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Die Quellen des Zorns. Widmar Puhl
Читать онлайн.Название Die Quellen des Zorns
Год выпуска 0
isbn 9783738050516
Автор произведения Widmar Puhl
Жанр Социология
Издательство Bookwire
Materielle und ideologische Korruption
Kein Wunder, dass dem Anwalt das problematische Image anhaftet, er verdiene notfalls sein Geld auch mit miesen Tricks und nur zu gern unter Ausnutzung von Gesetzeslücken, degradiere bei der Verteidigung von Verbrechern Schuld oder Unschuld zu einer Frage verfahrenstechnischer Sportlichkeit und vergesse nicht bloß im Eifer des Gefechts das, worum es vor Gericht eigentlich geht: Gerechtigkeit.
Leider sind aber in Deutschland Generationen von Juristen in diesem Punkt schon durch ihre Ausbildung auf Unrecht geprägt: Kaum ein Erstsemester wird nicht in einer prominenten Lehrveranstaltung eines prominenten Hochschullehrers genüsslich mit dem Spruch konfrontiert "quod licet Jovi, non licet bovi" (Was Göttervater Zeus darf, darf der Ochse noch lange nicht). Die vom römischen Dichter Terenz überlieferte Redensart soll Ungleichheit zementieren in einem System, das angeblich auf die eisernen Säulen des römischen Rechts gebaut ist. Was die heutigen Interpreten dieses Satzes gern verschweigen: Sie sind nicht Gott oder gar Götterväter – und wir keine Ochsen bzw. kein Stimmvieh. Außerdem haben die alten Römer ihrem Chefgott Zeus gelegentlich einen Ochsen geopfert. Tier- oder Menschenopfer sind aber kein Merkmal unseres demokratischen Rechtsstaates. Im Gegenteil.
Ochs, Zeus und Reim hin oder her: Die historischen Privilegien des römischen Adels taugen nicht als Reverenz für einen demokratischen Rechtsstaat. Die Fundamente unserer Justiz mögen römisch sein; demokratisch sind sie nicht. Die einstige Weltmacht Rom wurde auf Sklaverei und Imperialismus aufgebaut, nicht etwa auf den Grundpfeilern der Demokratie. Zu zahlreich sind inzwischen die Fälle, in denen Juristen die Gerechtigkeit auf dem Altar persönlicher oder politischer Vorteile geopfert haben. Diese Herrschaften beschädigen den Rechtsstaat, weil sie immer mehr Bürgern das Gefühl geben, ganz unten in einer Klassengesellschaft zu leben, gegen die angeblich kein Kraut gewachsen ist und in der sie niemals zu ihrem Recht kommen werden.
Zu zahlreich sind die Fälle, in denen Wirtschaftsanwälte ihr Wissen dazu missbrauchen, weniger erfahrene Politiker über den Tisch zu ziehen, als „Sanierer“ oder „Berater“ gesunde Unternehmen zu ruinieren und sich auf Kosten der Angestellten und des Steuerzahlers maßlos zu bereichern. Zu zahlreich sind die Fälle, in denen Anwaltskanzleien zu effizienten Begleitern politisch fragwürdiger Manöver werden. Als z. B. der ehemalige Ministerpräsident Mappus (CDU) in Baden-Württemberg Aktien des Energiekonzerns EnBW aus Frankreich zurück kaufte – für über 4 Milliarden € und am Parlament vorbei unter Vorspiegelung einer nicht vorhandenen Notlage – war das verfassungswidrig, wie der Staatsgerichtshof rügte (übrigens völlig folgenlos). Er tat dies mit Beratung durch eine renommierte Kanzlei. Ein weiteres Beispiel wäre das Versenken von Steuergeldern bei der misslungenen „Sanierung“ des Nürburgrings durch eine SPD-Regierung in Rheinland-Pfalz. Zu aktuell, um sie zu übersehen, ist auch die Mitwirkung solcher Juristen in der von keiner Wahl autorisierten „Troika“ (EZB, IWF, EU), die zur Zeit im Auftrag der EU-Regierungen Griechenland kaputt spart: ohne Rücksicht auf soziales Mitgefühl oder die wirtschaftliche Vernunft eines Plans zum Wiederaufbau des maroden Landes, damit deutsche Banken sich weiter an steuerfinanzierten „Rettungsschirmen“ gesundstoßen können.
Respekt und Rechtssicherheit für alle
Es lohnt sich, einmal den historischen Bausteinen des demokratischen Rechtsstaates nachzusinnen. Sie waren ausnahmslos abhängig von einer moralisch verantworteten Interpretation. In der britischen Magna Charta von 1215 heißt es schon beispielhaft mit Blick auf eine konstitutionelle (d. h. durch eine Verfassung kontrollierte) Monarchie: „Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden; noch werden wir ihm anders etwas zufügen, oder ihn ins Gefängnis werfen lassen, als durch das gesetzliche Urteil von Seinesgleichen oder durch das Landesgesetz.“ Doch bekanntlich ist Papier geduldig, und nichts verhinderte später die Leibeigenschaft oder den Absolutismus.
In der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika war 1787 sogar schon das Recht des Menschen auf sein Streben nach Glück verankert. Was es den Menschen gebracht hat, wird heute noch diskutiert und wahrscheinlich immer heiß umstritten bleiben. Die erste Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stand 1789 am Beginn einer Französischen Revolution, die zwei Jahre später zum Terror der Guillotine führte und schließlich dem Alleinherrscher Napoleon erlaubte, Europa in Blut zu ersäufen.
Das „größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen“, das der englische Sozialreformer Jeremy Bentham (1748-1832) forderte, bleibt eine Herausforderung jeder Realpolitik. Bentham war immerhin nicht nur Jurist, sondern auch Philosoph und praktischer Politiker. Er gilt als ein Vordenker des modernen Wohlfahrtsstaats, forderte allgemeine Wahlen, das Frauenstimmrecht, die Abschaffung der Todesstrafe, Rechte auch für Tiere, die Legalisierung der Homosexualität und Pressefreiheit. Doch dieser Vorkämpfer von Demokratie, Liberalismus und Rechtsstaat kritisierte auch die französische Erklärung der Menschenrechte und trat für Wucherzinsen ein, rechtfertigte unter bestimmten Umständen die Folter und entwickelte ähnlich wie Otto Schily Phantasien von einem allgegenwärtigen Überwachungsstaat zum Schutz der modernen Zivilgesellschaft. Da sind wir dann ganz schnell beim Denken US-amerikanischer Republikaner wie George W. Bush.
Eine Zeitbombe: Tendenzen zum Selbstschutz
Staatswissenschaftler und Rechtshistoriker werden noch viel mehr über diese Dinge wissen. Entscheidend jedoch ist die Frage: Was will ich mit welchen Mitteln schützen? Was sollen welche gesetzlichen Mittel erreichen? Gesetze, auch die zum Natur- oder Denkmalschutz, dürfen niemals durch eine politische Güterabwägung zur Disposition der herrschenden Parteien oder Regierungen gestellt werden. Deren Umdeutung des Gemeinwohls muss Grenzen haben. Gleichheit vor dem Gesetz existiert nicht ohne Waffengleichheit bei weltanschaulichen oder politischen Meinungsverschiedenheiten und im Kampf um ein wirtschaftliches Auskommen. Es ist verheerend für die Akzeptanz des Rechtsstaates, wenn sich der Eindruck breit macht, dieses Gleichgewicht der Kräfte sei in Gefahr.
Hinzu kommt: Weltweit, aber eben auch in Deutschland, versuchen wirtschaftliche Eliten ihren Besitzstand zunehmend rücksichtslos wie in Zeiten des Frühkapitalismus durch Ausbeutung von Menschen, Ressourcen und Natur zu erhalten oder auch erst aufzubauen. Die Zahl der Menschen, die als Verlierer dieser Tendenz am Existenzminimum oder gar darunter leben müssen, ist in den meisten Ländern – auch Deutschland – dramatisch gestiegen. Die Zahl der Wohlhabenden dagegen nimmt ab, weil der Mittelstand mit der Bereitschaft zu teilen geschrumpft ist. Die logische Konsequenz dieser Entwicklung ist eine Zeitbombe, die bisher niemand auf dem Bildschirm hat: die Neigung zum Selbstschutz. Wer sich durch den Staat nicht mehr geschützt sieht, verliert auch die Lust, ihn zu respektieren oder gar ihm zu vertrauen. Wenn man also das Selbstverteidigungsrecht der Straße provozieren und den demokratischen Rechtsstaat destabilisieren will, muss man nur weitermachen mit dem begonnenen Abbau sozialer Rechte und ökonomischer Sicherheit für die große Mehrheit.
Die Mehrheit wird immer größer und unter diesen Umständen immer bedrohlicher für den Rest der Gesellschaft, der immer mehr den Kontakt mit der Mehrheit verliert und immer offener dazu neigt, gegen die Mehrheit zu regieren. Dass auch offene Gewalt und selbst Massaker am eigenen Volk wie in Syrien daran auf Dauer nichts ändern, führte die arabische Revolution eindrucksvoll vor, bis sie von Islamisten und Generälen gekapert wurde. Wir in Deutschland, in Europa, in den Ländern der „alten Welt“, der alten Kulturen und der alten Demokratien, müssen es besser wissen und besser machen. Wir haben den Blutzoll für die Aufklärung, die Säkularisierung und die Schocks von Sozialrevolution und Faschismus schon bezahlt. Wir müssen das alles nicht schon wieder haben. Es geht auch anders, aber eben nur mit Gerechtigkeit, Respekt und Rechtssicherheit für alle. Der Preis für jedes unverbesserliche „Weiter so“ wäre indiskutabel hoch. Mir graut bei der Vorstellung, was erst geschieht, wenn der Funke der Freiheit einmal flächendeckend auf Länder wie Russland und China überspringt. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ukraine oder in Hongkong sind wohl erst