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Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
Читать онлайн.Название Dame in Weiß
Год выпуска 0
isbn 9783847668299
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Eines Tages legte ich meiner Mutter die standesamtliche Urkunde aufs Bett. Sie fühlte sich nicht wohl - es war ihr drittes Kind, sie bekam es im Alter von achtunddreißig Jahren. Ihr Gesicht war knochig geworden, ihre Finger dünn und weiß, mich entsetzte alles, dieser Geruch von Schweiß und Schwäche. Ich half ihr beim Aufstehen, half ihr beim Waschen der Windeln, ich ekelte mich, aber ich blieb standhaft; oft badete und fütterte ich das Kind allein. Schule gab es keine mehr, ich hatte Zeit.
»Du musst sie lesen«, sagte ich.
Sie las und legte das Blatt in ihr Schubfach.
»Kriemhilde ist ein blöder Name, Mama.«
Ich hatte eigentlich nichts gegen den Namen einzuwenden gehabt, aber ich wollte dieses Mädchen, an dessen Leben ich meinen Anteil hatte, zu meinem Besitz schlagen.
»Aber wie bist du bloß auf den Namen Veronika gekommen?«
»Ich habe im Buch nachgesehen, er gefiel mir - Verena, Veronika. Ich habe Papa den Namen geschrieben.«
Sie erschrak, fiel in ihre stumpfsinnige Müdigkeit und fragte leise: »Und hat er schon geantwortet?«
Ich log, dass er geantwortet habe. Sie verlangte den Brief zu sehen, und ich log weiter: »Ich habe ihn mit verbrannt, als ich die anderen Sachen verbrannt habe.«
Ob sie mir glaubte oder nicht, war mir gleichgültig.
»Wenn Felix hier wäre«, sagte sie.
Felix erschien und mit ihm mein Großvater Friedrich Arzt. Er trug noch immer seinen dunklen, jetzt abgeschabten Anzug, eine Weste und den dünnen schwarzen Schlips. Ihm war ein dichter grauer Bart gewachsen, und mein Großvater hatte eine Glatze bekommen. Er setzte sich an das Bett seiner ältesten Tochter. Felix setzte sich zu ihr, sie nahm seine Hand, und ich drängelte mich neben Felix. Mein kleiner Bruder verströmte Wärme, er war braun gebrannt und lachte viel.
»Es geht dir anscheinend nicht sehr gut«, sagte mein Großvater missbilligend. »War es nötig, in deinem Alter noch ein Kind zu bekommen?«
Meine Mutter sah schuldbewusst auf die Decke ihres Bettes, ihre Hände bewegten sich krampfhaft, sie schloss und öffnete die Fäuste.
»Lass sie in Ruhe«, sagte ich zu meinem Großvater. Friedrich Arzt bemerkte: »Und warum hören wir von diesem freudigen Ereignis erst jetzt? Wo ist dein Mann?«
Sie weinte, mich quälte dieses Gerede, ich nahm instinktiv ihre Partei oder stand vielleicht auch schon bewusst gegen den philiströsen alten Mann, diesen ordentlichen Menschen, der einer Leidenden einen Tritt versetzte und sich zu dieser Rohheit berechtigt glaubte.
Er stand auf, ging hin und her, so wie er vielleicht in seiner Dorfschulklasse hin und her ging.
»Hier bleiben könnt ihr nicht. Das ist wohl klar, du«, er zeigte auf mich, »musst endlich wieder zur Schule gehen, sie braucht in der Tat Pflege, und die Luftangriffe hier tun ein Übriges. Ich denke, es ist das Beste, Mutter und Kinder kommen zu uns nach Hammelspring.«
Ich war gegen diesen Plan, ich weiß nicht warum, seine Art stieß mich ab.
»Ich gehe in keine Dorfschule.«
Er tat erstaunt. »Was heißt, du gehst in keine Dorfschule? Wie sprichst du überhaupt mit mir?« Er wandte sich an seine Tochter. »Verena!«
Ich sah, dass sie Angst vor ihm hatte, dass sie lieber hierblieb, mit der Todesgefahr, an die wir uns gewöhnt hatten, dass sie diese Gewissheit nicht mit einer Ungewissheit vertauschen wollte.
»Meine Schule wird nach Oberschlesien verlagert, ich geh mit. Ich will mit.«
»So?« Er nickte. »Schön, und du? Was hast du hier verloren?«
Sie fasste Mut. »Wirklich, Vater, ich bin besser in Wriezen aufgehoben beim Bruder des alten Stadel. Ich will dort ein bisschen arbeiten.«
Er überlegte. »Es ist das Jahr der Entscheidung, zweifellos, unser deutsches Volk befindet sich in einer Lage ...«
Ich hörte nicht mehr zu, sondern zog meinen Bruder hinaus: Aber ich ließ die Tür offen, für alle Fälle.
»Felix, wie geht es dir?«
Ich fühlte, dass eine wichtige Entscheidung über unsere Zukunft bevorstand, dass der alte Friedrich Arzt überhaupt nur deshalb gekommen war, um eine Lösung zu erzwingen, eine Lösung, die er für richtig hielt. Mein Bruder trat zu mir, legte mir beide Arme um den Hals, er schmiegte sich an mich, ich streichelte ihn.
»Ich will wieder zu euch.«
»Ich versprech dir, wir kommen alle wieder zusammen, das versprech ich dir, jetzt musst du noch mal mit nach Hammelspring, und ich muss wahrscheinlich nach Gleiwitz oder in ein anderes Kaff. Mutter zieht mit Roka weg, und vielleicht kommt Vater bald.«
Jetzt, wo ich aufzählte, was uns heimgesucht, war mir klar, dass sich keine günstige Wende anzeigte, dass alles mit dem Krieg zusammenhing, der, für uns keine heroische Seite hatte. Er riss uns auseinander.
Am anderen Tag brachte ich den Alten und meinen Bruder zur Bahn. Wir standen auf dem Bahnhof, es war ein kühler Tag, Regenschauer und Sonnenschein lösten sich ab. Mein Großvater trug sein graues und schwarzes Zeug, dazu einen Mantel und einen Hut. Mein Bruder Felix lief hin und her, er tat mir leid, ich sah, dass er wie ein eingesperrter Vogel herumflatterte, ohne einen Ausweg zu finden.
»Man hat mir gesagt, dass du dich ausgezeichnet gehalten hast«, begann mein Großvater, »eines deutschen Jungen würdig.«
Ich hasste ihn für diesen Zusatz, ich war stolz darauf, ein Deutscher zu sein, das stimmte schon, aber ich wollte nicht werden wie dieser dürre Schulfuchs, den ich mir beim besten Willen nicht als Armin vorstellen konnte, der die römischen Legionen, bezwang. Ich durchschaute die Absichten meines Großvaters, der nie etwas Unvernünftiges tat.
»Dein Vater möchte seine Tochter natürlich sehen, aber du weißt ja, dass es nicht immer nach unserem Willen geht. Der Führer ...«
Ich ließ ihn stehen, um Felix zurückzuholen, der sich sorglos in Nähe der Bahnsteigkante aufhielt. Meinem Großvater war ich entronnen, aber nicht meinen Gedanken. Er wusste so gut wie ich, dass Veronika einen anderen Vater als ich hatte. Er wollte auf den Busch klopfen, mich täuschen oder aushorchen; gestern noch hatte er den Sittenrichter gespielt, heute hielt er es für gut und richtig, sich auf die Tatsachen einzustellen.
»Papa ist nicht Veronikas Vater«, sagte ich, »aber sie ist unsere Schwester.«
Er sah in die Ferne, konnte sich nicht entschließen, mir zuzustimmen, und sagte: »Du bist sonderbar, eiskalt glaube ich. Da kommt unser Zug.«
Wir brachten die Sachen ins Abteil, mein Bruder ließ seine Arme aus dem heruntergelassenen Fenster hängen. Es wimmelte von Soldaten: mit Gepäck, ohne Gepäck. Feldgendarmerie ging auf und ab, Rotkreuzhelfer standen herum. Der Zug war nicht stark besetzt, es war ein Personenzug, der bis Templin fuhr. Von dort wurden mein Großvater und Felix mit einem Pferdefuhrwerk abgeholt.
»Also, mach's gut«, sagte mein Großvater, und nun, beim Abschied, fiel mir auf, dass er sehr gealtert war, auch ihn nahmen die Ereignisse mit.
Dann rollte der Zug aus dem Bahnsteig. Ich drehte mich um und fuhr zu Goll, um etwas über unseren neuen Aufenthalt zu erfahren, denn Goll, Jendokeit, Schott und wer sonst noch zu uns gehörte, fuhren selbstverständlich mit nach Gleiwitz.
Meine Mutter sagte: »Glaubst du das wirklich?« Sie wendete sich an Veronika, »Roka, du musst ihm das ausreden, er leidet in letzter Zeit an solchen Hirngespinsten.«
Meine Schwester saß am Steuer ihres Wagens, Verena neben sich, ich saß hinten.
»Können wir fahren?«
»Bin ich Luft für dich?«, fragte meine Mutter.
Veronika schaltete den Motor ein, er brummte leise, ich schloss die Augen und erwartete, dass sie anfahren würde, aber sie schaltete den Motor wieder aus und drehte sich halb