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Der Fluch. Michael Lindner
Читать онлайн.Название Der Fluch
Год выпуска 0
isbn 9783742739872
Автор произведения Michael Lindner
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Michael Lindner
Der Fluch
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
1
Die Insel war lang gezogen und sie hatte die Form eines Stiefels. Von den äußeren Rändern stieg das Gelände sanft an, manchmal so sanft, dass die Steigung kaum auszumachen war. In der Mitte aber, an der gegenüberliegenden Seite des großen Strandes, wo die Lagune lag und das Wasser ganz besonders seicht war, erhob sich ein mächtiger Felsen, nur wenige hundert Meter vom Ufer entfernt.
Eines frühen Morgens hatte er diesen Berg wieder einmal erklommen, um Ausschau zu halten. Es war windstill gewesen, das Meer lag ruhig da und kein Laut war zu hören. Als die Tiere noch schliefen hatte er das Plateau schon erreicht, von wo er hinabblickte auf die riesige, schwarze Fläche. Hier suchte er den Ozean ab. Zweihundert Kilometer weit oder weiter konnte er sehen bei guten Bedingungen und nichts sollte ihm entgehen in jenen Morgenstunden, sobald die Strahlen der Sonne den Horizont erleuchteten. Zu seinen Füßen lag noch still und dunkel die Insel. In der Ferne, weit draußen, war bald der erste Schimmer zu sehen, er schob sich langsam hervor und spülte Licht an die schwarzen Silhouetten der Palmen unten am Strand, tauchte sie in Orange-Töne, dass sich ihre Konturen deutlich abzeichneten, wie auf einer großen, farbigen Leinwand. Das Orange ging über in dunkleres Orange und schließlich, hoch oben am Firmament, brannte es bald in glühendem Rot, dass er meinte der Himmel stünde in Flammen. Rot wechselte in dunkleres Rot und dorthin, wo der Nachthimmel sich immer weiter zurückzog, wuchs ein lila Streifen in breitem Bogen. Die letzten Sterne waren in den schwarzen Weltraum gemalt und verschwanden allmählich. Das Lila wurde zu Blau. Er konnte Wolken erkennen darin. Schwarze Wolken. Manchmal überlegte er, wie es sein konnte, dass Wolken am Nachthimmel erschienen, da sie doch weiß waren und aus Wasserdampf bestünden. Und dann glaubte er, dass es gar keine Wolken waren, denn gleich verschwanden auch sie wieder. Die ganze Landschaft, die vorher noch unsichtbar war, tat sich jetzt innerhalb weniger Minuten vor ihm auf, als hätte jemand den Vorhang zur Seite gezogen. Zu seiner Linken fiel der Fels steil ab bis in eine Senke mit einem kleinen See, wo er schon gebadete hatte, und von dort liefen Hügel und Täler weiter bis zur Küste. Rechts von ihm war das Gelände anders beschaffen. Nicht gar so steil und versehen mit allerlei Gewächs, führte ein gangbarer Weg den Abhang hinab. Im Laufe der Zeit war es ein Weg geworden, denn da, wo vorher kein Weg war, hatte er mit der Machete Lianen entzweigeschnitten oder herabhängende Äste.
Je weiter er in den Urwald vorgedrungen war, umso schwieriger kam er voran, umso mühseliger war die Arbeit mit dem Messer wegen der Farne und Sträucher oder der Bananenstauden, deren frische Triebe viel Platz einnahmen und die er oftmals nicht wegschlagen wollte, weil sie ihm zu wertvoll erschienen.
Dann und wann traf er auf riesenhafte Orchideen mit gewaltigen, gelben Blütenkelchen, die einen entsetzlichen Gestank ausströmten. Er scheute sich ihren Stiel abzuhacken, denn es waren viel eher Tiere als Pflanzen. Einmal hatte er es dennoch getan und es graute ihm danach, denn die Blüte war durch die Wucht des Stoßes abgefallen und sie lag neben ihm, wie der Kopf eines großen toten Paradiesvogels. Und als bewegte der Vogel seinen Schnabel im Todeskampf, schlossen sich die großen hellen Blätter zum letzten Mal und verbargen ihr schmerzvolles Gesicht vor ihm, wie wenn sie klagen wollten: "Du hast mich getötet!"
Als dann, wie es immer so war, die Sonne höher stieg und es schnell heißer wurde, suchte er sich ein schattiges Plätzchen, am besten in der Nähe der grünen Halme, aus denen er trinken konnte so viel er wollte und die noch dazu in großer Menge zu finden waren. An den Stamm eines alten Baumes gelehnt schlummerte er nicht selten ein, die schwüle Mittagshitze drückte ihm die Lider zu und er begann von früher zu träumen. Er träumte von seinen nächtlichen Streifzügen mit alten Freunden und von seinem Mädchen, das groß und schlank war, mit pechschwarzem Haar, das in wilder Krause in alle Richtungen weg stand. Ihr Haar war so wie das Haar vieler Südländerinnen und die Farbe ihrer Haut war wie die des Cafés, den er damals noch trank. An einem jener Abende trug sie ein trägerloses, gelbes Top und dazu enge Jeans, außerdem war sie barfuß. Ihre Augen funkelten schwarz. Er war zu einer Party eingeladen worden, irgendwo in der Stadt seiner Jugend, in eines der vielen hundert Häuser mit ihren tausenden Wohnungen. Als sich die Räume mehr und mehr füllten, da erklang Musik und sie begannen zu tanzen. Auf einmal gesellte sich ein Mann zu ihnen. Es war einer seine besten Freunde von damals. Sein Name war Georg. Das Mädchen wandte sich sogleich ab und drehte ihnen den Rücken zu. Aus Hast ließ sie die brennende Zigarette fallen. Sie bückte sich. Die engen Jeans spannten sich, das Top rutschte hoch, die Wirbelsäule zeichnete sich am Rücken ab, der schlanke Körper bog sich elastisch und die Beine mit ihren straffen Schenkeln und den schlanken Fesseln in schwarzen Pumps balancierten geschickt das Gleichgewicht aus. Georg verschlang sie mit seinen Blicken und als ob er nicht fassen konnte, was er gerade gesehen hatte, schüttelte er ein paar Mal ungläubig den Kopf. In seinem feisten Nacken bewegten sich vom Schweiß verklebte Strähnen. Er roch ein wenig nach Schweiß, fand Robin.
Das Mädchen schrieb ihm Briefe. Es waren liebliche Briefe, voll von kindlicher Vergötterung, es waren ehrliche Briefe mit Zeichnungen und Pfeilen und kleinen lieben Tieren. Einmal, an einem anderen Tag, gingen sie zusammen in ihre Wohnung, über die schmalen Treppen hinauf, vorbei an dem alten Mann, der im Stiegenhaus seine Bleibe hatte, mitsamt seinem Hab und Gut. Robin konnte sich noch genau an ihn erinnern. Er hatte sich dort in einem staubigen Winkel ein altes, klappriges Bettgestell zusammen gerichtet und als er ihn das erste Mal sah, traute er seinen Augen kaum, weil er so verwahrlost war. In jener Nacht, als er zur Toilette auf den Gang musste, schlich er an dem Alten vorbei. Er wagte es nicht das Licht einzuschalten, aus Angst ihn zu wecken. Er war auf Zehenspitzen unterwegs, nur mit einer Unterhose bekleidet. Aber der Alte hörte ihn. Er hob den Kopf und Robin erkannte ganz deutlich das abgemagerte Gesicht mit dem langen Bart und die schwarzen Knopfaugen, wie sie traurig in das bleiche Mondlicht sahen. Eilig rannte er zurück ins Zimmer. Sie wartete schon auf ihn. Sie war nackt im Bett. Er schloss vorsichtig die Tür zweimal ab, aus Angst vor dem Alten. Dann kroch er unter die Decke und konnte nicht aufhören und sie konnte nicht aufhören und so ging es die ganze Nacht.
Von solchen Träumen bewegt, durchschlief er manch heiße Mittagsstunde und wenn er dann erwachte, fuhr er zusammen in größter Panik, drehte sich hastig nach allen Seiten,