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Jahre mit Camilla. Helmut H. Schulz
Читать онлайн.Название Jahre mit Camilla
Год выпуска 0
isbn 9783847689201
Автор произведения Helmut H. Schulz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Es war halb zwei, als ich den Rechenstab auseinander schob. Einen Augenblick lang lauschte ich, ob der Soziologe nebenan noch schrieb. Ich war wütend entschlossen, ihm diesmal eine Szene zu machen, aber es war still. Vielleicht war es diese Stille, die mich noch einmal in das Traumreich des Unmöglichen zurück lockte oder eigentlich voran lockte. Versuchsweise wählte ich unter den Varianten die höchste aus, die nach meiner Kenntnis den gesamtwirtschaftlichen Vorgaben entsprochen hätte, für die aber unsere Produktionsbasis nicht ausreichte. Dann erst spielte ich die Varianten durch, die in unseren Möglichkeiten lagen. Das war typisch für mich, und ich glaube, es ist typisch für den Techniker, aber dieses Festhalten an bewährten Verfahren ist trotzdem kein bloßes Ausweichen. Der Kluge steigt nicht über den, Berg, er umgeht ihn, sagt ein russisches Sprichwort.
Zwei frische Pfeifen lagen auf dem Tisch, Tabak, gut ausgetrocknet, wie ich ihn gern rauche. Dazu trank ich einen teerartigen Aufguss aus Pulverkaffee und leichten, gut temperierten Weinbrand. Ich war durchaus nicht mehr erschöpft, im Gegenteil.
Ich arbeitete für Rickweiler. Es war seine Arbeit, die günstigste Variante durchzusetzen: Meine Arbeit war, ihm Varianten anzubieten. Ich mache den Plan nicht, ich analysiere und prognostiziere. Die volkswirtschaftlichen Kennziffern werden anderswo ermittelt.
Gegen fünf brühte ich mir Kaffee auf. Um halb acht rief Rickweiler aus dem Betrieb an, um acht ließ er mich abholen. Zusammen gingen wir, Rickweiler und ich, die Varianten durch. Ich war fertig. Ich hing auf dem Stuhl in Rickweilers Sitzungszimmer. Ihm war nichts anzumerken. Seine braune rissige Gesichtshaut war frisch, die Lippen waren fest und farblos. Ein bisschen Wärme leuchtete in seinen Augen. Wegen dieser Augen liebte ich Rickweiler.
Den Nachmittag arbeitete ich an Teilberechnungen, während Rickweiler mit den Produktionsleuten die Varianten beriet. Es war zwanzig Uhr, als er herauskam und mir ein Bündel Material auf den Tisch legte.
«Die mittlere Variante», sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Ich wollte dennoch widersprechen. Ich hielt einen höheren Ansatz für denkbar und auch für dringend notwendig, aber Rickweiler schnitt mir das Wort ab.
«Wann kriegen wir die Feinplanung? Sag mir deine Termine! Rickweiler setzte sich, schraubte seinen großen altmodischen Füller auf und begann zu notieren, was ich ihm ansagte. Er schrieb mit seiner raschen, starken Handschrift. Es war gegen zweiundzwanzig Uhr, als wir vor dem Werktor standen.
«Ich bring dich nach Hause.»
Wir fuhren die Hermann-Duncker-Straße entlang. In den Geschäften brannte Licht, die Straßen waren menschenleer. Rickweiler schaltete wenig. Er war ein guter Fahrer, ein sicherer Fahrer, aber langsam. Wir passierten die Brücke in Karlshorst.
«Wie war denn dein Urlaub?», wollte er wissen.
«Zu kurz. »
Obwohl ich müde war, fand ich keine Ruhe. Irgendetwas war los mit mir. In bunter Reihe reproduzierte mein Gehirn Bilder, die ich früher gesehen hatte. Ich sah den Diodensaal, die bizarr nach außen gestülpten Gummihandschuhe, eine Folge des Gasdruckes, unter denen die Montagekästen stehen; ich sah die weiß bekittelten Frauen des Saales, die Ätzbäder und Lötgeräte und die Grundmaterialien in zwergenhaften Abmessungen. Wie ein stummer Film liefen die Bilder ab. Sie hatten etwas Sinnloses, Konfuses, sie schienen darauf zu warten, nach einem besseren Prinzip geordnet zu werden. Und wer konnte dieses bessere Prinzip finden? Rickweiler? Sewarth? Oder ein anderer?
Ein Bild aus meiner Studienzeit entstand. Der dozierende Professor war ein mittelgroßer Mann in zweireihigem Anzug mit großer gebundener Schleife. Sein Blick hakte irgendwo ein. Seine Stimme klang scharf und herausfordernd: Jedes atomare System hat ganz, bestimmte Energiewerte ... Das Labor, vollgestellt mit Geräten und Messapparaturen, war mein erster Arbeitsplatz. Ich sah mich am Mikroskop. Zum ersten Mal erschien das Bild einer Golddrahtdiode im Gesichtsfeld des Mikroskopes, ein Bild seltsamer, starrer Schönheit, die Oberfläche aufgelöst in zahllose bunte Punkte wie bei der Vergrößerung eines Rasterbildes. Scharlachrot leuchtete die eingeschmolzene Sinterglasperle. Warum scharlachrot? Ich entsann mich. Sie war einer hohen Temperatur ausgesetzt. In normaler Betrachtung erschien sie rosig-weiß.
Sewarth ist der einzige speziell ausgebildete Elektroniker im Bereich. Er ist jünger als ich, und er muss auch noch beweisen, was er kann. Sewarth ist groß und breitschultrig. Er treibt Sport, wie ich hörte. Er rudert. Seine Hände sind Maurerhände, Schlosserhände, wie Rickweilers Hände. Wie schafft er es, mit diesen Händen mikroskopische Abmessungen zu beherrschen?
Der Professor erläuterte: Erst im Prüffeldauslauf erfahren Sie die Wahrheit über ein elektronisches Bauelement.
Warum hat Rickweiler die mittlere Variante gewählt?
Rickweiler fing vor einigen Jahren an. Damals studierte ich noch. Es gab nichts, was Rickweiler nicht herstellen ließ. Jedes Gerät, jedes Material wurde erzeugt, erprobt, verworfen oder verwendet. Dann baute Rickweiler den Diodensaal mit den breiten Fenstern. Rickweiler ließ die ersten brauchbaren Einkristalle züchten, das Grundmaterial für Halbleiter, er schuf die Voraussetzung für ihre industrielle Herstellung.
Und wieder sah ich den Professor. Er sagte: Zum Anderen muss beim Kristallzüchten immer mit dem Einbau fremder Atome gerechnet werden, denn selbst bei größter Reinheit kommt auf zehn hoch neun richtige Gitterbausteine ein falscher. Eine Störstelle auf zehn hoch sieben normale Gitterbausteine macht sich bei elektrischen Messungen schon bemerkbar.
Komisch, dass man sich die Reihenfolge und selbst den Tonfall bestimmter Unterweisungen derart merkt.
Und ich dachte triumphierend: Rickweiler hat mit seinem Kollektiv die ersten brauchbaren Dioden gebaut, aber warum ist er heute ein so unzulänglicher Technologe? Warum Stück für Stück biegen, schneiden, löten, ätzen, waschen, trocknen, messen, dreimal, viermal? Warum nicht ganz anders? Wie anders?
Kubach, der Kalmückenkopf, unser Hauptökonom, ist ein Mann, der unbequeme Wahrheiten liebt. Manufakturbetrieb. Er sagt: Manufakturbetrieb. Und Czwietusch ist Forscher, nur Forscher.
Was soll man tun? Tausende Elemente gehen selbst in einen Rechner älterer Generation.
Ich will aufstehen und Licht machen, irgendetwas arbeiten oder einfach Pfeife rauchen.
Camilla schrieb: Es war traurig, als du weg warst.
Nebenan spannte der Soziologe ein neues Blatt in die Maschine. Die Dissertation würde wohl sehr lang werden, oder er verwarf früh, was er nachts getippt hatte.
Sie schrieb: Und du hast nicht einmal gemerkt, dass wir uns duzten, als das Telegramm kam. Meerteufel sind nicht giftig. Ich möchte ein Haus am Meer haben. Ist das kleinbürgerlich? Ich würde keinen Zaun stellen. Ich würde Sanddorn anpflanzen.
Ich wollte über Rickweiler nachdenken, ich wollte über die Probleme nachdenken, die wir lösen mussten.
Sie schrieb: Warum hast du nicht gesagt, was du dachtest? Dein Brief hat sich wie ein Geschäftsbrief gelesen. Man muss etwas haben, was man, ohne Kritik liebt, einfach so, weil es da ist. Ich bin nicht sicher, ob ich da recht habe. Im November bin ich für zwei Tage in Berlin. Kann ich bei dir unterkommen? Ich rufe dich noch an, Camilla.
Der Soziologe hatte die Arbeit für heute aufgegeben, wie es schien. Ich hörte ihn laut pfeifen.
Von meiner Etage konnte ich nach Karlshorst hinübersehen. Ich hatte Sehnsucht nach einer weiten Ebene ohne Hindernisse, nach dem Gespensterwald und nach der See, nach großen modernen Produktionsräumen, nach Maschinen. Es war eine unbestimmte Sehnsucht.
Camilla kommt im November.
Sie kam mit Verspätung.
Mir fiel ein Gespräch ein. Es wurde auf dem Flur der Wohnung Jewgeni Andrejewitschs in Moskau geführt.
«Du bist ein typischer Deutscher», hatte Jewgeni Andrejewitsch gesagt. Meinen Protest wehrte er mit seinen mächtigen Händen ab.
Ich nahm damals an einem Symposium über interdisziplinäre Forschung teil. Jewgeni Andrejewitsch