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Träume, die im Meer versinken. Edda Blesgen
Читать онлайн.Название Träume, die im Meer versinken
Год выпуска 0
isbn 9783847679158
Автор произведения Edda Blesgen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er brachte sie zum Hotel, sah ihr vor dem Eingang lange und eindringlich in die Augen, reckte sich, gab ihr einen Abschiedskuss auf die Stirn und entfernte sich, ohne noch einmal nach Bella, die ihm weinend nachblickte, zurückzusehen.
Abends ging er mit einer Taschenlampe an den Strand. Dort, zwischen den Felsbrocken fand er nach einer Weile was er suchte. Er strich das Visitenkärtchen glatt und steckte es in seine Hosentasche. Wer weiß, wofür so ein Wisch noch einmal nützlich sein konnte.
Dann lag er wieder einmal wach in seinem Zelt und dachte zurück.
Kapitel 6
Claudia, seine neun Jahre ältere Schwester, das schwarze Schaf der Familie, zu der er an jenem verhängnisvollen Nachmittag flüchtete, hatte mit siebzehn ihren ersten Freund, einen zwanzig Jahre älteren, verheirateten Mann, Vater von drei Kindern. Papa tobte, Mama weinte, die Verwandtschaft sprach entrüstet von einem Skandal. Als Claudia merkte, ihr Liebhaber würde niemals seine Familie ihretwegen verlassen, gab sie ihm den Laufpass.
Danach kam es noch schlimmer. Heinz, Claudias neuer Verehrer, war ebenfalls fast zwanzig Jahre älter als sie. Die Eltern reagierten entsetzt, als sie von seiner Vergangenheit erfuhren. Nach einer Betriebsfeier hatte er, obwohl betrunken, sein Motorrad bestiegen und eine junge Kollegin auf dem Soziussitz mitgenommen. In einer Kurve verlor er die Gewalt über sein Fahrzeug, raste gegen einen Baum. Das Mädchen starb noch an der Unfallstelle. Heinz kam mit einem Schädelbasisbruch ins Krankenhaus und später wegen Trunkenheit im Straßenverkehr für einen Monat ins Gefängnis.
Am Abend von Claudias einundzwanzigstem Geburtstag, dem Tag, an dem sie volljährig wurde, kamen die beiden nach einer Feier im Freundeskreis mit dem Motorrad angebraust. Heinz hatte, trotz aller Beteuerungen, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren, getrunken. Als die Eltern seine Fahne rochen, verboten sie ihm den weiteren Umgang mit ihrer Tochter und warfen ihn raus. Am nächsten Morgen war Claudia fort, ihr Kleiderschrank leergeräumt. Ein Zettel lag auf dem Tisch: „Bin bei Heinz.“ Mama lief tagelang mit verheultem Gesicht herum. Nach zwei Wochen drückte sie Jürgen Geld in die Hand:
„Du müsstest dir nochmal die Haare schneiden lassen.“ Bisher hatte seine Schwester, von Beruf Friseurin, das erledigt. Jürgen ging zu dem Laden, in dem sie arbeitete.
„Ich möchte von Frau Hallard bedient werden“, brachte er schüchtern vor. Claudia freute sich sehr, ihren Bruder zu sehen.
Was sage ich Mama?, dachte Jürgen beim Nachhausegehen. Sie wird bestimmt wütend, wenn sie erfährt, wer mir die Haare geschnitten hat.
„Wie geht es deiner großen Schwester?“, begrüßte seine Mutter ihn. Der Besuch bei Claudia war also von ihr geplant, um Neues über ihre Tochter zu hören.
Jürgen betrat jetzt regelmäßig den Friseursalon. Dann lud Claudia ihn zu sich nach Hause ein und von da an ging er bei ihr ein und aus. Sein Vater erfuhr nichts davon. Mutter jedoch erzählte er von der kleinen Wohnung, die sie mit ihrem Freund bewohnte, von der Reise nach Bremen, zu Heinz’ Eltern, von dem Gebrauchtwagen, den die beiden sich kaufen wollten, er berichtete ihr alles, nein, fast alles. Öfters muffelte Heinz, manchmal schrie er Claudia an, wenn er Kopfschmerzen, eine auch jetzt nach Jahren noch spürbare Folge seines Schädelbasisbruches, oder getrunken oder beides hatte, davon sagte er zu Hause kein Wort. Einmal haute Heinz ihr sogar in seinem Beisein eine runter. Wer weiß, wie oft er sie schlug, wenn keine Zeugen dabei waren. „Ich habe mich am Schrank gestoßen“, behauptete seine Schwester, als Jürgen sie mit einem blauen Auge antraf.
„Warum bleibst du bei Heinz?“, fragte er.
„Aber wo soll ich denn hin? Zu Hause bin ich unerwünscht. Alleine leben mag ich nicht – wahrscheinlich reicht mein Gehalt auch kaum dafür aus.“
Jürgen war überzeugt, ihr Vater würde sie mit Freuden wieder aufnehmen, wenn sie sich von Heinz trennte. Wenige Tage später strahlte Claudia: „Warum soll ich Heinz verlassen? Er liebt mich und hat mir ganz fest versprochen, nur noch in Maßen zu trinken. Dazu braucht er meine Hilfe. Wenn ich ihn verlasse, verfällt er ganz dem Alkohol.“
Vielleicht ist Heinz bereits süchtig, dachte Jürgen, tröstete sich aber mit dem Gedanken, er kenne nichts davon und seine fast zehn Jahre ältere Schwester sei erfahren und klug genug, um zu wissen, was sie tue. Außerdem konnte er Claudia verstehen. Nüchtern behandelte Heinz seine Freundin liebevoll und zärtlich. Bei Jürgens nächstem Besuch allerdings lief seine Schwester wieder mit verheulten Augen herum.
Die beiden hausten auf der fünften Etage eines Altbaus, ohne Fahrstuhl, ohne Badezimmer, ohne Heizung. Ihr Reich bestand aus Schlafzimmer, Wohnküche, Toilette und einer winzigen Diele. Die Räume waren mit alten Möbeln vom Flohmarkt, Altwarenhändler und Sperrmüll eingerichtet und rochen muffig. Aber Jürgen liebte dieses Heim. In der Wohnküche standen ein Gasherd zum Kochen und ein Ofen zum Heizen. Die Kohlen mussten aus dem Keller heraufgeholt werden. Das war Heinz’ Aufgabe. Meistens ‚vergaß’ er es, Claudia schleppte dann selbst die schweren Eimer die vielen Treppen hoch. Man wusch sich am Waschbecken in der Toilette. Im Winter war es dort eisig kalt. Dann wärmte Claudia eine Schüssel Wasser und seifte sich in der Küche ab.
Jürgen saß auf dem alten Stuhl, dessen vordere Kante leicht beschädigt war. Claudia hatte sich schon mehrmals ihre Strümpfe daran zerrissen. Darum stellte sie ihn eines Tages in eine Ecke. „So, das wird nun dein Besucherstuhl, Jürgen. Du trägst keine Nylon-Strümpfe, die du dir durch Laufmaschen ruinieren könntest.“ Es machte ihm Spaß, einen eigenen Stuhl zu besitzen. Jetzt hockte er allerdings wie ein Häufchen Elend herum. Auf dem Tisch dampfte Kakao in einem blauen Keramikbecher mit weißen Tupfen, Kaffee duftete in einer cremefarbenen Porzellantasse mit rosa Blümchenmuster und Goldrand. Von Claudias Geschirr, das sie auf dem Trödelmarkt und beim Geschirrausverkauf erstanden hatte, sahen keine zwei Teile gleich aus. Jürgen, Kakao nippend und Plätzchen knabbernd, war wie immer fasziniert von der bunten Vielfalt auf dem gedeckten Tisch. Er schluchzte und staunte dabei über sich selbst, weil er trotz seines Kummers noch trinken, essen, Tassen bewundern und atmen konnte.
„Oma hat mir die Wahrheit gesagt. Jetzt weiß ich, warum Mama nicht mehr leben will, Papa bedrückt wirkt, Julia weder laufen noch sprechen kann: Unser Schwesterchen ist geistig behindert. Oma kannte dafür auch medizinische Ausdrücke.“
„Down-Syndrom,mongoloid?“
„Ja, so oder ähnlich.“
Seine Schwester erwiderte zunächst nichts. „Ich telefoniere erst mal mit Oma, damit sie sich keine Unruhe macht.“
Sie ging in die Diele. „Ich bin’s, Claudia. Hör mir zu, es ist wichtig“, sagte sie energisch und ließ ihre Großmutter gar nicht zu Wort kommen. Als sie zurück kam, führte sie ihren Bruder zum Sofa, setzte sich neben ihn, nahm ihn in die Arme. Die Geschwister saßen nebeneinander, weinten gemeinsam, trösteten sich gegenseitig. Das Schrillen der Klingel unterbrach ihr Schluchzen.
„Das ist das schwarze Gespenst“, weinte Jürgen. „Ich gehe nicht zu ihr zurück.“
„Wie nennst du Oma?“, fragte Claudia kichernd, während sie auf den Haustüröffner drückte. „Schwarzes Gespenst? Das finde ich gut.“ Nun musste auch Jürgen grinsen.
Es klingelte ein zweites Mal, diesmal an der Wohnungstür. Claudia öffnete; tatsächlich rauschte Oma herein. „Johannes, du ungezogener Junge, wie konntest du nur einfach weglaufen! Zieh sofort deine Jacke an und...“ Sie blickte die grinsenden Geschwister irritiert an und ignorierte die verheulten Gesichter. „So, ihr amüsiert euch, während ich fast gestorben bin vor Unruhe. Glaubt ihr etwa, das wäre gut für mein Herz?“ Sie griff theatralisch nach ihrem ausladenden, schwarz verpackten Busen.
Claudia, die bei dem Namen