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Wenn es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick zwischen Wohnungen und Menschen gab, dann hier zwischen Marthe und diesen stuckverzierten Quadratmetern. Letztlich hatte es Marthe auf der Vermieterseite einen riesigen Blumenstrauß, eine Schachtel Pralinen und mehrere Gespräche, deren Inhalt hauptsächlich aus massiven Schmeicheleien bestand, gekostet. Auf der Vormieterseite war es etwas teurer gewesen. 6.000 DM Abstand für altrosa Veloursvorhänge mit Quasten und ehemals beige Spannteppiche mit undefinierbaren bräunlichen Flecken. Aber Marthe wollte einfach hier wohnen und zahlte. Die Vorhänge waren an die Theater AG einer ihrer Freundinnen gegangen, die an einem Gymnasium in Olsdorf unterrichtete und Materialien für das Bühnenbild der Mutter Courage benötigte.

      Der Spannteppich war trotz verhaltener Proteste seitens Frau Finkenstein „ist doch schade drum, ist doch reine Wolle“, direkt in den Sperrmüll gewandert.

      Marthe wusste sofort, warum man ihr zu dieser späten Stunde in Häkelweste und plüschigen, kunstpelzverbrämten Hausschuhen auflauerte. Und Frau Finkenstein wusste ebenfalls, dass Marthe es wusste. „Ich weiß, dass Sie eine vielbeschäftigte, berufstätige junge Frau sind, aber das entbindet Sie nicht von der Putzpflicht!“ Marthe hatte diese Woche Treppendienst. Eigentlich hätte sie schon gestern die Treppe wischen und das Geländer polieren sollen. Aber da war sie so beschäftigt damit gewesen, die 5. Version des Marketingbudgets fürs nächste Jahr zu bearbeiten, dass sie diese Tätigkeit erst verschoben und danach verdrängt hatte.

      Marthe seufzte, lächelte Frau Finkenstein entschuldigend an und gelobte das Versäumte umgehend nachzuholen. Mit Diskutieren kam man hier nicht weiter, das wusste sie aus bitterer Erfahrung. „Mach ich, mach ich noch heute Frau Finkenstein, gleich nach dem Abendbrot.” Marthe wedelte mit der wohlduftenden Plastiktüte, und schob sich mit einem „schönen Abend noch" so schnell wie möglich am Zerberus vorbei.

      Auf den letzten Stufen, hörte sie bereits das Telefon klingeln. Stefan! Er hatte offenbar doch noch die letzte Maschine bekommen. Dann konnte der ganze missglückte Tag zumindest noch einen netten Abschluss bekommen. Marthe wurde ganz warm vor Freude, sie nahm die noch fehlenden Stufen im Galopp und ließ alles, was sie in den Händen hatte im Flur fallen. Leicht keuchend nahm sie den Hörer ab. „Twiete!" „Ja sag mal, wo hast du denn wieder die ganze Zeit gesteckt, ich hab schon den ganzen Abend versucht, dich zu erreichen, du könntest ja auch ruhig mal zwischendurch anrufen, aber dazu bist du natürlich wieder viel zu beschäftigt, ich könnte hier umfallen, keines meiner Kinder würde es bemerken.” Marthe wendete den Blick himmelwärts und schluckte einen enttäuschten Fluch stumm hinunter. Die Vorfreude auf einen unverhofften romantischen Abend erlosch genauso schnell wie sie entstanden war. „Hallo Muttchen”, seufzte sie mit flacher Stimme in den Hörer, aus dem sich in unverminderter Stärke und im üblichen leicht indignierten mütterlichen Tonfall ein Schwall von Fragen und Insinuationen in Marthes Ohr ergoss. Während Marthe mit strategisch eingestreuten mmhhs, ach wirklich oder sag bloß den Redefluss ihrer Mutter kommentierte, versuchte sie die Ente mit dem rechten Fuß aus der stabilen Seitenlage in eine aufrechte Position zu bringen. Ihr Magen knurrte so laut, dass sogar ihre Mutter es hören musste. Leicht verspätet fand sie die übliche Antwort auf die übliche mütterliche Frage. „Ich musste Überstunden machen.” Aber diesmal hatte ihre Mutter die obligatorische einleitende Runde mit rhetorischen Fragen schneller abgeschlossen als erwartet und ging nun unmittelbar zum wirklichen Grund ihres Anrufs über. „Tante Wilhelm ist tot. Verkehrsunfall. Zu schnell in die Kurve und da lag schon Eis.” Der leise Anflug von Genugtuung in der mütterlichen Stimme war nicht zu überhören. „Bitte lasse sie jetzt nicht die ganze Litanei abrasseln, sonst schrei ich”, betete Marthe im Stillen und ihr Gebet wurde erhört. Frau Twiete begnügte sich mit der kurzen Version: „Na, war ja auch nicht anders zu erwarten. Selbst in ihrem Alter hat sie sich ja immer noch aufgeführt wie eine Wilde. Allein der Wagen. Konnte ja wieder alles nicht groß und teuer genug sein.” Soweit Marthe sich erinnerte, war einer der Favoriten ihrer Tante das bordeauxrote Jaguarcabriolet gewesen. Der einzige Wagen, den sie nach dem Tode ihres Mannes behalten und über die Jahre regelmäßig durch das neueste Modell ersetzt hatte. Tante Wilhelm war eine gute Autofahrerin, die Geschwindigkeitsbegrenzungen und Verkehrsregeln einhielt, wenn sie Zeit dazu hatte. Da sie jedoch meistens in Eile und in Gedanken schon beim nächsten Punkt auf ihrer langen Aufgabenliste war, produzierte sie regelmäßig Schrammen, Beulen und Blechschäden. „Na, sollte eben in ihrem Alter keine Autorennen mehr fahren und schon gar nicht in angetrunkenem Zustand”, kam es spitz durch die Leitung. Der angetrunkene Zustand war das Sahnetüpfelchen. Marthe konnte hören, wie sich ein triumphierender Unterton in die mütterliche Indignation mischte. Tante Wilhelm hatte die Angewohnheit sich ein Glas ordentlichen Rotwein zu den Mahlzeiten zu gönnen und als Inhaberin eines ansehnlichen Vermögens, hatte sie bei der Beschaffung gehobener Qualitätsweine nie Probleme gehabt. „Besser und billiger als Vitaminpillen”, erwiderte sie stets lachend, wenn ihre Familie mit mehr oder weniger deutlichen Hinweisen auf ihren regelmäßigen Alkoholkonsum zu sprechen kam. „Man bekommt gute Laune und gesund ist es auch noch.” Marthe konnte das mütterliche „das hat sie nun davon, ich hab ja schon immer gesagt, dass das mal ein schlimmes Ende nehmen wird“, förmlich durch die Leitung fühlen. Normalerweise hätte sie jetzt irgendetwas in Richtung „wie furchtbar oder die Ärmste, das tut mir aber leid“, sagen müssen. Bei dem äußerst kühlen Verhältnis zwischen ihrer Mutter und deren Schwägerin „warum tut die denn auch bloß immer so extravagant, immer muss es bei ihr was anderes sein als bei Nachbarns“, hätten derlei Bemerkungen jedoch denselben Effekt gehabt wie Öl ins Feuer zu gießen. Mit dem neutralsten Tonfall, der ihr zur Verfügung stand beschränkte Marthe sich daher auf ein „hat sie noch sehr leiden müssen?”

      „Nein, sie war sofort tot, hat sich wohl beim Überschlagen das Genick gebrochen. Wir wurden ganz offiziell von ihrem Familienanwalt oder wie man diesem Herren nennen soll, informiert. Du weißt schon, dieser arrogante Schnösel, den sie zu Papas Beerdigung mitgeschleppt hat." Theresa Twiete machte eine bedeutungsvolle Pause. Sowohl aus rein praktischen Gründen, um Luft zu holen als auch um der Beerdigung vor nun bald sechs Jahren angemessen Rechnung zu tragen. Seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes, der im Alter von 62 Jahren ganz unpassend in den Armen seiner Verkaufsleiterin und Geliebten einem Schlaganfall erlegen war, hatte Theresa Twiete sich eine passende Geschichte zur Erklärung und zwecks mentaler Nachbearbeitung bereitgelegt, die sie über die Jahre mit ständig neuen Details erweiterte und verbesserte und die mittlerweile so überzeugend wirkte, dass sie selbst daran glaubte. Theresa Twiete, geliebte Ehefrau und Mutter von vier Prachtkindern „der Apfel fällt ja bekanntermaßen nicht weit vom Stamm“, wird nach 34-jähriger glücklicher Ehe „stellen Sie sich mal vor, genau an unserem Hochzeitstag fällt er mir um, das hat ja schon fast was Symbolisches,” brutal aus dem ehelichen Idyll gerissen, steht ganz alleine und hilflos da, ist oft am Ende ihrer Kräfte, gibt aber nicht auf, sondern kämpft sich durch. „Um der Kinder willen, auch wenn sie schon alle aus den Windeln raus sind.“ Glockenhelles Lachen. „Und weil Heinrich es so gewollt hätte.” Marthe hatte diese mütterlichen Phantasiegeschichten, in der die Realität soweit wie möglich ausgeklammert oder bis zur Unkenntlichkeit geschönt wurde, anfänglich gehasst und fühlte sich jedes Mal peinlich berührt, wenn sie bei Geburtstagen und an Fest- und Feiertagen Zeuge der mütterlichen Geschichtsbereinigung wurde. Besonders, weil sie wusste, dass die meisten der Anwesenden die Wahrheit kannten oder zumindest die Gerüchte, die kursierten. Ihre Mutter mit glühenden Wangen „ach nein danke, bloß keinen Kaffee mehr, bin schon ganz überdreht", im Kreise ihres Fanklubs, in dem nur ein paar gleichaltrige Damen mit Witwenstatus aktiv versuchten, mit ihren eigenen, bei weitem weniger spektakulären Todesfällen etwas von der Aufmerksamkeit zu erheischen, die Frau Twiete gerne 100% für ihre Person beanspruchte. Der Rest des Publikums interessiert lauschend, den Kuchenteller balancierend, und zwischen zwei Bissen Torte mit aufmunternden Kommentaren wie „nein wirklich und er sah ja auch immer so gesund aus, grausam so mitten aus dem schaffenden Leben gerissen", oder „Sie Ärmste, gerade wo sie endlich mal Zeit für sich selbst gehabt hätten, mit den Kinder aus dem Haus." Irgendwann befolgte Marthe Markus brüderlichen Rat, der ihre giftigen Bemerkungen über das zweifelhafte mütterliche Gedächtnis mit einem trockenen „was willst du eigentlich, andere rennen zweimal in der Woche zum Psychiater, unsere Mutter macht ihre Traumenbearbeitung selbst, dazu noch gratis und wie man sieht mit Erfolg“, kommentierte. „Wenn das ihre Methode ist zu verdrängen, dass unser

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