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zerbrochen und Reichskanzler Müller war zurückgetreten. Kurz danach ernannte Reichspräsident Hindenburg Heinrich Brüning zum Reichskanzler, der ohne Mehrheit im Reichstag das Regieren mit Notverordnungen nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung begann.

      Nachdem der Reichstag am 16. Juli eine Vorlage zu einer Beitragserhöhung abgelehnt hatte, setzte Brüning die Vorlage in verfassungswidriger Weise als Notverordnung um. Der Reichstag hob sie am 18. Juli gemäß Artikel 48 Absatz 3 der Verfassung wieder auf, worauf die Regierung mit der Auflösung des Reichstags reagierte. Jetzt konnte 60 Tage lang weiter mit Notverordnungen regiert werden. Eine wahrhaftige Verfassungskrise ergänzte die furchtbare wirtschaftliche Situation. Die Arbeitslosenzahlen stiegen weiter.

      In den kurzen, diesen Ereignissen folgenden 60 Tagen fand ein Wahlkampf statt, wie ihn Deutschland nie zuvor erlebt hatte. Die NSDAP mit ihrem Listenplatz 9 stellte die Wähler unter der Überschrift ‚der rote Krieg‘ vor Alternativen, die offenbar verstanden wurden:

      „Mutter oder Genossin, Gott oder Teufel, Blut oder Gold, Rasse oder Mischling, Volkslied oder Jazz,“ kurzgefasst: „Nationalsozialismus oder Bolschewismus“.

      Außerdem ließ sie ihre Sturmabteilung vor allem in den Arbeitervierteln Angst und Schrecken verbreiten. Das Konzept für ihren Wahlkampf stand schon wenige Tage nach dem Auflösungsbeschluss der Reichsregierung fest; die Nazis waren vorbereitet. Geistiger Kopf der Kampagne war Joseph Goebbels.

      „Es darf bis zum 14. September keine Stadt, kein Dorf, keinen Flecken geben, wo wir Nationalsozialisten nicht durch eine große Versammlung in Erscheinung getreten sind.“

      Also schickte er den Parteiführer auf Deutschlandtournee, und so trat Adolf Hitler bereits am 3. August in der Festhalle in Frankfurt auf. 17.000 Menschen füllten die riesige Arena, um ihn zu hören und ihm zuzujubeln. Zu gern wollten sie glauben, dass für das deutsche Elend außer dem Schandfrieden von Versailles die Bolschewiken und ihre Lakaien verantwortlich waren. Die antisemitische Hetze der Nazis, die für die aktuelle Kampagne auf Anraten von Goebbels etwas zurückgenommen wurde, hatten die Zuhörer entweder vergessen oder fanden sie sowieso richtig und so selbstverständlich, dass sie nicht ständig wiederholt werden musste.

      Die seit Ende 1926 vorliegenden zwei Bände des Hitler‘schen Machwerks ‚Mein Kampf‘ hatten nicht allzu viele der Zuhörer gelesen. Die Auflage des Buches überschritt erst nach der Machtergreifung die Million, als es opportun erscheinen musste, auf der ideologischen Höhe der Zeit zu sein. Dennoch entsprach es der Realität, dass die meisten Deutschen die antisemitischen Ausfälle der Nazis kannten und ihnen insgeheim darin zustimmten, dass die Juden, genauer „das Weltjudentum“ der dritte Sargnagel für ein starkes Deutschland seien.

      Die Halle wurde von Hunderten von SA-Männern bewacht. Zwar war die Zahl ihrer aktiven Mitglieder nach der Wiederzulassung und Neuorganisation der NSDAP ab 1925 eher bescheiden: die Wiesbadener Sturmabteilung zählte im Sommer 1926 nicht mehr als zwölf aktive Männer. Bis Anfang 1927 erhöhte sich dies gerade einmal auf 20. Ähnlich sah es im gesamten Partei-Gau Hessen-Nassau-Süd aus. Selbst in der Metropole Frankfurt standen bis 1929 nur wenige Sturmmänner zur Verfügung. In Hessen existierten zwar zahlreiche Wehrsportgruppen, die ebenfalls stramm rechtsradikal und gegen alle Linken waren, aber eine einheitliche Massenorganisation mit militärischen Strukturen und eindeutigem Kampfauftrag bildeten sie noch nicht.

      Deshalb mussten auswärtige Kräfte aus dem ganzen Land mit dem LKW nach Frankfurt gebracht werden, um für den Führer Stärke zu demonstrieren. Zum Beispiel war der SA-Sturm 62 aus Mainz den Frankfurter Parteifreunden zu Hilfe gekommen und bildete einen ersten Abwehrring am Vorplatz auf dem Messegelände. Die frisch gewichsten Stiefel glänzten in der Sonne, und einige trugen über dem Braunhemd eine Krawatte. An ein Durchkommen eventueller Gegendemonstranten war nicht zu denken.

      Die NSDAP hatte inzwischen auch für Hessen eine eigene Propagandazeitung aufgelegt, den „Frankfurter Beobachter“, für den auf riesigen Transparenten in der Halle geworben wurde. Die fortschrittliche Bildungspolitik des Landes war eines der Angriffsziele Görings gewesen, der schon im Mai 1930 im Zoologischen Garten gesprochen hatte. Es war seine Überzeugung, dass die Nationalsozialisten vor allem Preußen gewinnen mussten, wenn sie im ganzen Reich Erfolg haben wollten.

      Dass der SPD nicht Besseres einfiel, als die Parole: „Hitler ist Zwischenspiel, Schlussakt sind wir“, auszugeben, war Ergebnis einer ähnlichen Fehleinschätzung wie der in der KPD vorherrschenden. Das Wort ‚Einheitsfront‘ tauchte zwar in vielen Reden beider Parteien auf, aber man schloss jeweils die Parteiführung der anderen aus. Die KPD veröffentlichte am 24. August eine „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ und rief alle Werktätigen auf, mit den faschistischen Volksbetrügern der NSDAP und der verräterischen Sozialdemokratie zu brechen und eine revolutionäre Millionenfront zu bilden. Ob die Autoren daran wirklich geglaubt haben?

      Es war nicht herauszufinden, ob es in der Stadt Frankfurt oder in der Nähe der Halle am 3. August eine Gegendemonstration gab. Schön wäre es, wenn Karl und Bruno mit vielen Genossinnen und Genossen das andere Frankfurt sichtbar gemacht hätten. Was für einen Gegensatz zu dem Besuch der Halle vor drei Monaten hätten sie hier erleben müssen!

      In den Straßen von Frankfurt war immer öfter ein Lastwagen zu sehen, dessen Seitenfront mit einem riesigen Schild verkleidet war. Die darauf angebrachte Aufschrift legte den Bürgern nahe: „Deutsche kauft bei Deutschen! Deutsche inseriert in deutschen Zeitungen im völkischen illustrierten und Frankfurter Beobachter.“

      Das Ergebnis der Reichstagswahl vom 14. September – wenn auch in Hessen etwas günstiger für die SPD als im Reich – schockierte auch die Linken in Frankfurt. 1928 hatten die Nationalsozialisten lediglich 2,6 % erzielt und damit Schröders frühere Einschätzung anscheinend bestätigt. Aktuell waren sie auf 18,3 % gekommen und bildeten die zweitstärkste Fraktion nach der SPD und vor der KPD.

      Marianne und Thea bestanden trotz dieser politischen Entwicklungen auf weiteren kulturellen Erlebnissen. Am 19. Oktober haben sie im Opernhaus die kurz zuvor erstmals dargebotene Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Bertolt Brecht mit der Musik von Kurt Weill und den Eklat erlebt, als etwa 150 Nazis während der Pause ins Foyer drängten und unter Pfiffen und dem Gebrüll „Deutschland erwache!“ das bürgerliche Publikum schockierten. Damals schritt die Polizei ein und beendete die Aktion. Das lag nicht zuletzt daran, dass mit dem japanischen Prinzenpaar Takamatsu hohe Staatsgäste in der Oper waren. Die Vorstellung konnte nach dem Polizeieinsatz fortgesetzt und zu Ende gebracht werden.

      Mahagonny, die Netzestadt: Was für ein Inbegriff des sinnlosen Konsums und der Verblödung der Arbeiter unter dem kapitalistischen Joch! Was für eine geistreiche Parodie auf die inhaltsleere Vergnügungssucht und was für eine schmissige Musik! Karl und Bruno waren begeistert. Auf dem Rückweg nach Sachsenhausen durchs nächtliche Frankfurt und auf dem Eisernen Steg über den dunklen Fluss schmetterten sie die Hymne der Stadt Mahagonny im Chor:

      „Erstens vergesst nicht kommt das Fressen,

      zweitens kommt die Liebe dran,

      drittens das Boxen nicht vergessen,

      viertens saufen solang man kann.

      Vor allem aber achtet scharf,

      dass man hier alles dürfen darf!“

      Karl legte den Arm um Mariannes Schulter, die in ihrem dünnen Kleidchen in der Nachtkühle deutlich zitterte, und er durfte sie zum ersten Mal seit Bensheim wieder küssen. Er liebte Brecht, der viel über die kapitalistische Gesellschaft, aber auch über die Liebe geschrieben hatte.

      Kurz vor diesem Ereignis, am 14. Oktober, war in Frankfurt ein Nazi freigesprochen worden, der im April bei einer Straßenschlacht mit Mitgliedern des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes und des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold einen Sozialdemokraten mit dem Messer getötet hatte. Das Landgericht billigte ihm Notwehr zu. Die SPD hatte am 15. Oktober zu einer Protestkundgebung gegen das Urteil aufgerufen.

      Karl und Bruno standen mit den anderen auf dem Börsenplatz. Es war für die beiden selbstverständliche Pflicht, an der anschließenden Demonstration teilzunehmen und der Parteisekretär hatte sie

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