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Briefe aus dem Grand Hotel. Helmut H. Schulz
Читать онлайн.Название Briefe aus dem Grand Hotel
Год выпуска 0
isbn 9783847680802
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Massenausreisen und Massenbesuchsreisen - es wurden bis jetzt rund 10,5 Mio. Visa ausgegeben, so die amtliche Mitteilung - stehen im reziproken Verhältnis zur Absicht der geordneten Grenzöffnung; anders ausgedrückt, es sind innerhalb weniger Wochen fast zwei Drittel der Bevölkerung hin- und hergereist, eine gewaltige Zahl, wenn man bedenkt, dass eine wahrscheinlich ziemlich große Gruppe gar nicht reisen kann, aus Alters- und Krankheitsgründen oder auch wegen persönlicher Verpflichtungen.
Im Grunde genommen stehen wir beim Ausgangspunkt, zurück bis in das Jahr 1961; die Situation heute ist ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass die Gesellschaften diesseits und jenseits der Elbe sich voneinander weg entwickelt haben, wie sehr, das wird sich zeigen und hoffentlich nicht zur Katastrophe führen.
Damals, vor nunmehr knapp dreißig Jahren, konnte der Ostflüchtling noch leicht integriert werden. Die jetzt offenbar mehrmals oder gar regelmäßig hin- und herfahren, werden von einem unstillbaren, einem manischen Hunger nach Waren, der Gier nach Teilnahme an den Formen westlichen Lebens, dem Konsum und der Sucht nach Erleben getrieben. Das knappe Begrüßungsgeld von rund hundert Mark hat sie nur noch gieriger gemacht. Sie verkloppen hier, was sich verkaufen lässt, tauschen wie besessen zu fast jedem, auch dem höchsten Wechselkurs ihr Geld in West-Mark, wie die Mark hier noch immer respektvoll und hartnäckig genannt wird, und das, obwohl die Generation, die den Begriff als Gegensatz zur Ostmark geprägt hat, in der Mehrheit längst ausgestorben sein dürfte. Das geht also bis weit in die Tage der beiden Währungsreformen zurück. Noch sind die Preise hier staatlich festgesetzt, aber unter der Hand inflationiert die Mark der DDR; die drüben gekauften Gegenstände, meist der Unterhaltungselektronik, werden hier wieder an den Mann gebracht, um mit dem kleinen Gewinn das Geschäft weiter anzukurbeln. Das betrifft den kleineren, den gewiefteren Teil der hiesigen mitgelaufenen Revolutionäre. Irgendwann landen die Sachen natürlich beim Endverbraucher und gehen ihrer endgültigen Bestimmung entgegen, nämlich der zu verschleißen und das möglichst rasch. Auch Gebrauchtwagen werden herübergebracht, freilich in geringerem Umfang und unter Duldung der Behörden, hüben wie drüben. Sollte es zum Umzug in das "Haus Europa" kommen, werden die hiesigen Wohnungen darin ziemlich ausgeleert sein.
Nun zeigt es sich, dass die herben Vorstellungen Walter Ulbrichts von der ökonomischen Natur des östlichen Sieges über den Westen den Kern des Problems gut beschrieben haben. Erinnern Sie sich an die Losung eines der frühen Parteitage zur Wirtschaftspolitik der SED? Da hieß es doch: "Überholen, ohne einzuholen", was dem Eingeständnis gleichkam, mit einer mehr oder minder offenen Marktwirtschaft nicht Schritt halten zu können, und der Versuch war, eine andere Lebensweise als Ersatz für den dauerhaft installierten Mangel (oder einen höheren Grad Menschlichkeit und Weisheit, als uns die Schöpfung zu bieten hat) zu empfehlen. Konsequenzen wurden allerdings daraus nie gezogen, im Gegenteil, der Druck auf die Gesellschaft im ganzen wurde noch erhöht, einmal abgesehen davon, dass die SED ihrerseits unter einem hohen Druck der Besatzungsmacht gestanden hat. Und so gesehen wurzelt das, was sich jetzt im kleinen Grenzverkehr tut, all die Überhitzung, die Maßlosigkeit und die ökonomische Unvernunft, tief in der Vergangenheit. Andererseits spürt Ihr Korrespondent auch erste, ernüchternde Sorgen. Sollte die Entwicklung ungebremst und ungesteuert im Selbstlauf weitergehen, so dürften die geringen Reserven bald aufgebraucht sein. Viele fürchten um den Verlust sozialer Besitzstände, um ihre billige, vielleicht nicht gute, aber bezahlbare Wohnung, die dem Mietwucher zum Opfer fallen könnte. Sie sorgen sich um den Arbeitsplatz, um die Sozialversicherung, um die, wenn auch jämmerlich geringe Rente, fürchten, dass ihr Erspartes abgewertet wird, sollte die Ost-Mark frei gehandelt werden. Mein Gewährsmann aus der Kneipe des Volkes interpretierte alle diese komplizierten Fragen auf seine Weise, einfach und schlicht: "Der Kurs is uff zehn jeklettert; so war det seinazeit schon mal, so um neunundvierzich rum. Manche jeben heute schon dreißich, Varückte jibt et eben imma ... wie irre ... immahin, hundert Mark Bejrüßungsjeld könn dausend Ost werden. Noch könn Se unta Umständen dadavon anderthalb Jahre lang de Miete bezahlen. Fracht sich wie lange." In der Tat, so ist es, wenige Wochen nach der Maueröffnung.
Sie fragen mich, ob und wie sich die Leute hier die Wiedervereinigung vorstellen. Zurückgefragt, kennen Sie jemand in Ihrem rheinischen Kreis, der die Wiedervereinigung noch für denkbar, erstrebenswert und möglich hält, geschweige denn eine Vorstellung von der eigentlichen Prozedur hat, der sie heute unterliegen würde, träte dieser Fall wirklich ein? Wüssten Sie einen Politiker aus Ihrer näheren Umgebung, dem nicht die Haare zu Berge stehen bei dem Gedanken, die Geschichte hätte ausgerechnet ihn dazu ausersehen, vierzig oder fünfzig Millionen auf Marktwirtschaft dressierte Bundesbürger mit zehn oder siebzehn Millionen realer Sozialisten zu vereinigen, er müsste sich denn einreden es handele sich bei den Westdeutschen um trefflich umerzogene, in Wettbewerbskategorien denkende Musterknaben der Demokratie und bei der restlichen Zahl Deutscher um so etwas wie zu kolonisierende weiße Neger, an denen vor der Vereinigung erst noch eine beinharte Firmierung vorzunehmen ist. Außerdem würde die freie Kapitalmasse natürlich in das "unterentwickelte Land" strömen, mit Gewalt Eigentum bilden, und das heißt, die Ansässigen, die keine Rücklagen besitzen, kein Kapital sammeln konnten, denen durch eine Währungsreform noch genommen würde, wären auf Generationen hinaus in der Hinterhand. Nehmen Sie den einfachen Fall, den eines sogenannten volkseigenen Werkes von, sagen wir, fünfzigtausend Beschäftigten. Ein solches Werk, das meist strukturbestimmend sein dürfte, ist unverkäuflich, wie auf der Hand liegt. Natürlich werden die einen wie die anderen Narren trotzdem versuchen, es zu verkaufen. Ihr Korrespondent, der den Wahrscheinlichkeiten bei der Neuverteilung Ostdeutschlands allein deshalb nicht vorgreift, weil ihn Ängste bei der Vorstellung schütteln, es könnten die realen Praktiken der Wirtschaftsprozesse aus vierzig Jahren westlichen Teildeutschlands in Bausch und Bogen auf die zu kolonisierenden, die eroberten Teile im Osten ohne Rücksicht auf die Verhältnisse angewendet werden. Und so wird es doch mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen.
Die DDR war kein Nationalstaat; sie hätte es nach dem Willen ihrer frühen Führer vielleicht sein oder werden sollen, aber sie wurde es eben nicht. Vor ihrer Gründung und in ihren ersten Jahren propagierten diese Führer so etwas wie das Prinzip eines deutsch-sozialistischen Nationalgedanken, wobei es keineswegs ganz ausgemacht ist, ob es sich hierbei lediglich um taktische Winkelzüge zur Verhinderung der NATO gehandelt hat. Denken Sie an die Sammlungsversuche und den östlichen Volkskongress, vielmehr die verschiedenen Volkskongresse aus jener Zeit. Auf das ganze Deutschland Anspruch zu erheben, dafür gab es etliche gute Gründe historischer, sozialer und politischer Art. War die DDR also kein Nationalstaat - und ein solcher hätte vorerst selbstredend als sozialistischer Staat von Moskaus Gnaden gedacht werden müssen -, so konnte er sich noch weniger auf ethnische oder rassische Grundlagen berufen. Mecklenburger, Preußen, Pommern und Sachsen und Thüringer bildeten zusammen mit dem Heer der Flüchtlinge aus dem deutschen Osten im Laufe der Entwicklung wohl einen bestimmten staatlichen Zusammenhang, aber sie waren nicht das deutsche Volk.
Wir müssen weit zurückgreifen, wenn wir die Ursprünge der deutschen Teilung begreifen und mit den heutigen Zuständen verbinden wollen. Mit dem Sieg der Alliierten über Deutschland beginnt das Dilemma. Einen Volksstaat auf revolutionärer Grundlage zu bilden, dessen Angehörige auf Verfassung und Gesellschaftsvertrag, wenn Sie so wollen, vereidigt werden sollten, eben das Staatsvolk, dieser Gedanke konnte nie verwirklicht werden, falls ihn überhaupt einer gedacht haben sollte, und falls die Nachkriegspolitik, soweit sie in deutschen Händen lag, nicht ein Durchwursteln, ein Anpassen und Aufarbeiten war. Die zwei deutschen Staaten stellten einen bloßen Kompromiss unter den Siegern dar, unter Zustimmung und in Gemeinschaft mit Stalinisten und stalinistisch eingestimmten deutschen und jüdischen Emigranten plus den Glaubensdemokraten, die im parlamentarisch regierten Mehrparteienstaat das Non plus ultra der Regierungskunst und im Liberalismus die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit erblickten. Zwischen diesen Extremen und deren Schattierungen bewegte sich die Volksmasse, ohne eine Ahnung zu haben, was mit ihr demnächst geschehen würde, naturgemäß an seinem nächsten Schicksal interessiert und dem Grundsatz lebend: Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!
Der wirkliche Volksstaat sollte ein Traum bleiben, ohne ein zustimmendes Volk war er eben nicht zu machen. Daher mussten die Ostdeutschen zu dauernder Demonstration ihres Staatsbewusstseins