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Fingern auf mich, steckten die Köpfe zusammen, um kichernd irgendwelche wunderlichen Details an meiner Erscheinung zu diskutieren. Einige sprachen mich auch an, wollten meinen Rucksack anfassen, meine Kamera bedienen oder einige Worte in mein Skizzenbuch schreiben. Wenn ich meinerseits mit den Fingern auf sie zeigte oder gar meine Linse auf sie richtete, machte das gar nichts. Der Inder ist ein epiphanisches Wesen, so anschauungsgesättigt wie seine Götter tritt auch er in Erscheinung, und ich gewann den Eindruck, als gäbe es für einen wildfremden Inder kaum eine angenehmere Schmeichelei als ihn möglichst oft zu fotografieren.

      Ich blickte auf die Uhr, es war Nachmittag geworden, und mein Hunger nahm zu. Aber was sollte ich essen? Die Bürgersteige im Umkreis des Chandni Chowk waren voller Garküchen, überall wurde in großen Pfannen gebrutzelt, doch die Köche hinter ihren großen Pfannen flößten mir kein Vertrauen ein. Mit ihren Fingern griffen sie beherzt ins Gemüse, manschten diese Soße in jenen Brei, schüttelten und rüttelten den Glibber bis zur Konsistenz, um die Paste dann auf hauchdünne Brotscheiben zu schmieren. Theoretisch war mir bekannt und heute weiß ich es ganz sicher, dass die indische Küche zu den leckersten und auch den gesündesten der Welt gehört, damals aber schockten mich die fremdartigen Gerüche und Speisen derart, dass ich mich nicht entschließen konnte, ein Gericht an einer Garküche zu ordern. Eine lecker aussehende Tomatensuppe roch wie eine Teufelsbrühe, und was in die Brotgerichte eingewickelt wurde, kam mir verdächtig vor. Thali, ein Reisgericht mit sehr vielen scharf gewürzten Gemüsesorten auf einem Feigenblatt serviert, kannte ich damals ebenso wenig wie Masala Dosa, das wunderbar schmackhafte Gemüsepotpourri, das auf papierdünnen Brotscheiben gereicht wird. Als Sprössling des Spaghettizeitalters überlegte ich, eines der undefinierbaren Nudelgerichte mit Gemüse und Fleischeinlage zu essen, doch der Koch, der über seiner Pfanne wie der Leibhaftige wütete, schreckte mich ab. Am Ende erwarb ich einige Chapatis - kross gebratenes, meist sehr dünnes, salziges Brot - knabberte vorsichtig an den Scheiben herum, um sie alsdann mit einem heißen Tschai herunter zu spülen. Der zweite Tschai dieses Tages schmeckte mir noch besser als der erste, er wärmte mich nicht nur, er weckte meine Lebensgeister, so dass ich in einem Anfall von Tollkühnheit beschloss, Delhi auf der Stelle zu verlassen. Ich lief zurück zu Ringos Guesthouse, grapschte mein Gepäck aus meinem Kerker, fand eine Rikscha und fuhr schnurstracks zum Bahnhof.

      Die erste Begegnung mit einem indischen Bahnhof werde ich niemals vergessen. So viele Menschen auf einmal hatte ich noch nie an einem Ort gesehen, und alle Menschen, die durch die Hallen liefen, hatten es unglaublich eilig. Hatte ich denn nicht bei Hermann Hesse von der unerschütterlichen Ruhe des indischen Gemüts gelesen, und sollte das denn alles nur gelogen gewesen sein? Von endlosen Schlangen vor den Fahrkartenschaltern hatte ich auch nichts bei Hesse gelesen und auch nichts davon, dass jedermann sich von links und rechts so lange in die wartende Reihe nach vorne drängte, bis man selbst die Geduld verlor und das Gleiche tat. Als ich es endlich geschafft hatte, zum Fahrkartenschalter vorzudringen, verlangte ich ein Ticket nach Agra, Khajuraho, Varanasi, wohin auch immer, es war mir egal, wenn ich nur endlich aus dieser kalten Dreizehn-Millionenstadt herauskäme. Der Beamte hinter dem Tresen nahm meinen Wunsch als das Selbstverständlichste von der Welt zur Kenntnis, schüttelte aber den Kopf und teilte mir mit, dass heute Weihnachten sei, und auch wenn 98 % der Inder mit dem Christentum nichts am Hut hätten, sei Weihnachten in Indien selbstverständlich frei, so dass alle Zugtickets schon seit Tagen ausverkauft seien. Wenn Sie aus Delhi wegwollen, mein Herr, müssen Sie sich schon mit einem Bus begnügen.

      So lernte ich eine gute dreiviertel Stunde später auch noch meinen ersten indischen Busbahnhof kennen, den Kaschmir Interstate Bus Terminal, an dem ich später noch so oft ankommen sollte, dass mich am Ende sogar die Bettler grüßten. Als ich ihn jedoch zum ersten Mal betrat, erschien er mir wie ein Notstandsgebiet des massenhaften Personentransportes, eine Welt fremder als der Mars, wo auf Dutzenden unüberschaubarer Rampen ebenso unübersehbare Gepäckberge lagerten, neben denen oder auf denen Menschen schliefen, während rappelvolle Busse einfuhren, in die zu meiner Überraschung ganze Menschenschwärme hineinströmten, als verfüge jeder dieser Busse in seinem Innern über die rätselhafte Fähigkeit, die Konsistenz der Passagiere so zu verändern, dass immer noch ein weiterer Passagier in diese rollenden Sardinenbüchsen hineingepresst werden konnte.

      Und da war er endlich, nach einigem Suchen unzweifelhaft identifiziert: mein erster indischer Langstreckenbus, ein rustikaler Schlitten, der hier auf dem Bahnhof sogar als Super Deluxe Coach rangierte und - was noch wichtiger war - der noch in der gleichen Nacht nach Süden fahren sollte. Natürlich waren schon alle Plätze besetzt, aber das war mir nun auch egal, ich machte rücksichtslos von meinen Dollarvorräten Gebrauch, kaufte dem Schaffner seinen Zusatzplatz in der Fahrerkabine ab, bestieg das Gefährt als Letzter, fand meinen Sitz neben den drei plärrenden Söhnen des Busfahrers und verließ die Stadt zur Zeit des Sonnenunterganges in Richtung Süden. Als es gänzlich dunkel geworden war und unser Bus wie ein stählernes Geschoss über die indischen Straßen raste, fiel mein Blick auf meine Armbanduhr. Es war schon nach zwanzig Uhr. Siebentausend Kilometer weiter westlich schmorten nun die Weihnachtsenten in den Öfen, und die Zeit der Bescherung brach an.

       III ERSTER TEIL - DIE GANGESEBENE

      

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       IV Hunderte warten im Hotel auf ihre Todesstunde

      

       Leben und Sterben in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges

      

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      Es gibt Hotels für Einzelreisende und Frischverliebte, es gibt Stundenhotels, Sporthotels, Spukhotels, sogar ein Hotel für Hunde gibt es - ein Hotel für Sterbende gibt es nur in Indien. Erst wollte ich es nicht glauben, bis ich es mit meinen eigenen Augen sah: In großen Schlafsälen lagen Hunderte Menschen auf ihren Pritschen und warteten auf den Tod. Sie müssen sich beeilen, denn wer länger als zwei Wochen in diesem uralten Gemäuer am Ganges logiert, ohne gestorben zu sein, muss wieder ausziehen. Doch das widerfährt nur den Wenigsten. Die meisten liegen mit dem Timing ihres Todes ganz richtig, sie wachen innerhalb ihres makabren Zeitfensters eines Morgens einfach nicht mehr auf, und ihr Leben hat sich an den Ufern des Ganges erfüllt.

      Die Stadt Varanasi, deren Name sich von den beiden Flüssen Varana und Asi herleitet und den die Briten zu Benares verballhornten, ist Indiens heiligste Stadt. Schon seitdem die indoarischen Einwanderer im ersten Jahrtausend vor der Zeitrechnung die Gangesebene besetzt hatten, wurde die Stadt in den altindischen Texten als ein besonderer Ort der Gnade und Vergebung hervorgehoben. Hier schrieb der große Guru Shankara zu Beginn des neunten Jahrhunderts seine Kommentare zu den Upanischaden und der Bhagavad-Gita, und im Zeichen Shivas begann von der Universität von Varanasi aus die Zurückdrängung des bis dahin in Indien dominierenden Buddhismus. Fast achthundert Jahre später, in der Epoche der mohammedanischen Mogulkaiser, wurde Varanasi mit Krieg überzogen, die Tempel der Stadt wurden zerstört, und zeitweise wehte über dem Ganges die strenge Fahne des Propheten. Umso stärker wurde Varanasi noch unter der britischen Kolonialherrschaft zum Zentrum einer tief empfundenen Volksfrömmigkeit und in der Vorstellung der Hindus aller Schulen zu einer der großen Pforten der Erlösung. So wie jeder Moslem mindestens einmal in seinem Leben nach Mekka pilgern sollte, so kann kein Hindu auf ein gutes Karma hoffen, der nicht wenigstens einmal in seinem Leben in Varanasi war.

      Ich war am Ende einer zweitägigen Bahnreise von Delhi aus in Varanasi eingetroffen. Es war Winter, und von Norden wehte ein schneidender Wind über die Gangesebene. Frierend hatte ich mich durch die Nacht gezittert, mit klammen Fingern hatte ich im Hof des Guesthauses meinen ersten Tschai getrunken, ehe mich ich zu den Ghat von Varanasi aufmachte. Wie schon seit Jahrtausenden versammelten sich auch an diesem Morgen die Menschen auf den Treppen, legten ihre Saris oder ihre Lumpen ab und stiegen, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in den Fluss. Hagere, groß gewachsene Asketen mit langen, weißen Bärten, kahl geschorene, pechschwarze südindische Pilger und verwachsene Gnome,

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