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DIE GABE. Michael Stuhr
Читать онлайн.Название DIE GABE
Год выпуска 0
isbn 9783847627234
Автор произведения Michael Stuhr
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nach und nach sammeln wir uns am Geländer vor dem Ausgang. Ich könnte jetzt ne Cola gebrauchen, aber hier gibt es leider keinen Kiosk. Komisch eigentlich. Die Pariser Katakomben locken doch jede Menge Touristen an.
Bea stößt mir leicht in die Rippen. „Du sag mal, was war denn vorhin los mit dir?“ Neugierig sieht sie mich an.
„Ach nichts, mir war nur unheimlich, weil ich euch nicht gleich gefunden habe“ - Tolle Erklärung! Es gab dort nur einen Gang. Unmöglich, eine Gruppe von 20 Schülern zu verfehlen.
„Mmh“, meint Bea nur und sieht mich stirnrunzelnd an.
„Na Kinder, auch froh, wieder an der frischen Luft zu sein?“ Mit hochrotem Gesicht erscheint Madame Ulliette im Ausgang und tupft sich mit einem Taschentuch seufzend die schweißglänzende Stirn. Ihr Blick fällt dabei auf meine Schuhe. „Na Lana, bist wohl auch in so eine Kalkpfütze getreten. Ob du das wieder raus kriegst?“, zweifelnd schüttelt sie den Kopf.
„Ihre Schuhe sehen aber auch nicht besser aus, Madame Ulliette“, meint Coco. „Oh und meine eigentlich auch nicht“, fügt sie betroffen hinzu, als sie an sich selber hinunter schaut. Keiner ist bei diesem Marsch durch die Katakomben gut weggekommen und überall wird Genörgel laut.
Schmieriges Weiß bedeckt meine Chucks. Während ich sie betrachte und meine Zehen darin hin und her bewege, merke ich, dass sich der rechte Schuh total vollgesogen hat. Na toll, die Schuhe habe ich mir vorige Woche erst gekauft.
„Wir fahren jetzt mit der 4 von Alésia zur Châtelet und gehen dann an der Seine entlang zum Louvre“, verkündet Madame Ulliette und reißt mich aus meinen Gedanken.
„Och nee!“, stöhnt Hervé auf, „warum können wir denn nicht in die 1 umsteigen und direkt bis zum Louvre fahren? Wozu gibt es denn die Metro?“
Madame Ulliette schüttelt energisch den Kopf. „Also bevor wir in Ch?telet durch diese vielen Tunnel gelaufen sind, haben wir den Louvre dreimal erreicht.“
„Oh ja, da hat sie leider Recht“, sagt Bea zu Hervé und verzieht betrübt die Lippen.
„Außerdem hab ich genug von unterirdischen Gängen“, fügt Madame Ulliette hinzu. „Ein bisschen frische Luft wird uns nach diesem Moder in den Katakomben bestimmt gut tun!“ Das allseitige Murren nimmt sie als Zustimmung und marschiert einfach los.
Als wir ihr zögernd zur Metro folgen, sehe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Ausgang der Katakomben. Ein Mann tritt blinzelnd auf die sonnige Straße und schaut sich suchend um. Wie zufällig streift mich sein Blick. Mir wird ganz kalt. Ich hake mich bei Bea ein, ziehe sie vorwärts und drängele mich durch die Gruppe unserer Mitschüler, ohne auf ihre Proteste zu achten.
„Was ist denn mit dir los?“, mault Bea neben mir und gerät fast ins Stolpern, so heftig reiße ich an ihrem Arm. „Wieso hast du es denn plötzlich so eilig? Werden wir verfolgt?“ Sie schaut neugierig zurück und sagt dann laut - viel zu laut: „Na der hat sich seine Schuhe aber auch ganz schön ruiniert. Warum starrt der uns denn so an?“
Ich drehe mich nicht um und zerre weiter an ihrem Arm. Wieder spüre ich diese knisternde Anspannung in meinem Rücken.
„Was ist denn nur los mit dir?“, meckert Bea. „Du bist heute so komisch, so als wärest du vor irgendwas auf der Flucht. Vorhin da unten auch schon.“
Wenn sie wüsste, wie Recht sie hat. Ich bin auf der Flucht. Auf der Flucht vor den Schatten des Sommerurlaubs in Port Grimaud. Auf der Flucht vor Darksidern, die mich schon einmal entführt und fast umgebracht haben. Ich habe immer noch Angst vor Dolores´ Leuten.
„Jetzt sag doch mal, was ist los mit dir?“, drängelt Bea.
„Erzähl ich dir später“, murmele ich gereizt und zerre sie weiter, bis wir endlich in die nächste Straße einbiegen und im Schutz der hohen Häuser verschwinden können.
02 DER AUFTRAG
Der Tod in all seinen Erscheinungsformen konnte Thakur nicht schrecken. Als Kind hatte er Menschen am Straßenrand verhungern und an Krankheiten sterben sehen. In Kalkutta war das Alltag gewesen, und das Schwimmen hatte er im heiligen Ganges gelernt, dem Fluss, in dem die schlecht verschnürten Überreste verbrannter Leichen zu jeder Stunde des Tages auf das Meer hinaustrieben. Trotzdem spürte er die besondere Atmosphäre, als er in die Katakomben hinabstieg. Die Erinnerung an die Sterblichkeit war so allgegenwärtig, wie an kaum einem anderen Ort der Welt. Die Nischen voller Gebeine und die in langer Reihe an den Wänden aufgehängten, mumifizierten Körper längst verstorbener Würdenträger übten selbst auf Thakur eine niederdrückende Wirkung aus, der er sich nicht entziehen konnte.
Schweigend ging er den Gang entlang und schaute sich gründlich um, denn hier unten gab es etwas, das er unbedingt sehen wollte: Die kleine Rosalia Lombardo, die man 1920 hier bestattet hatte, und deren Körper dem Verfall so gut widerstanden hatte, dass sie wie schlafend wirkte.
Thakur empfand es als angenehm, dass die Katakomben für die Dauer seiner Besprechung mit dem Abgesandten gesperrt worden waren. Mitten am Tag ganz allein hier in dem Gewölbe zu sein, war ein Privileg, das nur wenige für sich in Anspruch nehmen konnten. Dass diese Ehre gerade ihm, dem Paria aus den Slums von Kalkutta zuteil wurde, machte ihn stolz. Zugleich zeigte es ihm die Macht seiner Auftraggeber. Bestimmt ließen die Kapuziner sich nicht gerne in ihre Belange reinreden, aber sie waren dem Wunsch des Heiligen Pakts nachgekommen, wie das handgemalte Schild bewies, das alle Touristen während der Mittagsstunde fernhielt.
Ein Gebilde zog Thakurs Blick auf sich, das so ganz und gar nicht in diese Umgebung passte. Es sah aus wie eine Astronauten-Schlafkapsel aus einem Zukunftsfilm. Er trat näher heran, und da war sie: Rosalia Lombardo.
Thakur empfand es als befremdlich, dass man den kleinen Sarg mit dem gläsernen Deckel in diesen größeren Sarkophag aus Edelstahl und Glas eingeschlossen hatte. Sicher, das war wohl nötig gewesen, um den kleinen Körper vor dem Verfall zu bewahren, aber das Ding wirkte in diesem spätmittelalterlichen Gewölbe wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Anachronismus der übelsten Sorte.
Rosalia Lombardo lag genauso da, wie es in allen Beschreibungen stand. Das unschuldige Kindergesicht entspannt und wie im Schlaf. Zarte Locken waren in die Stirn drapiert und unterstrichen noch die scheinbare Lebendigkeit der Szene.
Thakur nahm das Bild in allen Einzelheiten in sich auf und wandte sich dann ab. Der Glas- und Stahlüberbau und das leise Sirren des Lüftungsventilators ließen es nicht zu, dass der besondere Zauber der Kleinen zur Wirkung kam. Es war vielmehr, als stände man im Supermarkt des Todes vor der Kühltheke mit einer ganz besonderen Ware darin. Mehr nicht.
Geräusche klangen vom Eingang her auf. Wenige Sekunden später kamen zwei ernst blickende Männer in dunklen Anzügen in Thakurs Blickfeld. Zielstrebig gingen sie auf den Mann mit den orientalisch anmutenden Gesichtszügen zu.
Automatisch hob Thakur die Hände in Schulterhöhe und ließ sich von einem der Bodyguards abtasten, während der andere seinen Kollegen von der Seite her absicherte. So war es immer gemacht worden, wenn Thakur einen Abgesandten des Heiligen Pakts traf, und so würde es auch immer bleiben. Man traute ihm nicht, und Thakur konnte es den Leuten nicht verübeln. Schließlich war er ein Jäger – ein bezahlter Mörder, ein Werkzeug für die Drecksarbeit die manchmal zu tun war. Wer wollte seinen Auftraggebern garantieren, dass dieses Werkzeug sich eines Tages nicht gegen sie richtete? Das konnte niemand, und deswegen wurde er jetzt nach Waffen durchsucht. Als Kind in den Straßen von Kalkutta hatte er schlimmere Demütigungen erfahren, und auch das hatte er ausgehalten.
Der Bodyguard fand natürlich nichts und trat zurück.
Thakur