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so zog der Wagen vor ihr davon. Dann konnte sie sehen, dass er auf genau den selben Parkplatz fuhr, den sie auch befahren wollte. Aber da war eine Schranke. Und genau die schloss sich vor ihrer Kühlerhaube und hinderte sie an ihrer pünktlichen Ankunft.

      Der Fahrer des Sportwagens stellte seinen Wagen einfach ab. Er parkte nicht ein oder machte sich Gedanken über Parkplatznot und Stellplatzmangel. Er bremste neben einer großen Limousine, und das nannte er einparken. Er stieg aus und wollte in das Gebäude gehen, aber er wurde aufgehalten von Peter Schlüter. Einen Meter und achtzig groß, schlank, ein hageres Gesicht und ziemlich helles Haar. Nicht nur grau, fast weiss.

      „Den Schlüssel!“, herrschte Peter den Sportwagenfahrer an.

      Claudia war inzwischen aus ihrem Auto gestiegen und hörte das mit. Sie suchte an dem Kasten, in dem der Schlagbaum endete, nach einer Möglichkeit, um ebenfalls auf den Parkplatz gelangen zu können. Doch da war nichts. Sie sah zu den beiden. Der braungebrannte Sportwagenfahrer gab Peter die Zündschlüssel und ging die Treppen zur Bank hinauf. Claudia suchte noch immer nach einem Münzeinwurfschlitz oder einem Parkscheinauswurfschlitz, während Peter Schlüter in den Sportwagen einstieg und ihn sorgfältig neben seine eigene schwere Limousine zirkelte. Dann ließ Peter Schlüter die Seitenscheibe herab und erkannte, dass er Maßarbeit geleistet hatte. Zentimetergenau hatte er den Sportwagen an die Markierungslinien gestellt. Claudia wunderte sich: was für ein verrückter Chef... Sollte dieser Chef namens Peter Schlüter einen Junior-Schlüter haben, dann musste er es gewesen sein. Der braun gebrannte Sportwagenfahrer, der ihr vor wenigen Minuten zugelächelt hatte.

      Claudias Zweifel, ihre Bedenken, ihre Vergangenheit und ihre familiär grauen Schleier auf der Seele teilten sich. So wie sich einst das Meer für Israel auf der Flucht aus Ägypten in zwei Hälften teilte und einen neuen Weg freigab. Steine fielen ihr nicht vom Herzen, es gab keine Steine mehr. Plötzlich gab es in ihrem Herzen nur noch Schäfchenwolken, die ihr den Himmel versprachen. Sie hatte keine Gedanken mehr, sie hatte nur noch ein Gefühl, und es fühlte sich gut an. Zwar war die Schranke vor ihrem Auto noch zu, der Motor ihres Wagens lief noch, und niemand schien sich um sie zu kümmern. Aber das sollte sich schnell ändern. Peter Schlüter hatte sich inzwischen aus dem Sportwagen geschält und kam auf sie zu.

      „Frau Petersen!“, rief Peter Schlüter ihr zu.

      Er kam näher und reichte ihr zur Begrüßung die Hand.

      „Hallo.“

      „Entschuldigen Sie bitte, ich kann Sie nicht reinlassen.“

      Claudia durchfuhr ein Schreck, sie dachte schon an etwas anderes.

      „Mein Sohn hat mir nur seine Wagenschlüssel gegeben. Warten Sie, ich hole die Fernbedienung für die Schranke.“

      Claudia setzte sich in ihr Auto und schaltete den Motor aus. Sie sah, wie Peter Schlüter zur Treppe eilte und noch versuchte, seinen Sohn einzuholen. Aber der war längst im Gebäude verschwunden.

      Warten. Claudia stand da wie bestellt und nicht abgeholt. Ihre Gedankenmaschine kam wieder in Gang. Sie starrte auf die „Perle an der Elbe“, ein Glashaus, teuer und nobel. Das Zweite Deutsche Fernsehen funktionierte dieses Haus oft in die >Hafenklinik< an der Hafenkante um. Ein Sternekoch, der auf einem Privatsender eine coaching-show leitete, hatte ein Haus weiter sein Restaurant. Claudia hatte es in den USA oft im Fernsehen gesehen: Diese Adresse war eine der ersten Adressen der Stadt. Und Horst, Claudias Vater, hatte es sich mit diesen „Söhnen der Stadt“ gründlich verdorben. Hier Glanz und Gloria, und dort ein fahnenflüchtiger Landmaschinenhändler, der sich im Alkohol erging.

      Claudia musste nicht lange warten. Manuel Schlüter kam selber die Treppen herunter geeilt. Er fuchtelte mit einem elektronischen Schlüssel für die Schranke. Sie hob sich, sie senkte sich. Er fand es witzig, wie die Schranke seinem Daumendruck auf dem Sender folgte. Er verlangsamte seinen Schritt und hielt inne.

      „Frau Petersen?“, fragte er und war nur noch wenige Meter von ihr entfernt.

      „Herr Schlüter?“, entgegnete sie.

      Sie sahen sich an. Es waren Blicke, die tiefer nicht hätten sein können.

      Claudias Puls schnellte hoch. Der „Sunny-Boy“ hatte sie angesprochen. Es musste für sie wie an einem Samstag Abend gewesen sein, als wenn man im Sekundentakt seine Lottozahlen ihm Fernsehen nach und nach fallen sah. Sein Gang, seine Frisur, seine Wangengrübchen, seine Krawatte. Und das weiße Hemd schaute vier Zentimeter unter seinen Sakkoärmeln hervor. Die Manschettenknöpfe waren garantiert aus echtem Gold. Und weiße Zähne hatte er. Konnte er gut küssen, konnte er tanzen? Claudia durchfuhr es heiß und kalt. Wen interessierte jetzt noch die Trunksucht des Vaters?

      Johann Wolfgang von Goethe, der bewusste Geheimrat, formulierte in seinem „Heinrich Faust“ auf dem Osterspaziergang: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein“. Claudia erinnerte sich in ihrer Euphorie an diesen Ausspruch und auch an ihre Chance. Wie gut, dass ich diesen Job bekommen habe, dachte sie. Hier geht vieles, hier ist alles möglich. Hamburg, meine Heimat, das Tor zur Welt, endlich daheim.

      Sie vergaß ihr USA-Desaster und reichte Manuel Schlüter zur Begrüßung die Hand. Sie vergaß ihren Vater und ihren Job, sie war hin und weg. Manuel Schlüter war ihr Hauptgewinn, als Kollege zumindest. So empfand sie es in diesem Moment.

      „Ich mache Ihnen die Schranke auf“, sagte er dann.

      Claudia konnte sich kaum von seinem Lächeln lösen. Er drückte auf die Taste seiner Fernbedienung, und die Schranke öffnete sich.

      „Was ist?“ fragte er.

      Sie stieg in ihren Wagen und fuhr unter der offenen Schranke hindurch. Manuel sah ihr zu, und sein Herz schlug schneller. Ob sie verheiratet war? Solche jungen Frauen waren normalerweise vergeben. Zumindest hatten sie einen großen Freundeskreis. Einen zum Tapezieren, einen zum Quatschen, einen zum Ausgehen, einen für's Bett und so weiter. Manuel hatte so manche Frau kennen gelernt. Die meisten waren schon verheiratet, und wenn nicht, dann hatte das meistens seine Gründe. Schlechte Gründe. Beziehungsfähige Frauen waren vergeben, beziehungsunfähige waren alleine. Manuel schätzte sie in die zweite Kategorie ein. Leichte Beute, weil sie diesen Blick hatte. Er war besonders, dieser Blick. Ein Flirtblick mit dem Unterton der Unbemanntheit. Unausgeglichen und mit einem Extra-Bonus-Moment. Sie musste es nötig haben, anderen Männern zu gefallen. Nie wieder eine von dieser Sorte, dachte sich Manuel. Und weil er sich da so sicher war, dass sich da nichts entwickeln durfte, konnte er frei und ohne Hintergedanken reagieren. Die letzte Beziehung war zu anstrengend. Sie machte die grundsätzlichen Fehler. In vielen Zeitschriften und auch sonst kursierten Top-Ten-Listen. Was denkst du gerade? Bin ich zu dick? und so weiter. Diese zwei Punkte fielen ihm ein. Manuels letzte Freundin war eine Intellektuelle, eine Frau mit Grips. Gut, man müsste denken, dass das etwas Gutes sei, aber warum in Gottes Namen musste sie ständig jeden Gedanken äußern? fragte sich Manuel. Diese Frage hatte er ihr auch einmal gestellt, was er besser nicht getan hätte. Er hatte gesagt, was er dachte. Die Frage nach ihrer Figur hatte er nicht beantwortet. Über eine Antwort, die damals richtig gewesen wäre, dachte er noch oft nach. Ihm fiel aber bis heute nichts Befriedigendes ein. Claudia Petersen würde diese gewichtige Frage nicht stellen, sie war schlank und groß. Geradezu ideal, sportlich und knackig. Dass die noch keiner vor eine Fotokamera gezerrt hatte? Und diese Haare, kraftvoll und dynamisch. Alles passte zusammen.

      Sie stellte ihren Wagen neben seinem ab. Dann stieg sie aus, und zusammen gingen sie in die Höhle des Löwen namens Schlüter & Schlüter Privatbank seit 1889. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Sie dachten und grübelten, sie hofften und phantasierten. Selbst im Aufzug sahen sie sich nicht an. Sporadische Blicke folgten. Es war, als wäre nichts gewesen, bis es dann zur Sache ging: die Landmaschinenfirma des Herrn Horst Wohlert. Horst Wohlert, der Landmaschinenhändler, der bald nach dem Tod seiner Frau verschwand, und die Privatbank, die von der Landmaschinenfirma seit Monaten kein Geld mehr gesehen hat. Zwei Welten von Gläubigern und Schuldnern. Plus und Minus, die ohne einander nichts waren. Hund und Katz, Katz und Maus, Vater und Sohn.

      Manuel und Claudia kamen den Flur entlang. Sie wollten zu Peter. Der wartete schon auf die beiden, und seine Laune war auf dem Tiefpunkt.

      „Mein

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