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als es gemeinhin getan wird. Ein sattelfester Bibliker bin ich allerdings nicht, auch kann ich mich nicht auf Visionen stützen. Hier geht es indessen um ein Bild von Jesus, das während Jahrzehnten in mir Gestalt angenommen hat. Es geht dabei nicht um Gefühl, sondern eher um kühle Überlegungen. Gut, es gab Menschen verschiedener Kulturen und einige nicht ganz alltäglichen Umstände, denen ich meinen jetzigen Blick auf Jesus verdanke. Ich glaube übrigens, dass Denken, Erleben und Tun nie isoliert sind.

      Ich kann eine mathematische Aufgabe dank meiner Vorbildung lösen, aber die Lösung hängt auch davon ab, ob ich das vorhergehende Essen gut verdaut oder ob ich gut geschlafen habe. Der Schlaf wiederum kann durch Ärger erschwert werden. Meine Fähigkeit, Frust wegzustecken kann von meiner Erziehung herstammen. Und schon bin ich bei den Einflüssen auf die Kindheit meines Vaters oder meiner Mutter usw. Ich hätte ja ebenso den Aspekt Verdauung weiter entwickeln können!

      Vor allem vier Umstände betrachte ich als grösste Geschenke meines Lebens.

       Von einem Ordensleben in festen Bahnen in der Heimat durfte ich in eine Kultur aufbrechen, von der ich gar keine Ahnung haben konnte, so speziell war sie (B 1.3.). Sie vermittelte mir den Blick in eine Gesellschaft, die ohne Hierarchie auskommt. Wollte Jesus nicht gerade das für seine Kirche?

       Ich hatte das grosse Glück, das Papst Johannes-Paul II die Stadt, in der ich arbeitete, auf einer seiner Reisen besuchte (B 1.5.). Das hatte zur Folge, dass ich mich, sozusagen in wenigen Stunden, von einem kritiklosen Papst-Fan zu einem am Vatikan zweifelnden Genossen wandelte. Und wenn einmal Dogma, Hierarchie und Moral angeschlagen sind, kann sich der Weg zu einem neuen Jesus-Bild öffnen.

       Deine Freundschaft und Deine Liebe befreiten mich von der Sexualmoral der römischen Kirche, die mich während vieler (etwa 26) Jahre lang gequält und viel Kraft gekostet hatte (dvUr B 2.10.).

       Einem Zusammenbruch und einer Krankheit verdankte ich den Freiraum, dieses Buch zu schreiben (dvUr B 2.11.).

      Kurz zu meiner persönlichen Geschichte: Mit 19 war ich römisch-katholischer Ordensmann, mit 37 ebenso römischer Ordenspriester. 27 Jahre verbrachte ich in einem Land Westafrikas. Nun bin ich 73 und habe das Privileg einer durch meine Gesundheit bedingten Auszeit. Es war für mich entscheidend, in meinen 27 besten Jahren, die Welt mit den Augen jener Menschen zu sehen, die heute die überwältigende Mehrheit ausmachen. Danach hatte ich einige Jahre Zeit, um die Welt von der Minderheit her zu betrachten. Und ich denke, dass sich mein Blick auf die Kirche und auf Jesus auf eine fast abenteuerliche Weise geändert hat. Ich habe mir Rechenschaft gegeben, dass die römische Kirche den Blick auf unseren Ursprung verstellt, dass es mit Hierarchen fast unmöglich ist, die Botschaft Jesu zu verstehen, obwohl sie natürlich das Gegenteil behaupten.

      27 Jahre in der Mission sind übrigens eine relativ lange Zeit, da eine alte Missionarsregel besagt, dass die Jahre „in Afrika“ doppelt zählen, und ich mich somit schon längst hätte zur Ruhe setzen können. Ich „höre“ das Stirnrunzeln meiner Mitbrüder, denn für einen Ordensmann gibt es natürlich keinen Ruhestand.

      Eine andere Missionarsregel gäbe mir das Vorrecht, dass mir etwas über fünf Fingerbreit Whisky in einem Longdrinkglas eingeschenkt würde, je eine Fingerbreit für fünf Jahre Arbeit in der Mission. Dies entsprach früher dem Intervall zwischen zwei Heimaturlauben. Vom „Whisky-Privileg“ profitiere ich nur bei Depressionen, die mir unter anderem meine liebe römisch-katholische Kirche (in der Folge Rkk) beschert.

      Ist es nicht so, dass unsere existentiellen Einsichten mit einer Anzahl Schlüsselerlebnisse verknüpft sind? Ich hätte als angehender Ordensmann nie und nimmer geahnt, dass ich das mir überlieferte Bild von Jesus und der Hierarchie der Rkk einmal radikal in Frage stellen oder die zehn Gebote als unwichtig einstufen würde. Es wäre mir nicht im Traum in den Sinn gekommen, die Dogmen der Rkk oder ihre Moral zu hinterfragen.

      ---- in Beziehung

      Mit den folgenden Briefen möchte ich das Grundaxiom von vielen afrikanischen Kulturen und Philosophien hervorheben, das da heisst:

      Ich lebe in Beziehung, also bin ich.

      In Beziehung bedeutet, in Verbindung mit den Mitgliedern der Familie, des Dorfes und der gleichen Kultur zu stehen. Dem gegenüber wirkt das in Frankreich immer noch geläufige:

      Ich denke, also bin ich.

      „Cogito ergo sum“, René Descartes in „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“ von 1641

      etwas egomanisch!

      Was ein Mensch ist und wird, ist und wird er dank seiner Eltern, seiner Umgebung, seiner Ausbildung und besonders dank seiner Freunde und Feinde. Die Freunde sind wichtig, da nur sie die guten Seiten einer Person erkennen und weniger gute Seiten relativieren, denn nur der liebende Blick dringt ins Innere. Die Feinde sind bedeutsam, denn sie haben ein schärferes Auge für die Schwächen, in denen sie wahrscheinlich ihre eigenen Fehler erkennen und bekämpfen.

      Meine Einsichten und Aussichten werde ich als ‒­ sicher etwas autobiografische ‒ Briefe an Dich, meine Freundin, darstellen und sie Dir widmen. Selbstverständlich verdanke und widme ich die folgenden Briefe ebenso unseren Feinden. Du hast den Wandel meiner Einstellungen und Überzeugungen miterlebt. Du meintest eines Tages, dass es interessant wäre, diesen Prozess festzuhalten.

      Für die Freunde Deiner Freunde möchte ich Dich sehr kurz vorstellen, vieles wird in der Folge klarer. Deine Herkunft aus einem sehr einfachen Milieu – in einer egalitären Konsens-Kultur – hat mir erlaubt, mit diesem Milieu viel konkreter als vorher verbunden zu sein. Du bist fröhlich, praktisch, intelligent, sensibel und sportlich (heute vielleicht weniger, etliche Jahre sind vergangen!), aber vor allem hast Du einen gesunden Menschenverstand und den Sinn für Weisheit. Du hast Vorurteile und Rassismus erlebt. Mit der Rkk kommst Du nicht so ganz zurecht, umso mehr aber mit der Person von Jesus. Von Deinen so spärlichen weniger guten Seiten will ich nicht reden. Ich liebe Dich nicht nur, weil Du absolut perfekt bist. Ich bin ja auch nicht vollkommen, Gott bewahre. Ich liebe Dich sehr, so wie Du bist. Du hast mir das Wasser gereicht, das man dem durstigen Fremden gibt und mir, so glaube ich, ganz wesentlich geholfen, Mensch zu werden.

      Du möchtest die folgenden Briefe obendrein Deinen Freunden aus verschiedenen Kulturen zur Verfügung stellen. Der Einfachheit halber werde ich nur von Deinen Freunden sprechen und damit Freundinnen und Freunde meinen.

      Da einige Deiner Freunde mit meinen Lebensumständen nicht vertraut sind, werden sie mein Zielpublikum sein, manchmal implizit, manchmal explizit. Für sie werde ich Begriffe erklären und von Erlebnissen berichten, die Dir, es versteht sich von selbst, geläufig sind.

      Natürlich bitte ich Deine Freunde, mehr auf das Gemeinte als auf die sprachliche Perfektion zu achten. Sie kennen sicher das geniale Büchlein „Le Petit Prince“ (“Der Kleine Prinz“, in der Folge klP) von Antoine de Saint-Exupéry. Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle eine Liebeserklärung an dieses Büchlein abzugeben, das von den wesentlichsten Seiten des Menschseins zu handeln scheint. Der Verfasser betont, dass es für die „Grossen Personen“ unmöglich ist, die elementarsten Dinge des Lebens zu erkennen. Als „Grosse Personen“ – les grandes personnes – werden im klP Leute beschrieben, die sich mit Konventionen zufrieden geben, sich selbst als bedeutend erachten und von Macht, Geschäft oder Konsum leben.

      Ein Beispiel bloss, wie „Grosse Personen“ sind: Der Asteroid B612, von dem der kleine Prinz kam, wäre um ein Haar nicht bekannt geworden. Ein türkischer Astronom hatte ihn entdeckt und an einem Astronomen-Kongress, mit Turban und Kaftan, davon berichtet. Natürlich fanden die „Grossen Personen“ seine Aufmachung lächerlich und niemand glaubte seinen Ausführungen. Ein türkischer Diktator gebot seinen Untertanen unter Todesstrafe, sich europäisch zu kleiden. Das rettete den Asteroiden B612 davor, vergessen zu werden, denn beim nächsten Kongress hatte der Astronom, diesmal im Smoking, überhaupt keine Probleme mit seiner Beweisführung (klP IV). Wenn ich jemandes Freund werden möchte, schenke ich

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