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Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell
Читать онлайн.Название Die Philosophie des Denkens
Год выпуска 0
isbn 9783847668664
Автор произведения Johannes Schell
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
f. Vielleicht konnten Sie schon feststellen, dass wir mit unseren Formulierungen immer dasselbe erfahrbare Phänomen zu umkreisen versuchen, um ihm verschiedene Seiten abzugewinnen. Alles, was wir mit Einschränkung die „Kategorien“ des Denkens nennen können, also die beschriebenen Hauptbegriffe wie „Harmonie“, „Evidenz“, „Einheit“, „Universalität“, „Unableitbarkeit“, „Allgemeinheit“ und wahrscheinlich noch andere mehr, wenn wir weitersuchen würden: sie alle lassen sich in einem einzigen Kernbegriff zusammenfassen, der trotz seiner Umständlichkeit vorteilhaft sein dürfte - ich meine den Ausdruck „Selbsttragekraft des Denkens“. Alles und jedes, mit Ausnahme des Denkens, bedarf einer tragenden „Stütze“ (um ein Wort Rudolf Steiners zu gebrauchen) durch etwas, das es nicht selbst ist; kein Ding ist aus sich selbst erklärbar, und jede Erklärung entsteht aus einer anderen; aber was alle Erklärungen gemeinsam haben, das ist allein die evidentielle Selbsttragekraft des Denkens, die mit ihrer Universalität und Unableitbarkeit alles stützt, was sich nicht selbst stützen kann. Rudolf Steiner nennt dieses Grundprinzip eine „absolute Kraft“. Wir lesen bei ihm:
„In dem Denken haben wir das Element gegeben, das unsere besondere Individualität mit dem Kosmos zu einem Ganzen zusammenschließt. Indem wir empfinden und fühlen (auch wahrnehmen), sind wir einzelne, indem wir denken, sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt. Dies ist der tiefere Grund unserer Doppelnatur: Wir sehen in uns eine schlechthin absolute Kraft zum Dasein kommen, eine Kraft, die universell ist, aber wir lernen sie nicht bei ihrem Ausströmen aus dem Zentrum der Welt kennen, sondern in einem Punkte der Peripherie. Wäre das erstere der Fall, dann wüssten wir in dem Augenblicke, in dem wir zum Bewusstsein kommen, das ganze Welträtsel. Da wir aber in einem Punkte der Peripherie stehen und unser eigenes Dasein in bestimmte Grenzen eingeschlossen finden, müssen wir das außerhalb unseres eigenen Wesens gelegene Gebiet mit Hilfe des aus dem allgemeinen Weltendaseins in uns hereinragenden Denkens kennen lernen.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 15. Auflage 1987, S. 91)
Damit ist allerdings schon etwas mehr gesagt, als wir bisher haben vorbringen können. Die zitierten Überlegungen mögen uns zum Wahrheitsbegriff hinüberleiten, denn was wir die Selbsttragekraft des Denkens genannt haben, gehört der „Wahrheitswelt“ an.
Damit sind wir beim reinsten Begriff des „reinen Denkens“ angekommen, bei einem Begriff, der so rätselhaft vor uns steht, dass wir nicht wissen, wie wir ihn unterbringen sollen. Keine einzige Erscheinungsform der allseitig bedingten Wirklichkeit, ob in der Innen- oder Außenwelt, gibt auch nur den geringsten Anstoß, diesen Begriff aller Begriffe zu bilden. Da wir ihn dennoch hervorbringen, muss eine Erfahrung vorliegen, die auf empirischem Wege zustande kommt und doch über alles Raumzeitliche hinausgeht - ich meine den Begriff des Absoluten, der mit dem Wahrheitsbegriff identisch ist. Die praktische Welt kennt kein Absolutum, weder in den Sinneswahrnehmungen, in den psychischen Abläufen noch in den spezifischen Kogitaten. Und wenn ein Zeitgenosse (es gibt deren viele!) entschlossen auftritt, um uns mit seinem erfundenen Absolutum in eine bessere Welt zu führen, dann ist höchste Vorsicht am Platz: er will uns betrügen, nachdem er sich vorher selbst betrogen hat. Und trotzdem leben wir unentrinnbar, immer und überall im Element des Absoluten, in der bestimmungsfreien Selbsttragekraft des universellen Denkens, in einem Etwas, das keine Hypostase ist, sondern alle qualitativen Kriterien einer Realität besitzt: es lebt und arbeitet im täglichen Denken, ohne dass wir es merken, es stammt aus der Erfahrung, ohne ein Gegenstand zu sein, es ist logisch verifizierbar, indem es alle logischen Gesetze bestimmt, es behauptet sich allein durch sich selbst und ist doch aktologisch anwendbar. Mit einem Satz: das Denken ist ein Absolutum, begreift sich als solches und hat unmittelbar konkrete Auswirkungen im praktischen Leben des Menschen. Die Verwandtschaft mit dem, was wir Wahrheit nennen, liegt auf der Hand. Wir machen eine „übersinnliche“ Erfahrung, die unsere Zeitevidenz verbieten möchte, obwohl wir ohne sie nicht denken und handeln könnten. Aber, so werden Sie sagen, wenn dem so ist, dann besteht trotzdem keine Hoffnung, jemals den Inhalt der Wahrheit zu finden. Es sieht tatsächlich so aus. Ich kann Ihnen keine inhaltlichen Kogitate der absoluten Wahrheit vermitteln, obwohl ich - im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ - kein rein formales Prinzip aufstelle, sondern von einer empirisch erfahrbaren Wirklichkeit spreche Dennoch: Ihre pessimistische Auffassung hat einen konkreten Sinn. Wir werden sehen, dass dieser Zustand selbst ein Element der Wahrheit ist, das uns wieder Hoffnung geben kann. Bis dahin müssen Sie noch viel Geduld aufbringen.
E. DAS PROBLEM DER WAHRHEIT
14. Der unendliche Regress
Mit dem Begriff der Wahrheit verbinden wir gewöhnlich, wenn wir über den nötigen Lebensernst verfügen, sehr hohe Gefühle, wir spüren einen moralischen Impuls, einen Hauch von Ewigkeit und nicht selten die „Nähe Gottes“, wie viele meinen. Das hat einen tiefen Grund. Wenn Sie das Wahrheitsgefühl, das Verlangen nach Wahrheit und damit die Wahrheitssuche aus dem Leben der Menschheit herausnehmen, dann bleibt nichts mehr übrig als ein sinnentleertes pragmatisches Handeln zur Befriedigung animalischer Bedürfnisse. Wer aus anderen Gründen, etwa zur künstlerischen, aber wahrheitsunabhängigen Erhöhung des menschlichen Daseins auf Wahrheit verzichten will (wie Nietzsche), gerät bald in eine ähnliche Misere, nämlich in den psychischen Solipsismus, der alle kommunikativen Elemente der Wahrheit aufhebt und sich ihrer dennoch bedient, um seine eigene Wahrheit zu verkünden. Der naheliegende Grund für diesen Widerspruch liegt in der Tatsache, dass wir von den „letzten Dingen“ nichts wissen können und diesen Freiraum mit willkürlichen Inhalten glauben besetzen zu dürfen.
Aber es kommt noch schlimmer. Mit der Frage „Warum?“ beginnt jede Erkenntnissuche des Menschen, im kleinen wie im großen. Es gibt tatsächlich kein Problem, keinen Tatbestand und keinen Begriff, d.h. es gibt überhaupt nichts, das nicht die Frage nach dem Warum provoziert. Schon die kleinen Kinder gehen in der Fragephase den Eltern mit dem ständigen Warum auf die Nerven, und die Wissenschaftler und Philosophen leiden unter demselben Erkenntnisdrang, können aber nicht mehr die Eltern ausfragen, sondern müssen sich der Natur- und Menschenwelt zuwenden, um Fragen zu stellen und Antworten auszumachen. Einige Wahrheitssucher wenden sich unmittelbar an „Gott“, der es aber vorzieht, beharrlich zu schweigen. Es gibt also niemals ein Ende des Fragens, vor allem nicht auf der jetzigen Stufe der menschlichen Evolution. Und wenn wir brauchbare Antworten finden, dann sind sie immer spezifischer Natur und werfen sofort neue spezifische Probleme auf, die weiter befragt werden müssen. Wenn Sie wissen wollen, wie die Natur beschaffen ist, dann bietet Ihnen die Naturwissenschaft glänzende Antworten an, die aber wieder hinterfragt werden können; wenn Sie aber die radikale Frage stellen, wie die Naturwissenschaft als Wissenschaft naturwissenschaftlich erklärt werden kann, dann stoßen Sie in ein Wespennest ungelöster und zumeist falsch gestellter Fragen, dass Sie an Frage und Antwort zu verzweifeln beginnen und dann den Zweifel begründen wollen. Das führt uns zu den theologischen „Wahrheiten“: wie verhält es sich mit der Existenz und Gestalt Gottes, mit der Strukturform des „höchsten Wesens“, mit seiner Personenhaftigkeit, seiner Seele, seinem Willen und seiner Allmacht, und schließlich mit seiner unendlichen Güte und Barmherzigkeit, die wir in dieser lieblosen Welt so schwer nachweisen können? Die Antworten, die wir erhalten, befremden uns aber, weil sie mit Beharrlichkeit immer das voraussetzen, was zu beweisen ist. Unser bohrendes Fragen findet auch dann kein Ende, wenn wir großzügig auf Gott als den „ganz anderen“ oder auf seinen „ewigen Ratschluss“ verwiesen werden. Auch diese Negativa sind Produkte des Denkens und müssen geprüft werden. Wir besitzen