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Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte. Frank Hille
Читать онлайн.Название Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte
Год выпуска 0
isbn 9783737538183
Автор произведения Frank Hille
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Peter Becker hörte fasziniert zu. Das, was der Mann sagte, konnte er sich nicht richtig vorstellen. Sein Leben bewegte sich nur in dem kleinen Dorfkosmos, früh aufstehen, das Vieh versorgen, dann in die Schule, danach weitere Arbeit auf dem Feld oder in den Ställen bis zum späten Nachmittag, etwas herumstreunen mit seinen Freunden, Abendessen, und dann zeitig ins Bett. Jetzt im Sommer saß die Familie oft noch bis es dunkel wurde im Hof, die Frauen hatten Nähzeug dabei und die Männer tranken ein Bier und unterhielten sich, die Kinder schossen mit einem selbst gebauten Bogen auf eine Zielscheibe die an der Scheune angebracht war.
Er wollte an keinem anderen Ort leben.
Jugendzeit, Ostpreußen, Ende 1930iger Jahre
Obwohl die Arbeit anstrengend war kam ihn nie in den Sinn, dass er ein leichteres Leben haben könnte, er kannte es nicht anders. Sobald sich die ersten Muskeln an seinen noch dünnen Armen zeigten ging Peter Becker mit auf das Feld und erfüllte die Aufgaben die der Vater ihm zuwies. Anfangs musste er das Heu rechen, die Kartoffeln nachziehen, und auf dem Hof die Schweine versorgen, später lernte er vom Großvater den Pflug zu handhaben und den pferdebespannten Wagen zu lenken. Von Kindheit an war ihm der Umgang mit der Natur und den Tieren geläufig, und wenn er in der Frühe im Schweinstall den Mist wegräumte, war das für ihn eine selbstverständliche Sache, schließlich wollte er später auch das Fleisch und die Wurst ihres Viehs essen. Es war immer ein besonderer Tag wenn ein Schwein geschlachtet wurde. Im Dorf war es üblich, dass sich die befreundeten Familien zu diesem Ereignis auf dem Hof des Bauern trafen dem das Schwein gehörte. Zusammen mit den Kindern kamen manchmal schon fast zwanzig Leute zusammen und auf dem Hof herrschte ausgelassene Stimmung. Daran, dass seit Jahren Krieg herrschte und auch schon Männer aus ihrem Dorf gefallen waren, dachte in diesen Momenten niemand. Beim ersten Mal konnte Peter nicht zusehen wie der Bauer das Schwein mit der Axt erschlug, als es dann schon ausgeweidet an einem Gestell hing war es erträglich, und mit jedem weiteren Mal nahm er es als Lauf der Dinge hin, eines Tages würde er diese Arbeit auch verrichten müssen. Das Fleisch kochte in einem riesigen Kessel und die Männer bedienten einen Fleischwolf, in zwei Wannen wurde die Wurst zubereitet. Leberwurst und Blutwurst, die die Frauen nach den traditionellen Eigenarten jedes Hofes würzten. In einer weiteren Wanne wurde das Wellfleisch aufbewahrt und alle hatten die Hände voll zu tun, die noch warme Masse in Gläser zu füllen und im Einkochtopf luftdicht zu versiegeln. Die Schinken des Tieres kamen in den Keller des Hauses wo sie einige Zeit nur luftgetrocknet abhängen würden und damit ein ganz besonderes Aroma entwickelten. Als die Arbeit beendet war trugen die Bäuerinnen das Essen an einer langen Tafel auf: Kartoffeln, Sauerkraut, Wellfleisch und Wurstbrühe, dazu stellten sie den Männern Bierflaschen hin, die Frauen tranken Wein, und die Kinder bekamen Brunnenwasser welches mit Holundersirup gemischt war. An dem langen Tisch bildeten sich wie üblich Gruppen, die Männer saßen an der einen Seite zusammen, die Frauen in der Mitte, immer mit einem Blick auf die Kinder und diese neben ihnen, wobei die Älteren der Kinder ihren kleineren Geschwistern halfen das Fleisch zu schneiden und sie bei Tisch hielten solange gegessen wurde. Peter Becker war schon immer ein Fleischesser gewesen und das Schlachtfest eine willkommene Gelegenheit sich den Bauch ordentlich zu füllen. Keineswegs herrschte zu Hause bei ihnen Mangel an Nahrung aber dieser Tag mit seiner eigenartigen Atmosphäre war etwas Besonderes und er merkte auch, wie alle ihn genossen. Die Männer tranken nach dem Essen ordentlich Schnaps und bald wurden ihre Stimmen lauter, die Witze rauer, und die Mütter schickten die Kinder zum Spielen auf die Wiese. Die kleinen vertrieben sich die Zeit mit Fangen und Ballspielen. Mitleidig schauten die Älteren auf sie und liefen zum Seeufer. Es war noch hell und die Sonne schien drückend auf die Jungen herab, schnell zogen sie ihre Sachen aus und sprangen in das erfrischende Wasser. Als sie später auf der Wiese lagen eröffnete Richard das Gespräch.
„Der Vater vom Erwin ist gefallen, gestern haben sie die Post bekommen. Der arme Kerl war heute nicht in der Schule, kann ich verstehen. Wie wollen die das jetzt bloß hinkriegen, drei Kinder, die großen Felder und nur noch die Mutter und die Großeltern auf dem Hof, das schaffen die allein niemals.“
„Dann müssen sie eben etwas von ihrem Boden abgeben“ schlug Karl vor.
„Und den nehmt ihr dann, oder“ fragte Paul höhnisch.
„Das habe ich doch gar nicht gesagt“ verteidigte sich Karl „aber würdest du es wollen, dass das Getreide auf dem Halm verfault, nur weil sie es nicht ernten können?“
„Nein, das würde mir leid tun, aber vielleicht können sie einen Russen bekommen den unsere Soldaten gefangen genommen haben. Wäre doch eine Idee, oder“ sagte Paul „die Hartmanns haben doch auch einen.“
„Ja, die Russen wachsen auf den Bäumen, wenn du einen brauchst pflückst du ihn einfach ab“ lästerte Peter.
„Hör doch auf zu spinnen“ wies ihn Paul zurecht „Horst, dein Vater ist doch Bürgermeister, der muss es wissen, frag ihn doch mal.“
„Das werde ich heute tun“ versprach Horst „morgen sage ich euch Bescheid, wir treffen uns wieder abends hier.“
Es war kühler geworden, langsam ging die Sonne unter und die Jungs liefen zu ihren Höfen zurück. Peter Becker hörte die lauten und ausgelassenen Stimmen der Männer die noch immer bei Bier und Schnaps saßen. Morgen früh würden sie sicher mit einem Brummschädel aufstehen, aber die Arbeit an der Luft sollte dem schnell abhelfen. Zu Hause angekommen las er noch eine Weile in einem Karl May Buch, dann war er schnell eingeschlafen.
Die Dorfschule war ein alter Backsteinbau, in dem sich in einem Raum alle Kinder drängten die alt genug waren, um Lesen und Schreiben zu lernen. Peter Becker zählte zu den Älteren, der Lehrer, der alte Backmann, hatte sie in Gruppen um schlichte Holztische gesetzt. Bei Peter saßen die Jungen seines Alters, die ähnlich alten Mädchen am Nebentisch. Der Lehrer schrieb Aufgaben an die Tafel, er hatte diese in vier Felder mit Kreide eingeteilt. Links oben standen die für die Großen, rechts unten die der Kleinen. Rechnen machte Peter Spaß, ohne Mühe löste er die Aufgaben, heute war zu multiplizieren, und als er fertig war griff er zu seinem Karl May Buch und las. Paul kam schlecht mit und er fragte Peter öfter wie er die Aufgabe lösen sollte, ähnlich ging es Karl. Für Peter schien klar zu sein, dass er als Bauer mit Mathematik wenig zu tun haben würde, dennoch wuchs sein Interesse immer mehr, und das entging auch dem Lehrer nicht. Er nahm es hin, dass Peter in seinem Buch las, was sollte er den zweifellos besten Schüler ermahnen, er spornte ihn vielmehr dazu an den anderen auf die Sprünge zu helfen und Peter gefiel sich in der Rolle des Gehilfen des Lehrers schon. Eines Abends erschien Backmann auf ihrem Hof und sprach mit seinem Vater. Peter hatte ein mulmiges Gefühl, denn sonderlich diszipliniert war er nicht, und an den üblichen Streichen in der Schule beteiligte er sich mit Freude.
Als der Lehrer den Hof verlassen hatte erwartete er vom Vater gerufen zu werden, der tat nichts dergleichen. Erst zum Abendbrot nahm der Vater das Wort.
„Dein Lehrer hat mir vorhin gesagt, dass du sein bester Schüler bist, darüber freue ich mich sehr. Er hat mir auch vorgeschlagen dich auf eine bessere Schule in der Stadt zu schicken, was hältst du davon“ fragte der Vater.
Peter Becker war überrascht, seine Sorge vor einer Ermahnung überflüssig gewesen, was der Lehrer seinem Vater berichtet hatte kam für ihn vollkommen unverhofft. Im Augenblick war er nicht in der Lage etwas zu sagen, und sein Vater nickte verständnisvoll.
„Denke darüber nach, morgen reden wir noch einmal über diese Sache. Es wäre schön, wenn es einer aus unserer Familie einmal weiter als bis zum Bauern bringen würde, du könntest der erste sein, überlege es dir in Ruhe.“
Im Bett wälzte der Junge die Gedanken. Er fühlte sich mit seiner Familie, dem Dorf und seinen Freunden so stark verbunden, dass er sich nicht vorstellen konnte weg zu gehen, zumal nicht allein. Er wusste, dass der Bruder seines Vaters Richard in der Stadt wohnte und in einer Blechfabrik arbeitete, sein Vater hatte als älterer Sohn den Hof übernommen und sein Bruder wollte nicht in der zweiten Reihe stehen und zog 1932 mit seiner Frau und den Kindern in die nahegelegene Stadt. Anfangs kam der jüngere Bruder noch oft am Sonntag vorbei, es zog ihn einfach auf das Land,