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Die abnehmende Sichel des Mondes. Willi Kuhlmann
Читать онлайн.Название Die abnehmende Sichel des Mondes
Год выпуска 0
isbn 9783738000429
Автор произведения Willi Kuhlmann
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Der Gepeinigte zerrt an den Nylonschnüren. Ein krächzendes Geräusch dringt aus seiner ausgetrockneten Kehle.
„Wahnsinnige! Mein Gott lauter Wahnsinnige!“, zuckt es durch sein Gehirn.
„Unser tägliches Brot gib uns heute.“
„Warum hilft mir keiner? So helft mir doch!“, schreit der Alte in Gedanken hinaus.
„Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“
Dicke Perlen kalten Angstschweißes stehen dem Gefesselten auf der faltigen Haut. In kleinen Rinnsalen laufen sie von seinem zuckenden Körper.
„Dein Reich komme.“
„Was habt ihr vor!?“, will der Alte den um ihn stehenden Kreaturen ins Gesicht schreien. Doch es kommt kein Laut über seine geknebelten Lippen.
„Geheiligt werde dein Name.“
„Die sprechen das Vater unser! Ja, die sprechen das Vater unser! Rückwärts! Was sind das für Irre? Hilf mir Gott! Bitte hilf mir!“ Der Mann ist fast ohnmächtig. Sein Adamsapfel hüpft in seinem dürren Hals auf und ab. Er hat das Gefühl er schreit so laut, dass die ganze Welt ihn hören kann. Aber es sind nur seine Gedanken, seine letzten Gedanken, die durch das von Angst und Schmerz benebelte Bewusstsein in sein Gehirn dringen.
„Vater unser im Himmel.“
Nach diesen vier Worten ist es plötzlich totenstill. Nur das leise Wimmern der nackten, auf den Altar gefesselten, gequälten Person ist zu hören.
„Tod den Schwachen!“, peitscht plötzlich die leidenschaftliche Stimme des Priesters in die Stille. Er reißt die Arme nach oben. In seiner linken Hand hält er einen Dolch, in dessen Klinge sich ebenso wie in dem Kreuz, das er verkehrt herum um den Hals trägt, das Licht der Kerzen bricht.
„Tod den Schwachen!“, wiederholen die Jünger gleichzeitig und nicht weniger leidenschaftlich.
Die letzte Wahrnehmung im Leben des alten Mannes ist der Priester, der mit erhobenen Armen hinter ihm steht. Als der Dolch nach unten stößt, ist er bereits ohnmächtig. Er spürt nicht mehr, mit welcher Wucht der scharfe Stahl in seine Brust fährt und ihn auf grausame Weise von seinen Leiden erlöst.
Danach kreist der Dolch in der Runde der Jünger und jeder von ihnen sticht sechsmal auf das Opfer ein. Das Blut des Alten läuft in kleinen Bächen über den Rand des Altars.
Von dort tropft es auf ein im Boden eingemeißeltes Pentagramm.
Erstes Kapitel
„Entschuldigen sie die Verspätung.“ Gerd Holm ist etwas außer Atem, als er die Praxis seines Arztes betritt. „Aber der Berufsverkehr und wie immer war kein Parkplatz frei.“
„Halb so schlimm, Herr Holm“, freundlich lächelnd sieht ihn die Sprechstundenhilfe an. „Ich muss sie bitten sich noch einen Moment zu gedulden. Nehmen sie doch so lange im Wartezimmer Platz.“
Er nickt, zieht sein leichtes, beigefarbenes Sakko aus und hängt es an die Garderobe neben der Eingangstür. Am Empfangstresen vorbei geht Holm ins Wartezimmer. Er nimmt sich im vorübergehen wahllos eine Zeitschrift vom Stapel, der auf dem in der Mitte des Raumes stehenden Tisches liegt und setzt sich neben einen älteren Mann. Holm blättert abwesend in der Illustrierten, denn es ist ihm unmöglich irgendeinen Artikel konzentriert zu lesen.
Erstens erzählen sich zwei Frauen im fortgeschrittenen Alter ziemlich ungeniert und laut ihre Krankengeschichten von Kindesbeinen an und zweitens spürt er wieder diesen stechenden Schmerz im Kopf. Vor sechs Wochen war er zu einer Routineuntersuchung hier und sein Arzt konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. Zugegeben, durch den Stress im Geschäft war er ein wenig gereizt, aber sein Arzt gab ihm ein Mittel, damit er besser entspannen konnte. Ein paar Tage später setzten dann diese verdammten Kopfschmerzen ein, die ihn zum ersten Mal vor drei Wochen veranlassten, Dr. Finke erneut aufzusuchen. Die verabreichten Medikamente schlugen nicht an. In kürzer werdenden Abständen traten die Kopfschmerzen immer heftiger auf. Diese Umstände bewogen seinen Arzt ihn zu einem Radiologen an der Uniklinik zu überweisen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nun sitzt er hier, wartet auf das Ergebnis der Computertomographie und der anderen Untersuchungen, die er über sich ergehen lassen musste. Er hofft, dass endlich ein klarer Befund vorliegt um unverzüglich gegen die Ursache dieser schubweise auftretenden Schmerzen vorzugehen. Er war zwar nie besonders sportlich, aber bei einer Größe von einem Meter fünfundsiebzig trägt er kein Gramm überflüssiges Fett mit sich herum –.
„Frau Langmut, bitte Sprechzimmer zwei!“, unvermittelt und laut tönt die Stimme einer Sprechstundenhilfe aus dem Lautsprecher über der Tür und lässt ihn aus seinen Gedanken aufschrecken. Nervös streicht sich Holm mit den gespreizten Fingern seiner Linken durch sein dunkelblondes, nackenlanges Haar.
Da sich außer ihm, dem Mann neben sich und den zwei Frauen, sonst niemand im Wartezimmer aufhält, gilt der Aufruf zwangsläufig einer der beiden. Diese nehmen im Überschwang ihrer Erzählungen jedoch keine Notiz davon und unterbrechen ihren Redeschwall keinen Augenblick.
„Bei mir, bei meiner letzten Operation an der Galle, na du weißt schon“, setzt die stämmigere der beiden eifrig – nach Meinung Holms zur mittlerweile vierten oder fünften – Geschichte an, „... traten Komplikationen auf, mit denen keiner gerech -.“
„Verzeihung meine Damen, dass ich ihre ungemein interessante Unterhaltung störe, aber ich glaube eine von ihnen wurde aufgerufen“, fällt der Mann neben Holm mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme der Stämmigen ins Wort.
„Hast du was gehört?“, verwundert sieht die in ihren Ausführungen Unterbrochene ihre gespannt dasitzende Zuhörerin an.
„Gehört? Ich? Was soll ich gehört haben? Erzähl weiter, was war bei deiner Operation!“, fordert sie ihre Gesprächspartnerin ungeduldig auf und neigt ihren Kopf neugierig zur Seite.
„Also, da geschah folgendes“, aufgeregt kneten die Finger der Frau das Taschentuch, das sie in den Händen hält. „Nachdem -.“
„Frau Langmut, bitte Sprechzimmer zwei! Frau Adam bitte Sprechzimmer eins!“, quäkt die verärgerte Stimme der Helferin nun etwas energischer aus dem Lautsprecher.
Die beiden Frauen erheben sich, ohne jedoch ihren Redefluss abreißen zu lassen. „... man meine Galle raus genommen hatte, stellt der Arzt fest, dass an meinem ...“ Wohltuende Ruhe herrscht, als sich die Frauen nebeneinander durch die Tür des Wartezimmers nach draußen gezwängt haben und die beiden Männer alleine sind.
„Mein Gott, diese Weiber!“ Holms Nebenmann verdreht die Augen. „Bin ich froh, dass ich nicht verheiratet bin!“ Der Alte, aus dessen Stimme Verachtung und Dankbarkeit gleichermaßen heraus zu hören ist, sieht ihn kopfschüttelnd an. „Sind sie verheiratet, junger Mann?“
„Ja, seit acht Jahren“, antwortet Holm leicht irritiert.
„Ich will damit natürlich nicht sagen, dass alle Frauen so sind wie diese beiden.“ Verlegenheit schwingt in der Stimme des Mannes mit. Gequält grinsend sieht er Holm entschuldigend an.
„Mir ist schon klar wie sie es gemeint haben“, lächelt Holm. Der Schmerz in seinem Kopf wird zusehends stärker.
„Ich habe sie in der Praxis noch nicht gesehen. Sind sie zum ersten Mal hier?“
„Ich war noch nie ernstlich krank, also bestand auch keine Veranlassung -.“
„Herr Becker, ihr Rezept liegt bereit!“, wird der Alte über die Sprechanlage informiert.
Gerd Holm ist froh, als der Mann mit einem kurzen: „Nichts für ungut“, aus dem Wartezimmer schlurft. Der dumpfe Druck in seinem Kopf lässt zwar wieder etwas nach, er möchte aber dennoch mit seinen Gedanken alleine sein.
Zwanzig