilgten Insekten, Sharaks, Schlangen und Pflanzen gleichermaßen, und je mehr das Volk wuchs, desto größer wurde sein Nahrungsbedarf. Das wenige Wasser, welches die Kugelpflanzen speicherten, reichte längst nicht, den Durst der Raan zu stillen. Daher standen ihre Gelege stets über einer der seltenen unterirdischen Quellen und bei einem Wassersturm wurde der willkommene Regen über die Klimaschächte in die Speicher der Stadt geleitet.
Olud-Sha knurrte leise. „Ich sehe das Land der Raan und seine Gelege.“
„Und was siehst du noch, Olud-Sha? Was?“
„Ein wachsendes Volk.“
„Richtig.“ Die Große Mutter nickte zufrieden. „Ein wachsendes Volk.“ Sie sah ihn auffordernd an und überragte ihn dabei um fast die Hälfte seiner Größe. „Nun?“
„Einst haben wir Kriege untereinander geführt“, erwiderte Olud nachdenklich. Er bemerkte ihren kritischen Blick und fuhr hastig fort. „Das hielt die Gelege klein. Nun sind wir geeint, unter dem Großen Ei der Göttin, und die Gelege wachsen.“
„Und?“
Olud war sich nun sicher, worauf die Große Mutter hinauswollte. „Die Gelege wachsen, aber nicht das Land, nicht die Menge an Nahrung, die es uns liefern kann.“
„So ist es.“ Shanaii schlug dem kleinen Männchen anerkennend auf den Schädel und Olud wäre fast vornüber gestürzt. „Wir wachsen, aber wir können es uns nicht mehr erlauben, zu wachsen.“ Sie wies über die Wüste. „Es gibt genug Raum für unsere Gelege, aber nicht genug Nahrung und Wasser.“
Olud kratzte sich am Kehlsack. „Dann dürfen wir keine Eier mehr legen.“
„Das wäre gegen die Natur der Dinge.“ Die Große Mutter lächelte ihn an. „Die Göttin hat uns die Gabe der Fruchtbarkeit gegeben, damit wir uns vermehren.“ Der Ausdruck ihrer Augen wurde eindringlich. „Und sie gab uns die Fähigkeit, zu kämpfen.“
„Ein erneuter Krieg?“ Olud sah sie schockiert an.
„Nicht gegeneinander“, wandte Shanaii ein. „Die Kriege der Gelege sind beendet. Aber unser Volk braucht neuen Lebensraum und es kann sein, dass wir darum kämpfen müssen.“
„Ich verstehe.“ Olud blickte unwillkürlich um sich. „Aber im Süden und Westen ist nur das große Wasser. Im Osten erheben sich die Gebirgszüge und im Norden…“
Das kleine Männchen stockte und die Große Mutter sah ihn aufmunternd an. „Sprich weiter, Olud-Sha.“
„Im Norden leben die zweibeinigen Säuger.“
„Ja, im Norden leben die zweibeinigen Säuger.“ Die Große Mutter schnalzte mit der dunklen Zunge. „Was wissen wir von ihnen, Olud?“
„Nicht viel.“ Olud runzelte die Stirn und seine kleinen Ohrlappen legten sich dabei eng an den Schädel. „Sie gehen, wie wir, auf zwei Beinen und haben zwei Vorderläufe, mit denen sie Dinge anfassen. Sie sind ganz weich und nicht gepanzert und sehr schwächlich.“ Er überlegte kurz. „Und sie haben nur wenige Waffen.“
„Woher weißt du das?“
Olud schnaubte verächtlich. „Weil die Kriegerinnen der Gelege in den vergangenen Jahren drei Gruppen der Säuger in der Wüste fanden und sie kaum Gegenwehr leisteten.“
„Sie waren geschwächt, von Durst und Hitze“, wandte die Große Mutter ein. „Ich habe dir in meinen Gemächern einige der Säugerwaffen gezeigt. Was hältst du von ihnen?“
„Ich bin nur ein Männchen“, knurrte Olud. „Von solchen Dingen verstehe ich nichts. Du solltest eine erfahrene Kriegerin fragen, Große Mutter.“
Olud pfiff schmerzerfüllt, als Shanaii ihn in die Flanke biss. Es war ein kurzer und ungefährlicher Biss, der ihn kaum verletzte, aber den Ärger der Großen Mutter zum Ausdruck brachte.
„Sei kein dummes