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Ohne mich. Hanna Goldhammer
Читать онлайн.Название Ohne mich
Год выпуска 0
isbn 9783738078121
Автор произведения Hanna Goldhammer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Mit einem Mal stand ein Mann vor mir. Ich vermutete, dass es sich um diesen David Rottmann, von dem Lucrezia Eisbein gesprochen hatte, handeln musste. Und tatsächlich, wie sich herausstellte hatte ich vollkommen Recht.
„Hallo, ich bin David Rottmann“, begrüßte er mich freundlich und schüttelte mir die Hand, „Es tut mir leid, dass ich erst jetzt zu dir komme, da muss ein Fehler passiert sein.“
Aha. Ein Fehler also. Fehler sind menschlich. Aber war David das auch? Ich hatte noch immer nicht die geringste Ahnung was hier vor sich ging. Langsam könnte man mich echt einmal aufklären.
„Du fragst dich sicher wo du hier bist und was als nächstes mit dir passiert“, fuhr David fort, „Du bist hier direkt vor dem Paradies. Paradies, Himmel, Djanna, Jenseits, wie du es nun mal gerne bezeichnen möchtest. Wie du sicherlich schon bemerkt hast, bist du tot. Doch dies ist kein Grund traurig zu sein oder zu verzweifeln! Und selbst wenn du doch der Meinung bist, dass es ein Grund dafür wäre, muss ich dich leider enttäuschen, negative Gefühle gibt es hier nicht. Somit kann ich dich genau genommen doch nicht enttäuschen. Ist das nicht der Wahnsinn?“
Sprachlos starrte ich David an. Er redete wie ein Wasserfall und mit seiner übertrieben fröhlichen Art ging er mir jetzt schon auf die Nerven. Aber zumindest wirkte er freundlicher als die nette Dame von vorhin.
„Wie ich sehe hat es dir die Sprache verschlagen. Daraus schließe ich, dass es tatsächlich der Wahnsinn ist. Ich meine wie sollte es auch anders sein, du bist immerhin kurz vor dem Ort an dem ALLES möglich ist! Außerdem hast du gerade erfahren, dass du nie wieder unglücklich sein wirst! Ach, ist das Leben nicht schön? Oder vielmehr der Tod. Oder das Leben nach dem Tod. Oder der nächste Abschnitt auf einer unendlichen Reise voller Geheimnisse. Das klang ja sogar fast poetisch! Ich habe ja schon immer gesagt, dass an mir ein großer Dichter verloren gegangen ist! Aber meine Eltern hielten nicht viel von meiner Kreativität, stattdessen sollte ich an einer Universität Jura studieren. Welch eine bitterböse Ironie, dass ich ausgerechnet auf dem Weg zu dieser Uni mit dem Auto tödlich verunglückte und dass- “
„Was mache ich hier?“, unterbrach ich David, der gar nicht mehr aufhören wollte zu reden, „Ich meine, was passiert jetzt als nächstes?“
„Oh“, unterbrach David seinen Redefluss und wirkte ein wenig gekränkt darüber, dass ich mich für seine Geschichte nicht sonderlich interessierte, „Wie gesagt, du bist hier direkt vor dem Paradies. Als nächstes kommst du in das Paradies. Und dann bist du glücklich bis in alle Ewigkeit. Wie genau wirst du schon noch merken. Doch zuvor, also bevor du durch dieses riesige Tor ins Paradies schreiten darfst, hast du noch einen Wunsch frei.“
„Einen Wunsch?“, fragte ich noch immer verwundert darüber, dass ich mir tatsächlich etwas wünschen sollte.
„Ja, du hast richtig gehört, einen Wunsch! Wir haben dies vor einigen Jahren eingeführt, um den Menschen den Abschied von ihrer alten Welt zu erleichtern. Schließlich werden sie ihre Familie und all ihre Freunde NIE WIEDER sehen!“
„Nie wieder?“, fragte ich erschrocken.
„Nein, das war bloß ein Scherz“, David begann zu kichern, „Natürlich wirst du sie wiedersehen. Die sind schließlich auch nicht unsterblich. Trotzdem ist es vorerst Zeit Abschied zu nehmen. Und um dir diesen Abschied leichter zu machen und weil wir es nun mal können, erfüllen wir dir einen Wunsch! Um ehrlich zu sein, das mit dem Wunsch war damals meine Idee! Ist das nicht der Wahnsinn?“
David schien ziemlich viele Dinge wahnsinnig toll zu finden. Aber die Sache mit dem Wunsch klang in der Tat nicht schlecht. Doch ich hatte absolut keine Idee was ich mir wünschen sollte. Viel lieber wollte ich sehen wie es meiner Familie und wie es Laura ging.
„Ich möchte, bevor ich sage was ich mir wünsche, sehen was gerade auf der Erde passiert!“
„Du willst sehen was auf der Erde passiert?“, fragte David zögerlich. Mit einem Mal schien seine Heiterkeit verflogen zu sein.
„Ja!“, antwortete ich bestimmt.
„Aber das geht nicht so einfach!“, protestierte David.
„Ich dachte das hier sei der Ort der unbegrenzten Möglichkeiten! Es muss einfach gehen!“, erwiderte ich.
„Erstens befinden wir uns hier VOR dem Ort der unbegrenzten Möglichkeiten und zweitens halte ich das einfach für eine nicht so gute Idee! Bist du dir ganz sicher, dass du das willst?“
„Ja, das bin ich!“, antwortete ich fest überzeugt. Ich musste meine Familie und Laura einfach ein letztes Mal noch sehen können.
„Ich nehme an du willst deine Eltern sehen?“, fragte David. Er klang plötzlich ganz schön ernst. Ich schluckte und nickte. Ich musste einfach!
Mit einem Mal erschien vor mir ein riesiger Bildschirm. Er erinnerte mich an den mega Fernseher, den mein Vater sich immer gewünscht hatte, sich aber nie hatte leisten können.
Ich sah meine Mutter. Oder besser gesagt eine blasse, traurige, kleine Frau die meiner Mutter ähnlich sah. Sie sah so kaputt aus. Erst auf den zweiten Blick, erkannte ich wo sie war. In der Gerichtsmedizin, vermutlich um meine Leiche zu identifizieren. Meine Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Tisch auf dem vermutlich eine Leiche lag. Der Tisch war zum Glück abgedeckt. Ich war froh mich dort nicht liegen sehen zu müssen. Aber meine Mutter hatte mich dort liegen sehen. Tot! Jetzt starrte meine Mutter einfach nur noch geradeaus. Ihr Blick war leer. Sie war immer eine hübsche Frau gewesen, wenn sie lachte, dann lachten auch ihre Augen. Jetzt sah sie alt aus. Eine Träne kullerte ihr über ihre Wange, doch ihr Blick blieb ausdruckslos. Dann bemerkte ich meinen Vater. Er stand hinter meiner Mutter und seine Hand lag auf ihrer Schulter. Jetzt reichte er ihr ein Taschentuch. Auf den ersten Blick sah er aus wie immer, dann sah ich, dass seine Augen gerötet waren. Er hatte geweint. Mein Vater weinte nie! Zumindest nicht der Mann, den ich als meinen Vater kannte. Es war schockierend. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen mir das hier anzuschauen, aber jetzt war es zu spät.
„Was ist mit meinem Bruder?“, fragte ich unsicher. Wollte ich das wirklich noch sehen? Ja. Ja, das wollte ich.
David sah mich zögerlich an, dann wechselte das Bild auf dem Bildschirm. Mein Bruder war in seinem Zimmer, oder besser gesagt in den Bruchstücken die von seinem Zimmer noch übrig geblieben waren. Das Wort Chaos war maßlos untertrieben, um das zu beschreiben was ich sah. Ich hörte zwar keinen Ton, aber ich konnte sehen, dass die Musikanlage voll aufgedreht war. Die Art und Weise wie mein Bruder wie ein Wahnsinniger durch sein Zimmer tänzelte und dabei mit seinem Baseballschläger immer und immer wieder auf alles Mögliche eindrosch, lies darauf schließen, dass er wohl kaum One Direction hörte. Naja, One Direction hätte wohl ähnliche Aggressionen in ihm hervorgerufen. Dennoch vermutete ich, dass eher Bands wie Morbid Angel oder Cannibal Corpse dahinter steckten. Alles in dem Zimmer meines Bruders war kaputt. Sogar er war kaputt. Nie hätte ich erwartet, dass ihm mein Tod so nahe ginge. Gerne hätte ich ihn jetzt in den Arm genommen, aber es war zu spät.
Noch immer war es mir nicht möglich traurig zu sein, doch mein Verstand wusste, dass ich es jetzt normalerweise wäre.
„Was ist mit Laura?“, wollte ich nun wissen.
„Bist du dir sicher, dass du das auch noch sehen willst?“, fragte David. Er schien nun ernsthaft besorgt um mich.
Ich nickte. Laura und ich kannten uns seit drei Jahren. Wir lernten uns kennen, als ich in der siebten Klasse vom Gymnasium auf die Realschule wechselte und so in ihre Klasse kam. Laura hatte kaum Freunde. Ich hatte nie verstanden warum. Sie war so unglaublich nett, witzig und einfach immer für mich da! Sie war so ein fröhlicher Mensch. Weshalb sie mit den anderen nicht so gut klar kam, hatte sie mir nie erzählt. Jetzt war es zu spät. Ich musste sie einfach noch einmal sehen. Abschied nehmen. Unsere Freundschaft hatte viel zu früh enden müssen. Irgendwie wusste ich, dass mir das was ich jetzt sehen würde nicht gefallen würde und dennoch hoffte ich so sehr, dass es ihr gut ging.
Zunächst einmal sah ich gar nichts. Oder zumindest kaum etwas. Das Bild war annähernd schwarz. Erst bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass