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       deswegen suchen wir alle nur blinzelnd,

       so daran vorbei zu kommen,

       in Furcht sogar uns zu verbrennen.“

       Johann Wolfgang von Goethe

      Der Bürgerkonvent, eine 2003 gestartete Reforminitiative engagierter Bürger, war nicht der Meinung, dass bei Wahlen die Regel gilt „Weh dem, der lügt“. In seinem Manifest aus dem Jahr 2003 hieß es: „Wer die buntesten Träume verspricht, verbessert seine Wahlchancen ...Wer die Wahrheit verbirgt, spekuliert nicht ohne Grund auf Vorteile im politischen Wettbewerb.“

      Sollte es besser heißen: „Weh dem, der nicht lügt?“ Die Autoren des Manifestes schienen davon überzeugt zu sein, konstatierten sie doch: „Nur wenige Politiker erlangten die Gunst der Wähler, wenn sie die Wahrheit sagten. Weit länger ist die Liste derer, die hierfür mit dem Verlust ihres Mandats bestraft wurden.“ Der frühere Bundestagsabgeordnete Oswald Metzger ist dafür ein Beispiel. Die Grünen verweigerten dem durch finanzpolitische Wahrheiten unbequem gewordenen Haushaltsfachmann 2002 und 2005 einen aussichtsreichen Platz auf der baden-württembergischen Landesliste.

      Die meisten Wahlkampf- und Kommunikationsprofis halten eine Strategie dosierter Wahrheiten für Erfolg versprechender als eine Strategie der Ehrlichkeit.

      Auch einige Politiker machen beim Umgang mit der Wahrheit feine Unterschiede. Konrad Adenauer erklärte sie im Dezember 1959 in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion so: „Wissen Sie, meine lieben Parteifreunde, mein Freund Pferdmenges hat drei verschiedene Bezeichnungen der Wahrheit. Er sagt: Das ist die Wahrheit. Dem gegenüber steht der Ausdruck, das ist die reine Wahrheit. Und wenn es ganz hoch geht, sagt er, das ist die lautere Wahrheit. Ich verspreche Ihnen, die reine Wahrheit zu sagen. Ich entnehme ihren Mienen, dass Sie damit ganz zufrieden sind.“

      Absolute Wahrhaftigkeit in der Politik, hatte der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geissler dem Stern8 gesagt, wäre eine „fundamentalistische Überforderung“ Auch Geissler warb für eine Taktik der dosierten Ehrlichkeit. Was man keinesfalls machen könne, sei etwa zu versprechen, man werde die Steuern nicht erhöhen und tue es nachher doch. „Aber man muss vorher nicht unbedingt sagen: Ich will die Steuern erhöhen“. Taktisches Verschweigen einer unangenehmen Wahrheit sei noch kein Verstoß gegen die Ehrlichkeit, ebenso wenig wie das markige Verkünden einer Wunschvorstellung. Machiavelli hätte an dieser Theorie der dosierten Ehrlichkeit gewiss seine Freude gehabt.

      Aber nicht nur Politstrategen, auch Journalisten scheinen der Strategie der dosierten Wahrheit anzuhängen. Der in Die Zeit für Literatur verantwortliche Ulrich Greiner warf im Jahr 2000 in einem Essay die Frage auf, wie wohl eine Republik beschaffen wäre, die vom „Tugendterror der Wahrhaftigkeit“ beherrscht würde. Er fragte sogar, ob nicht Macht und Lüge unzertrennlich seien und ob die Belogenen nicht selbst Anteil an der Lüge hätten, weil sie den Politikern die unverhüllte Wahrheit verübelten und sie auch im privaten Leben scheuten.

      Ebenso argumentierte der Redakteur Alexander Cammann9,.Er schieb, ein moralisierender Blick auf die Politik sei zumeist ein Produkt der Heuchelei „Politik und Lüge sind zwei Seiten einer Medaille, so möchte man meinen − und so beklagt sich der Steuerhinterzieher jeden Abend an seinem Stammtisch.“

      Der Manager des Unionswahlkampfes von 2002, Michael Spreng, antwortete auf die Frage des Nachrichtenmagazins Spiegel10, warum die Menschen im Wahlkampf von den Parteien höchstens die halbe Wahrheit hörten: „Die Leute wollen keine Reformen, weil sie Angst vor den Folgen für ihr eigenes Leben haben, aber auch keinen Stillstand. In diesem Spannungsfeld finden Wahlkämpfe statt. Zum Betrug gehören immer auch diejenigen, die von der Regierung betrogen werden wollen“.

      Aber welches ist die Wahrheit, die so grausam ist, dass sie der Bürger nur in kleinen Dosen verträgt? Ist es das langfristig Notwendige, für das es so schwer ist, kurzfristig Mehrheiten zu finden?

      In dem Herunterspielen von Schwierigkeiten, absehbaren Engpässen, Konflikten und Haushaltsdefiziten sehen einige Politologen eine sogar manchmal notwendige Voraussetzung für erfolgreiche politische Initiativen. „Wenn alle Beteiligten tatsächlich immer alles wüssten, was sie wissen könnten, dann hätte diese komplette Kenntnis einen vielleicht so niederdrückenden Entmutigungseffekt, dass politisches Handeln vollends in Lethargie und Fatalismus unterginge. argumentierte Claus Offe in einem Essay über „Die Ehrlichkeit politischer Kommunikation“11

      Ergibt sich die „dosierte Wahrheit“ also aus der Schwierigkeit der „Wahrheitsfindung“? Gibt es neben den politischen Durchsetzungsschwierigkeiten schon zuvor Erkenntnisschwierigkeiten, sich heillos widersprechende Gutachter-, Mehrheits- und Minderheitsmeinungen in Sachverständigenräten und Beiräten?

      Es gibt sie wohl nicht, die eine objektive unumstrittene Wahrheit. Und wer behauptet, sie zu kennen, ist nicht weit entfernt von totalitären Versuchungen. Aber es gibt wissenschaftlich gut begründete und durch Enquetekommissionen erhärtete Prognosen wie zum Beispiel über die Herausforderungen, die sich aus der Bevölkerungsentwicklung ergeben. Diese Herausforderungen sind nahezu allen Entscheidern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bekannt und kaum umstritten.

      Andere erklären das Votum für eine Dosierung der Wahrheiten aus der großen Zahl politisch Desinteressierter und dem geringen politischen und wirtschaftlichen Grundwissen großer Teile der Bevölkerung.

      Überwältigend ist das politische Interesse der Deutschen in der Tat nicht. Nur jeder zweite interessiert sich für Politik, die andere Hälfte interessiert Politik nicht besonders oder gar nicht12. „Sonntag entscheidet das Bauchgefühl“ prophezeite Emnid-Geschäftsführer Klaus-Peter-Schöppner in einem Beitrag, der kurz vor der Bundestagswahl 2005 in mehreren Zeitungen erschien: Er verwies darauf, dass sich das politische Interesse halbiert habe. Gerade noch 25 Prozent der Befragten statt 50 Prozent wie noch 1990 hielten sich für politisch interessiert. Die Wähler durchschauten nicht mehr einfachste Aussagen und Zusammenhänge. Nicht mehr die zentralen Zukunftsthemen, vielmehr geschicktes Agenda-Setting, also der richtige Satz zur richtigen Zeit, dominiere die Wahlkampfstimmung. Die mangelnde politische Urteilsfähigkeit vieler Deutscher − die Zahl von 25 Prozent politisch Interessierter besage, dass 75 Prozent Uninteressierte die Wahl entscheiden − führe inzwischen zu völlig veränderten Mechanismen der Wahlentscheidung.

      Die Dosierung der Wahrheit führt jedoch in einen Teufelskreis. Am Ende erzeugt sie noch mehr politisches Desinteresse, weil die Politik die heißen Themen meidet und dem Bürger damit die Möglichkeit nimmt, über politische Gestaltungsalternativen zu urteilen, und weil diejenigen, die noch Interesse aufbringen, sich nicht für voll genommen fühlen.

      Doch offensichtlich scheuen viele Politiker das Risiko, den Wähler mit − bitter notwendigen − Veränderungen vertraut zu machen. Sie glauben, die „Nation der Besitzstandswahrer“ gut zu kennen, die jeden bestraft, der Umgestaltungen oder gar schmerzhafte Einschnitte vorschlägt. Die demoskopischen Befunde wecken in der Tat Zweifel am Verständnis vieler Bürger dafür, die eigenen Ansprüche zurückschrauben zu müssen. So sei es, im Rückblick auf die Bundestagswahl 1998, von Gerhard Schröder geschickt gewesen, einer Bevölkerung, die sich im Grunde gar nicht bewegen wolle, nichts Konkretes über anstehende Veränderungen zu sagen − außer der Tatsache, dass er die verschriensten Reformen der amtierenden Regierung auf jeden Fall zurücknehmen wolle, meinte Edgar Piel vom Institut für Demoskopie Allensbach. Die Daten mehrerer Umfrageinstitute hatten gezeigt, wie stark die von der Regierung Kohl vorgenommene Reduzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bemäkelt wurde. Bei der im September 1996 durchgeführten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen e.V. hatten 64 Prozent der Befragten die Kürzung der gesetzlichen Lohnfortzahlung abgelehnt.

      Auch die Senkung des Rentenniveaus stieß auf negative Resonanz. Allensbach stellte fest, dass sich ab Anfang 1997 die Stärke der Regierungsparteien rapide verminderte. Es sei ein auf diesen Umstand gerichteter strategischer Zug der SPD gewesen, meinte das Institut, im Wahlkampf den Menschen zu versprechen, genau diese Reformen der Regierung Kohl − die Reduzierung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Reduzierung des

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