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Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
Читать онлайн.Название Dame in Weiß
Год выпуска 0
isbn 9783847668299
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Hatte sie nicht doch ein bestimmtes Gefühl des Einverständnisses mit diesen banalen Handlungen ausgedrückt? Und kam es dem Staat nicht gerade auf dieses Einverständnis an?
»Sicher, darauf kam es an. Immer wenn bürgerliches Leben bis an die Grenze des Erträglichen strapaziert wird, bedarf es der Zustimmung durch uns, den Bürger, mag diese Zustimmung noch so unbestimmt ausfallen.«
Seit Jahrzehnten lebte sie mit ihren Vorstellungen, kam selten noch aus dem Haus und traf immer mit denselben Menschen zusammen. Sie suchte auch keine neuen Bekanntschaften, dafür erneuerte sie, auf sich gestellt, die alten und lebte stark aus Gelesenem heraus.
Sie bekannte: »Ich hatte das gleiche Pech wie du, zu einer unglücklichen Zeit aufgewachsen zu sein. Meine Schwester, die von dir vergötterte Barbara, später geboren als ich, durfte nach dem Lyzeum die Kunstschule besuchen. Auguste, noch später zur Welt gekommen, wurde Lehrerin. Nur ich musste neunzehnhundertachtzehn in die Lehre zu Max Hirsch. Du darfst nicht vergessen, dass drei Mädchen eine hohe Belastung für einen Lehrerhaushalt bedeuteten.«
»Ihr ward natürlich konservativ, katholisch, national, Zentrum?«
Meine Mutter überlegte einen Augenblick, dann sagte sie mit Nachdruck: »Nein, nichts von alledem. Nur wenige Menschen waren damals überhaupt ideologisiert. Die Monarchie war eine uralte Einrichtung, eine unumstößliche Tatsache. Sie hatte mit dem öffentlichen oder dem bürgerlichen Leben nicht das Mindeste zu tun. Der Kaiser galt als eine gottähnliche Person im Narrenkostüm des obersten Soldaten, made in Germany. Wenn es überhaupt eine Ideologie gab, dann war es, die Tradition.«
Ich hielt ihr entgegen, dass sie das Bürgertum ihrer Schicht im Blick hatte, dass eine Menge Leute die Gottähnlichkeit des Kaisers anzweifelten, dass die stärkste Partei die Sozialdemokratische gewesen ist, aber Verena stellte sich taub.»Vielleicht etwas später, nicht in der Periode, die ich meine.«
Es entstand eine Pause. Solche Pausen ließ Verena zu, wenn sie auf ein neues Thema überleiten wollte.
»Ich hätte ein humanistisches Gymnasium lieber gesehen als die Oberrealschule, aber dein Vater setzte sich in dieser Frage durch.«
Der alte Stadel hockte auf seinem Schreibtisch, den rechten Fuß, auf die Sitzfläche des Stuhles gestellt. Zwei Männer waren noch im Zimmer, Handwerker, die seit Langem für Stadel arbeiteten. Die Männer tranken Bier aus Flaschen. Ich saß auch im Zimmer und wollte mit Zeichenstift auf Papier festhalten, was ich sah: Die geröteten Gesichter der Männer, ihre langsamen Bewegungen, wenn sie aus den Flaschen tranken, brachte aber nichts zuwege.
Seit den Septembertagen murrte und maulte der alte Stadel herum. Schon leiser Widerspruch ließ ihn hochgehen wie eine Zündladung. »Der Herr mit der Schuhwichse unter der Neese«, und zu mir, »hör mal jetzt weg«, er konnte seinen Handwerkern vertrauen, »der Herr seift uns ein. Was das betrifft ...«
Er fuhr fort, die Lage zu schildern und entwarf eine dunkle Zukunft. Meine wachsame Großmutter erschien, nahm den Männern die Flaschen weg und empfahl: »Wenn die Herren sich etwas leiser unterhalten wollten?«
Darauf ging der alte Stadel wirklich hoch. »Wie mich diese Weiber ankotzen mit den Hängetitten und den Zwiebeln. Hoch das Bein, der Führer braucht Soldaten. Eine Frau ist ja was anderes als eine Brutmaschine. Und jetzt noch das. Dieser Krieg ...«. Er schien sehr besorgt, was seinen Zorn milderte.
Meine Großmutter nahm mich mit hinaus, ließ mich nicht mehr aus den Augen, schälte eine Apfelsine und gab mir die Stücke gezuckert auf einem Teller. »Iss das mit Verstand, lange werden wir solche Sachen nicht mehr kriegen.«
Marta Stadel, geborene Bittner, hieß: die Kohlkoppen. Ihr Haar war immer schon fast weiß, wurde berichtet. Sie erschien mir nicht alt, sondern einfach stark, und ich schätzte sie wegen ihrer Ruhe. Auch Mattias Stadel schätzte sie, wie alle wussten, von ihr ließ er sich leiten.
Das Zimmer in der Seumestraße war mit soliden alten Möbeln eingerichtet und geschmückt mit einem riesigen Bild in schwerem Rahmen. Alles wirkte hier fest, unverrückbar, sicher. In einer Ecke stand der Säbel des ehemaligen Husaren Stadel. Ich zog ihn aus der Scheide und fuchtelte damit herum.
»War es nicht gestern noch der Weiße Adler?«, fragte meine Großmutter spottend.
Sie nahm mir den Säbel weg und schob ihn wieder in die Scheide. »Du haust mir noch was runter.«
Sie trug ein blaues, einfaches Kleid mit einem schmalen Gürtel, am Kragen war das Kleid weiß abgesetzt, und ihr Hals schob sich kräftig aus dem Blau des Kleides. Ihre Augen waren von einem warmen Grau, und die Hände hatten eine angenehme Form, das richtige Maß, wie ich empfand. Plötzlich fragte sie: »Wer wird der erste Tote in unserer Familie sein, Hannes?« '
Ich wusste keine Antwort. Krieg und Schrecken waren für mich noch keine zusammenhängende Erscheinung. Aber dass Soldaten im Felde starben, wusste ich. Von allen Männern, die ich kannte, kam nur mein Vater als Soldat in Betracht. Niemand sonst. Dass mein Vater Soldat werden und fallen könnte, war mir nicht vorstellbar.
Sie starb ein Jahr nach Kriegsbeginn.
Es war Mitte Dezember, nasskalt und neblig. Aus einem tief hängenden Himmel rieselte Schneeregen. Meine Familie stand auf dem Platz vor der Leichenhalle. Das schwarze Tuch der Mäntel glänzte vor Nässe, und in den Zylinderkrempen sammelte·sich Schmelzwasser. Die Frauen hielten ihre Gesichter hinter schwarzen Schleiern versteckt, unter denen man ihre Trauer ahnte; ich hätte allen Dreien gern in die Augen gesehen. Trauer war mir kein Begriff, ich empfand keine Trauer, ich empfand nur Grauen und fürchtete mich vor dem Augenblick, wo ich die Tote sehen würde.
»Wir haben lange darüber nachgedacht, ob du schon verständig genug warst, von deiner Großmutter Abschied zu nehmen. Dann entschieden wir, es wäre besser, du würdest sie noch einmal sehen. Leid macht sittlich.«
Leid macht den sittlich, der schon einen sittlichen Begriff besitzt. Es war ein scheußlicher Tag. Kälte kroch mir die Beine hoch, und ich, erwog, eine Ohnmacht vorzutäuschen, um auf mich aufmerksam zu machen: Seht, auch ich leide.
Der alte Stadel legte mir die Hand auf die Schulter. Er weinte, ohne das Gesicht zu verziehen, ich fühlte seinen Schmerz und bewunderte seine Selbstbeherrschung. Nur die harten, wimpernlosen Lider schlugen schneller als gewöhnlich; mit jedem Lidschlag flogen Tropfen wie aus einer Schleuder. Erzogen, den Tatsachen nicht auszuweichen, sah ich meinen Großvater aufmerksam an. Zum ersten Mal erfasste ich ihn ganz, die kraftvolle, mittelgroße Gestalt, seinen Kopf mit den kräftig gebildeten Zügen, mit Wangenfalten, mahlenden Kiefern, die lang herabhängende Nase.
»Am Abend davor hat sie gesagt, nun hör doch mal zu, wenn ich dir was erzähle«, begann er, »gerade heute will ich dir was erzählen. Ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat, ich weiß, dass wir gebratenen Fisch aßen und Bier tranken. Nachts bekam sie einen Gehirnschlag. Sie lebte noch, als der Arzt kam. Während er sie untersuchte, starb sie. Auf ihrer Nähmaschine liegt noch ihr Zeug, sie ist immer mit mir rumgezogen, mein Junge, ich bin viel auf Reisen gewesen, bis ich dann in Berlin fest wurde. Sie ist tot, vergiss sie nicht.«
Mir wurde bei, dieser Erzählung klar, dass er nicht gelogen, hatte. Er war wirklich in Amerika gewesen, und es gab auch diesen Seeoffizier, mit dem er die Schlacht bei Skagerrak durchgestanden, jenen Mann, der meinem Großvater später die Verwalterstelle verschaffte, ihm zu Wohlstand verhalf. Und ich begriff auch, dass er eine Schuld abtragen wollte; er war nicht mehr sicher, ob er richtig gehandelt hatte.
Barbara gesellte sich zu uns, und damit waren die mir nahestehenden Menschen um mich. Wir gingen hinunter in die Leichenhalle, dumpfer Geruch nach Verwesung schlug