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Moment nicht vorstellen. Je näher dieser Tag rückte, desto hoffnungsfroher wurde Harry. Dass der 31. Juli auf einen Dienstag fiel, erschien ihm schon fast mehr als eine Offenbarung, hatte er doch vor vielen Jahren einmal gelesen One day at a time includes Wednesdays und war seitdem überzeugt, an einem Mittwoch müsste es definitiv gelingen.

      Der Wecker zeigte sechs Uhr. Er blieb liegen und gab sich seinen Gedanken hin, die ihn während der nächsten dreiviertel Stunden zuerst ins Berner Oberland führten. Im Internet war er auf das Bild einer Familie gestossen, die an einem 1. August auf der Terrasse eines Bergrestaurants bei dreissig Grad im Schatten Fondue und Raclette assen. Darauf folgten Bilder von sich bedeutend gebenden Heinis und Heidis an irgendeiner komischen Preisverleihung, die abgelöst wurden von einer Fotografie, die einen ehemaligen Schweizer Bundesrat zeigte, der sich bei einem Hochwasser nicht zu blöd war, sich für die Fotografen in Regenmantel und Gummistiefel in einen Fluss zu stellen.

      Nach dem morgendlichen Rasieren platzierte er jeweils Brotkrumen auf seinen Balkon, klatschte in die Hände, schloss die Balkontür, zog den Vorhang und beobachte wie die Spatzen angeflogen kamen. Bestimmt wussten sie, wer er war. Namen, Vornamen, Werdegang und Hobbys. Wissenschaftler würden dies bestimmt bezweifeln, doch was wussten die schon. Harry konnte sich vieles vorstellen, was sogar ihm selber unwahrscheinlich schien, doch was hiess schon unwahrscheinlich. Nur schon, dass er es sich vorstellen konnte, suggerierte doch bereits eine (zumindest gedankliche) Realität. Dass die Wirklichkeit nur im Kopf existierte, glaubte er hingegen auch nicht. Wer solches glaubte, war ein Trottel, dem man heftiges Zahnweh wünschte. Alternativ könnte man ihn natürlich auch zu einem Sprung von einem Wolkenkratzer animieren – da würde er ja dann sehen, ob die Schwerkraft nur im Kopf existierte.

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      „Jane Goodall mit Flint, einem elf Monate alten Schimpansen, der zu einer Gruppe von Menschenaffen gehörte, die die Primatologin sechs Jahrzehnte lang ...“ begann die Bild-Legende, als vor seinem innerem Auge unvermittelt Bilder vom milden Sonnenlicht an einem Spätnachmittag im Zentrum von Cuernavaca auftauchten. Er war damals frisch verheiratet gewesen und Yona, seine Frau, die immer von Mexiko geträumt hatte und es mochte, wenn ihr hinterher gepfiffen wurde, fand es überhaupt nicht lustig, dass sie keine Strasse überqueren konnte, ohne angemacht zu werden. Eine englische Journalistin, die in Libyen Ähnliches erlebt hatte, schilderte ihre Erfahrungen so: I am frequently referred to as 'gazelle' and have been followed on the street for hours by boys as young as 12. Even when swimming in the sea, we were chased by a crowd of horny windsurfers.

      Jane Goodall, ihre Affen, ein Spätnachmittag in Cuernavaca und eine Engländerin in Libyen! Wo war da der Zusammenhang? So war das Leben, das seine Gedanken ihm aufdrängte.

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      Roberto hatte seit Harrys letzten Besuch abgenommen. Sechs Kilo in drei Wochen. Seinem Selbstbewusstsein hatte der Gewichtsverlust offenbar auch gut getan. Als er tags zuvor um sechs seinen Coiffeur Laden zumachen wollte, sei eine Frau vorgefahren und habe gesagt, He Sie, das geht nicht, an der Türe steht 18 Uhr 30. 'Beschweren Sie sich doch bei meinem Chef', sagte Roberto, der Chef, 'die Nummer steht an der Türe'. Zuhause angekommen klingelte das Telefon. Es war besagte Frau, die sich beschwerte. Ob der Mann im Laden ein kleiner, lauter, etwas übergewichtiger älterer Mann gewesen sei, beschrieb sich Roberto selber. Ja, genau, der sei es gewesen, erwiderte die Frau. Unglaublich, polterte er, 'dem werde ich morgen die Leviten lesen. Entschuldigen Sie bitte vielmals'. Und die Frau war sich's zufrieden.

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      Während vieler Jahre reagierte Harry auf Psychologen allergisch. Was wussten die schon, was er nicht wusste? Glaubten die wirklich, die menschliche Seele liesse sich an einer Uni studieren? Seine Abneigung bekam auch Linda, eine Psychologin aus Melbourne, in einer Bar am Karon Beach auf Phuket zu spüren, die lange und erfolglos versuchte, seine Tiraden (er hatte schon ziemlich gebechert) auf alle möglichen Arten zu stoppen, bis es ihr schliesslich doch noch gelang und zwar mit dem schlagenden Argument: I'm only working part-time.

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      Sie hätten kein Beziehungsproblem, hatte Harry vor Jahren seine damalige Freundin belehrt, sondern sie habe ein Lebensproblem, akzeptiere ihre Gefühle nicht, wisse nicht, was mit sich anfangen. Es dauerte unfassbar lange, bis er merkte, dass er damit vor allem (auch) sich selber beschrieben hatte.

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      So. Genug. Am Sonntag würde er sein Leben ändern. Definitiv und radikal. Keine Vertröstungen und Entschuldigungen mehr. Tun, was zu tun war. Mit Anstand und Würde. Wie ein Krieger. Der schlief nicht zu viel und nicht zu wenig, ass nicht zu viel und nicht zu wenig, war immerzu voll präsent und für alles gewappnet. Doch natürlich kam es anders, ganz anders – sein neues Leben begann an einem Samstag, nicht an irgendeinem, sondern an dem Samstag, der gemäss seinem Plan noch ganz wie gewohnt verlaufen sollte, also: Im Internet surfen, in Büchern lesen, einen Spaziergang und Einkäufe machen und am Abend mit diversen Süssigkeiten in Reichweite einen Film im Fernsehen anschauen, von dem die Kritiker behaupteten, er sei gut, ihn jedoch regelmässig veranlasste, den Kanal zu wechseln und sich mit dem üblichen Politschmarren auf BBC und CNN zu langweilen.

      Zwei Wochen und zwei Tage vor diesem Samstag wachte er genau zwanzig Minuten vor den beiden auf Alarm gestellten Weckern auf. Im Rückblick schien ihm dies ein Omen. So recht eigentlich schien ihm fast alles ein Omen, dachte es so in ihm – er verwarf den Gedanken sogleich. Kurz darauf sass er mit einer Tasse Kaffee vor dem Computer, überflog die Meldungen des Tages und dachte: So kann es auf keinen Fall weitergehen. Jeden Morgen die gleiche Routine. Aufstehen, Duschen, Zähneputzen, Rasieren, Kaffee, Online Nachrichten, die ihn schon lange langweilten und die er sich gleichwohl antat. Gewohnheiten sind eben schwer zu ändern. Auch natürlich, weil ja nicht alle schlecht waren. Duschen, Zähneputzen und Rasieren würde er jedenfalls beibehalten, wobei, was das Rasieren anlangte, dieses ja nicht wirklich täglich nötig war. Und den Kaffee, den würde er auch nicht aufgeben.

      Harry litt unter seinem Medienkonsum. Vor allem Online Zeitungen und Magazine, dann aber auch Fernsehen und ganz besonders Bücher hatten ihn im Griff. Er konnte ganz einfach nicht genug davon bekommen. In jungen Jahren war es der Alkohol gewesen. Und Rockmusik. Und fremde Länder. Bücher waren eigentlich harmlos, sagte er sich. Und glaubte es auch, obwohl ihn seine Rechtfertigungen (ich lerne viel, erweitere meinen Horizont, gewinne nützliche Einsichten, bleibe geistig rege und unterhalte mich häufig gut) auch immer wieder zweifeln liessen, denn er erinnerte sich nur an wenig von seiner Lektüre (wo er ein Buch gelesen hatte, war ihm präsenter als was drin stand).

      Lange hatten ihn Fernseh-Gesprächsrunden über Bücher fasziniert. Oft konnte er gar nicht glauben, was er da sah und hörte – Lehrer und Lehrerinnen beim Zensuren verteilen. Eitle Besserwisser, die Inhalte zusammenfassen konnten, differenziert und gescheit zu analysieren wussten, Kontext herstellten – und meilenweit entfernt von seinen eigenen Interessen argumentierten, denn für Harry waren weder der Aufbau der Geschichte noch der geschichtliche Zusammenhang relevant. Auch was der Autor oder die Autorin gemeint haben könnte, beschäftigte ihn nicht sonderlich. Für ihn zählte allein, ob er ins Buch hineingezogen wurde und ob es darin Sätze gab, die er unterstreichen wollte. Seine jugendliche Manie, manchmal ganze Seiten zu unterstreichen (ihm schien damals alles wichtig), hatte im Laufe der Jahre etwas nachgelassen.

      Ihm war klar, dass seine Buchmanie mit den Jahren schlimmer geworden war – ein Blick auf die Türme ungelesener Bücher, die den weitaus grössten Raum seiner kleinen Wohnung einnahm, genügte, um ihm vor Augen zu führen, dass er ein Problem hatte. Und dieses, so sagte er sich nicht zum ersten Mal, würde er an diesem sonnigen Morgen angehen. Nur eben: Der wunderbare Herbsttag lud nicht nur zu einem Spaziergang ein, er forderte ihn so recht eigentlich dazu auf. Er würde sich schuldig fühlen, wenn er nicht raus ging (Bin ich froh, dass es morgen regnet, dann muss ich nicht aus dem Haus, hatte ihm ein 80Jähriger bei einer Beerdigung gesagt) und so beschloss er, dies später am Tag zu tun, doch zuerst galt es, einen oder zwei Büchertürme lichter werden zu lassen – am Ende konnte er sich dazu überwinden, sechs (von den geplanten fünfzig) Büchern auszusortieren.

      Beim Hin und Her, ob er dieses oder jenes weggeben könnte, stiess er auch auf einen Roman von Andrew Vachss, dessen Bücher

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