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Eine Entscheidung

       Ende und Anfang

       Über dieses Buch

       Über den Autor

       Impressum neobooks

      Vorwort

      Sieben Leben hat eine Katze, sagt man. Mit wie vielen konnte ein politisch interessierter Mensch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechnen? Mein Vater Karl Kuntze durchlebte bis 1951 sieben Abschnitte, die man jeweils als Leben bezeichnen könnte. Sein Weg zwischen dem Ende des ersten Weltkrieges und der Restauration in der Bundesrepublik Deutschland in den Fünfzigerjahren ist es wert, betrachtet zu werden.

      Seine siebenköpfige Familie hatte 1957 eine Wohnung in Möhringen bezogen, einem auf der Höhe gelegenen Vorort von Stuttgart. Nach der Ernte im Herbst erfüllte der modrige Geruch der auf den Feldern verbliebenen Strünke und Blattreste des Spitzkohls, der hier „Filderkraut“ heißt, die Nasen. Das galt besonders für Häuser am Ortsrand, die außer diesem Gestank einen weiten Blick über die Filderebene genossen. Wohl in Erinnerung an den letzten Krieg oder aus sorglosem Umgang mit der deutschen Vergangenheit nannte man die rasch aus dem Boden gestampften Wohnblocks Mietkasernen.

      Ich vermisste das Umfeld der Gänsheide, auf der Halbhöhe, wo ich zehn Jahre meines jungen Lebens verbracht hatte. Wollte ich die Gegend besuchen, musste eine weite Fahrt unternommen werden.

      Mit 12 Jahren, im Frühjahr 1959, habe ich mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester eine solche Reise gewagt. Die gelben Waggons mit abgerundeter Frontpartie und automatischen Türen waren das Modernste, was die Stuttgarter Straßenbahn AG damals im Einsatz hatte. In diesen GT 4 genannten Fahrzeugen konnte man dem Fahrer in seiner gläsernen Kabine über die Schulter schauen. Zwischen Möhringen und Sonnenberg erreichte die Tachonadel die Marke von 60 km/h. Ab Degerloch begann der Abstieg in die Innenstadt.

      Ein makellos blauer Himmel wölbte sich über dem Talkessel und ließ die Stadt aussehen, als wäre sie gerade aufgebaut worden. Im klaren Licht war nichts von Kriegsruinen zu erkennen oder an ihre Stelle getretenen Behelfsbauten. Man konnte meinen, ganz Stuttgart strahle mit der Morgensonne um die Wette.

      Der aus zwei Gelenkwagen bestehende Straßenbahnzug schwankte die sanften Kurven der Neuen Weinsteige talwärts und kam kreischend neben dem turmgeschmückten Fachwerkhaus in den leicht grün schimmernden Weinbergen zum Stehen. Meine Schwester klappte unvermittelt ihr Buch zu, hob den Kopf und fragte mich mit ihrer rauen, kräftigen Stimme: „Du, Stefan, Vati ist doch Kommunist, oder?“

      Erschrocken musterte ich erst sie und dann die Fahrgäste in unserer Umgebung. „Psst!“ rutschte es mir heraus. „Nein, das ist er nicht!“, schob ich nach. „Was redest du für einen Quatsch!“

      Ich wusste nicht, was ein Kommunist war, ahnte aber, dass es etwas Schlimmes sein musste. Unser Vater war nach einer Phase der Resignation wieder in die SPD eingetreten. Vielleicht hatte sie das mit- und in den falschen Hals bekommen. Ich wurde rot im Gesicht und war erleichtert, als wir fünf Minuten später am Olgaeck die Bahn verlassen mussten.

      Fast sechzig Jahre nach dieser Frage möchte ich versuchen, eine etwas fundiertere Antwort zu geben.

      Karl Kuntze hatte viele Leben. Sein achtes begann im Jahr 1951. Der Neuanfang war nicht Ergebnis eigener, freier Lebensplanung. Wie schon vorher erzwangen äußere Umstände oder politische Ereignisse einen Neubeginn, den er sich selber kaum hatte vorstellen können. In der zweiten Hälfte seines Lebens konnte er in seinem Beruf als Lehrer arbeiten. Er übernahm Verantwortung als Rektor und war schließlich erfolgreich in der Schulverwaltung tätig.

      Sein Weg durch die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verlief nicht geradeaus. Dennoch ist die Geradlinigkeit eines Menschen zu erkennen, der in schwierigen und in entsetzlichen Zeiten Deutschlands weder abtauchte noch sich versteckte. Einen menschlichen Kompass muss er in sich getragen haben, sodass er den Norden nie verlor, wie man in Frankreich sagt.

      Mag er Ereignisse unzureichend durchschaut haben und Projekte naiv angegangen sein, bin ich doch stolz auf einen Vater, der trotz Verfolgung und Verachtung nicht mit den Wölfen heulte. Niederlagen und Verfolgung brachten ihn nicht zum Aufgeben. Das ist es, was er vermittelt hat.

      In einer Zeit, in der überwunden geglaubte Irrlehren und Parolen sichtbar und wirksam werden, muss das Erbe derer gepflegt werden, die sich nicht in die nationale und rassistische Verblendung vieler Deutscher haben hineinziehen lassen.

      Von Bedeutung in der hier reflektierten Zeit sollte für Karl Kuntze ein Mann werden, der ähnliche Wege gegangen ist und sich doch nach ihrer späten Begegnung gezwungen sah, das siebente Leben seines Zeitgenossen zu beenden. Hellmuth von Rauschenplat, den Karl Kuntze unter dem Namen Fritz Eberhard kennenlernte, soll in meinem Bericht für einen anderen Deutschen stehen, der ähnliche Gedanken hegte und vergleichbare Schwierigkeiten in diesem dramatischen halben Jahrhundert zu bewältigen hatte.

      Zu den in diesem Buch geschilderten Ereignissen existieren knappe Aufzeichnungen meines Vaters. Die Lebenserinnerungen meiner Mutter sind ausführlicher und halfen zusammen mit Briefen und Dokumenten aus dem Nachlass in vielen Punkten weiter. Dennoch musste vieles zusammengesetzt oder aus anderen Quellen erschlossen werden. Unterlagen in Archiven und eine ansehnliche wissenschaftliche Literatur zu den historischen Situationen, in denen Karl Kuntze sich bewegt hat, halfen bei der Suche.

      Das Ergebnis meiner Nachforschungen muss in vielen Details Fiktion bleiben, die allerdings auf historischen Quellen beruht. Die Dialoge sind erfunden. Fast alle handelnden Personen sind die realen aus dem persönlichen Umfeld oder der Zeitgeschichte. Natürlich kann ich mich nicht dafür verbürgen, allen Erwähnten gerecht zu werden.

      Danken möchte ich meiner Frau, Beate Schimpf-Kuntze, die mich durch die Untiefen des Projekts begleitet hat. Ohne ihre Anregungen, Vorschläge und ihre partnerschaftliche Kritik läge das Buch nicht in dieser Form vor.

      Das erste Leben (1909 bis 1931) Revolution in Schivelbein

      Die Schneereste auf den Wiesen um Schivelbein glänzten stumpf. Zwei Knaben versuchten, aus der nassen und schmutzigen Masse zwischen den knorrigen Apfelbäumen etwas zu formen, was ein Schneemann werden sollte. Der knapp zehnjährige Karl und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Heinz zitterten am ganzen Leib. Die kalte Luft verwandelte ihre nassen Kleider in Eishüllen. Man hätte denken können, der in Hinterpommern gefürchtete Wind aus dem Osten komme an diesem Januartag des Jahres 1919 direkt vom Roten Platz in Moskau.

      „Kinder, kommt sofort ins Haus!“

      Die klare und melodiöse Stimme trug weit. Elsbeth Kuntze wäre gerne Sängerin geworden, aber einen solchen Wunsch hätte sie in ihrer Familie nie äußern dürfen. Ihr Vater Richard Schröder hätte bestenfalls gelacht und darauf aufmerksam gemacht, dass Mädchen keine höhere Ausbildung bräuchten und schon gar nicht in Musik. Ihre Bestimmung sei es, einen anständigen Mann zu finden und zu heiraten.

      Sie musste sich an der Haustüre festhalten. Seit dem langen Krankenhausaufenthalt verursachte jede Anstrengung einen leichten Schwindel. Sie war zwar erst 35 Jahre alt, wirkte aber älter, ja, fast ein wenig verbraucht. Auf ihrem breiten Gesicht unter den leicht gewellten kurzen Haaren bildete sich ein dünner Schweißfilm. Sie fröstelte.

      „Kinder, wo seid ihr? Kommt bitte schnell. Wir müssen euch etwas sagen.“

      Die beiden Kuntze-Söhne waren froh, ihre Aktivitäten beenden zu können. Karl, ergriff die Hand von Heinz.

      „Wir dürfen Mutter nicht warten lassen. Komm mit, wir machen morgen weiter!“

      Im Wohnzimmer des Eisenbahnerhäuschens

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